Stanford University Libraries UEIANB -SIANKIRD vHTNIG^WIIVEHSnT 1. Fv-V J f r4C V by Google ‘-a; \s_ Fries und Kant Ein Beitrag zur Geschichte und zur systematischen Grundlegung der Erkenntnistheorie von Dr. Theodor Elsenhans Privatdozent der Philosophie an (fer Universität Heidelberg I. Historischer Teil Jakob Friedrich Fries als Erkenntniskritiker und sein Verhältnis zu Kant Alfred Töpelmann (vormals J. Ricker’sche Verlagsbuchhandlung) Giessen 1906 E.H ■ Digitized by Google ** . $ 5 J. I Digltized by Google Vorwort. Vor ziemlich genau hundert Jahren trat Jakob Friedrich Fries seine erste ordentliche Professur in Heidelberg an, als einer der bedeutenden Lehrer, welche an der durch Karl Friedrich völlig erneuerten Universität zu wirken hatten, und in dessen Berufungsschreiben unter anderem die Freude Ausdruck findet, ihn „zum Kollegen und Mitarbeiter bei der Wiederherstellung dieser so sehr verfallenen Akademie zu bekommen“. Zwei Jahre darauf, im Jahre 1807 — dem- selben Jahre, in welchem Hegel seine „Phänomenologie des Geistes“ veröffentlichte und Fichte seine „Reden an die deutsche Nation“ begann — erschien seine „Neue Kritik der Vernunft“, die dann in ihrer zweiten Auflage (1831) den seinen ganzen Standpunkt bezeichnenden Titel: „Neue oder anthropologische Kritik der Vernunft“ erhielt. Darf auch auf seinen Namen etwas von dem Glanz des größeren seines Lehrers Kant fallen, dessen geisterbe- zwingende Macht vor kurzem zum hundertjährigen Gedächt- nis seines Todestages aufs neue offenbar wurde? Es fehlt nicht an solchen, welche darauf mit einem runden „Nein“ antworten würden, und die geneigt sind, Fries mit Schopen- hauer zu denen zu rechnen, durch welche „Kants hohe Lehre für die Schulen herabgezogen und verdorben wurde“. Und in der Tat, man würde ihn überschätzen, wollte man ihn den Denkern ersten Ranges beizählen, deren Persönlich- keit und Lebenswerk eine Epoche für die innere Entwicklung der Menschheit bedeutete. Und doch ist ihm in der Ge- schichte der Philosophie durch die Eigenart seines Denkens iv Vorwort. ein ehrenvoller Platz gesichert, der ihn, was die Bedeutung der durch ihn angeregten Fragen betrifft, an die Seite der ersten Denker stellt. Gibt es in der Geschichte der Philosophie einen Fortschritt, so ist es in erster Linie ein Fortschritt in der Problemstellung. Man kann den ganzen gewaltigen Umschwung, den Kants Lebensarbeit der Geschichte mensch- lichen Denkens gebracht hat, auf eine neue Problemstellung zurückführen. Eben hierin liegt nun auch die bleibende Bedeutung der Philosophie von Jakob Friedrich Fries. Das, wodurch seine Kritik der Vernunft eine „neue“ ist, die durch ihn angeregte Frage : wie werden wir uns der apriorischen Erkenntnisprinzipien bewußt? und die damit unmittelbar zusammenhängende : welche Bedeutung kommt in der Kritik der Vernunft der Anthropologie zu? ist, wie Kuno Fischer sagt, „ein echtes in der Geschichte der deutschen Philosophie seit Kant unvermeidliches Problem“. Er hat von den verschiedenen Seiten des durch Kant klassisch be- handelten Erkenntnisproblems diese eine mit solcher Konse- quenz ausgestaltet, daß eine Bearbeitung der Probleme, welche bereit ist, aus der Geschichte zu lernen, stets zu ihm wird zurückkehren müssen. Aber in verschiedenen Punkten verdient auch die Lösung, welche er gegeben hat, bleibende Beachtung. Wenn er daher in manchen Darstellungen immer noch als der oberflächliche Empiriker erscheint, der den imbegreiflichen Fehler beging, Kants Vernunftkritik in- duktiv-psychologisch begründen zu wollen, so beweist dies nur, wie notwendig eine eingehende Untersuchung seiner Lehre ist, um ihm gerecht zu werden. Der Denker, der den Satz schreiben konnte — um nur diesen einen anzu- führen — „es wäre höchst ungereimt, die Grundsätze der philosophischen Logik, die notwendigen Grundgesetze der Denkbarkeit der Dinge durch empirische Psychologie d. b. durch Erfahrungen beweisen zu wollen“ (Logik S. 9), kann unmöglich damit abgetan sein. So stellt sich dehn das vor- Digitlzed by Google Vorwort V liegende Werk in erster Linie die Aufgabe, eine einge- hende Darstellung der seinem ganzen Systeme zu- grunde liegenden Erkenntnistheorie zu geben. Erst auf Grund einer so ausführlichen, in diesem Umfang wohl zum erstenmal angestellten zusammenhängenden Un- tersuchung kann über die verschiedenen strittigen Punkte eine Entscheidung getroffen werden. Als Beispiele dafür erwähne ich die Aufgabe der philosophischen Anthropologie, die „Grundvermögen“, die analytischen Urteile, die Methode der Deduktion, den Begriff der Apperzeption. Besonderer Wert wurde darauf gelegt, die bei Fries oft nicht leicht übersehbaren und durch Wiederholungen beschwerten Ge- dankengänge übersichtlich zu ordnen, wie dies z. B. in der komplizierten Lehre von der Reflexion ersichtlich ist. Wo der Gegenstand es mit sich brachte, ist auch das Verhältnis zu anderen Denkern, besonders zu Platner, Jakobi, Schleier- macher beigezogen. Vor allem aber muss eine eingehende Untersuchung der Friesischen Erkenntnistheorie von selbst zur Erörterung ihres Verhältnisses zu derjenigen Kants führen, von wel- cher sie abhängig ist. Indem das gegenseitige Verhältnis beider Denker stetige Berücksichtigung findet, um zunächst der vollständigen Erklärung der Friesischen Philosophie, besonders an schwierigen Punkten, zu dienen, wird aber zugleich ein anderer Zweck erreicht. Der Gedankenreich- tum des vielgestaltigen Kantischen Systems hat in der nachkantischen Philosophie die verschiedenartigste Ent- faltung gefunden. Indem die verschiedenen Seiten des- selben zu neuen Systemen sich kristallisierten, wirkten diese, wie Schopenhauer einmal von Fichtes Ethik sagt, gleichsam als „Vergrößerungsspiegel“, in denen Vorzüge und Schwächen besonders auffallend sich darstellten. Es ist gewisserraassen eine Kantinterpretation im großen Stile, welche diese nachkantischen Systeme enthalten, sofern erst VI Vorwort. durch sie die Tragweite der einzelnen Elemente des Kanti- schen Denkens in voller Deutlichkeit hervortritt. Einen außer- ordentlich wertvollen Beitrag zu dieser Art von Kantinter- pretation hat Fries geliefert. Kants psychologische Voraus- setzungen und seine „Zergliederung des Verstandesver- mögens“ werden hier zu der das ganze System beherrschen- den anthropologischen Methode, seine Aufdeckung der Un- fruchtbarkeit der formalen Logik wird zur Lehre von der Reflexion als dem bloßen Wiederbewußtsein des eigentlichen unmittelbaren Erkenntnisinhalts und seine Lehre von der Abhängigkeit des Gegenstandes der Erkenntnis von unserer Vorstellung steigert sich hier zur „subjektiven Wendung“ der ganzen Philosophie. Wir werden annehmen dürfen, daß von diesem eigenartigen Standpunkte aus ein neues Licht auch auf manche Fragen der Kantischen Philosophie fallen wird. Indem die folgende Arbeit sich diesen Umstand ge- rade an den schwierigsten Punkten zunutze macht, will sie zugleich Beiträge zum Verständnis der Philo- sophieKantsliefern. Ich kann nicht umhin, zu glauben, daß beispielsweise eine genaue Untersuchung der originellen Deduktion der Kategorien bei Fries, seiner Lehre vom Ver- hältnis der Deduktion zum Beweis und von der Apperzep- tion und eine Erörterung ihres Verhältnisses zur transzen- dentalen Deduktion und zu verwandten Begriffen bei Kant auch für die Aufhellung mancher strittigen Punkte in der Philosophie des letzteren nicht ganz ohne Frucht sein werde. Wo es nötig erschien, wie z. B. hinsichtlich der verschie- denen Seiten des Deduktionsbegriffes bei Kant hat außer- dem die Kantische Lehre für sich allein eine selbständige Bearbeitung gefunden. Das bisher Besprochene bildet den Inhalt des größeren zuerst erscheinenden, des historischen Teils dieses Werkes. Aus einer Vertiefung in das wechselseitige Verhältnis Vorwort. VII der Kantischen und der Friesischen Erkenntnistheorie er- wächst aber von selbst die Frage, inwieweit dieser Fort- bildung und Ausgestaltung Kantischer Gedanken durch Fries bleibender Wert auch für die systematische Philosophie der Gegenwart zukomme. Diese Frage liegt um so näher, als der Gegensatz zwischen Fries’ psycho- logischer Grundposition und Kants Ablehnung der Psycholo- gie sich mit der Hauptkontroverse der modernen Erkenntnis- theorie unmittelbar berührt. Auf der einen Seite der „Psycho- logismus“, für welchen das Erkenn en als psychischer Vorga n g Objekt der Erkenntnistheorie und damit diese selbst zur Psy- chologie wird, auf der anderen Seite der Neukantianismus, für welchen die Erkenntnistheorie von dem handelt, was alle Erkenntnis von Objekten, also auch alle Psychologie erst möglich macht und darum selbst niemals psychologisches Objekt werden kann. Der Streit wogt noch hin und her und eine völlig befriedigende Grenzbestimmung zwischen den beiden Gebieten ist auch von den gemäßigteren Vertretern beider Lager nicht gefunden. Vielleicht ist es nicht ohne Wert, einmal das Gewicht der geschichtlichen Betrachtung in die Wagschale zu werfen und eine historisch-kritische Orientierung über diesen Gegensatz an dem Punkte der Ge- schichte der Philosophie zu suchen, wo derselbe gewisser- maßen seine klassische Vertretung gefunden hat, bei Fries und Kant., Es trifft dies ja zugleich mit einem Zuge der Zeit zusammen, die mehr und mehr über den Ruf „zurück zu Kant“ hinausgehend bei den nachkantisehen Systemen, vor allem bei Fichte, die Bausteine zu einer Neubegründung der Philosophie sucht. Ehe aber die von manchen im An- schluß daran erwartete Renaissance der Metaphysik kommen könnte, müßten die drängenden Fragen der Methode eine gewisse Klärung gefunden haben. Die wichtigsten dieser Fragen, diejenigen der Erkenntnistheorie von jener geschichtlichen Grundlage aus, die durch die Na- vm Vorwort. men Kant und Fries bezeichnet ist, einen oder den anderen Schritt weiter zu führen, ist der dritte Hauptzweck dieses Buches. So wird denn in dem zweiten kritisch-systematischen Teil dieses Werkes, der dem ersten unmittelbar folgen wird, eine kritische Er- örterung der Hauptergebnisse der geschichtlichen Dar- stellung als Ausgangspunkt benützt, um gewisse Grund- fragen der Erkenntnistheorie von, soweit ich sehe, teilweise neuen Gesichtspunkten aus zu untersuchen. Es ist dabei nicht beabsichtigt, jene grundlegende Disziplin systematisch ab ovo zu entwickeln, sondern es handelt sich nur darum, je von der gewonnenen Fragestellung aus Schritt für Schritt weiter zu gehen. Daß die dabei berührten Fragen nicht auf Nebensächliches sich beziehen, sondern so, wie sie beant- wortet werden, in ihrer Gesamtheit als eine Grundlegung der Erkenntnistheorie bezeichnet werden können, liegt in der Natur unseres geschichtlichen Ausgangspunktes. Die aus dem letzteren gewonnene Problemstellung führt mit Notwendigkeit zunächst zu einer eingehenden Untersuchung der Voraussetzungen der Kantischen, wie jeder Erkenntnis- theorie überhaupt, sodann zu einer Erörterung der Methode der Erkenntnistheorie, und endlich zu einer Ableitung der Folgerungen, die sich daraus für das Problem der Grenzen des Erkennens ergeben. Dabei ist die stetige Rück- beziehung auf Kant selbstverständlich und gibt zugleich Veranlassung zu Exkursen über einzelne für die Grund- legung der Erkenntnistheorie wesentliche, bisher weniger beachtete Punkte seiner Philosophie, unter denen ich nur den Abschnitt über die erkenntnistheoretische Bedeutung des Kantischen Begriffs des „ vernünftigen Wesens“ her- vorheben möchte. Wenn die aus dieser Auseinandersetzung mit Kant und Fries erwachsende Grundlegung der Erkenntnistheorie in der Frage des Verhältnisses von Psychologie und Erkenntnis- Vorwort. IX theorie in gewissem Sinne über beide hinausführt, so trifft sie dagegen hinsichtlich des damit keineswegs identischen Verhältnisses von Erkenntnistheorie und Empirie über- haupt mit einem Grundgedanken der Friesischen Philosophie zusammen. Angesichts der Kämpfe der neuesten Zeit weiß uns die letztere bei aller geschichtlichen Bedingtheit und Schwäche im einzelnen doch vor allem durch die Art zu fesseln, wie sie die empirische Gewinnung der Prinzipien mit der Überzeugung von ihrer unbedingten Giltigkeit ver- einigt und dadurch den hinter dem Problem Psychologie und Erkenntnistheorie stehenden tieferen Gegensatz der Welt- anschauungen, eines extremen Relativismus und eines starren erfahrungsfremden Apriorismus überwindet. Hat Fries mit einem der wichtigsten Gedanken seiner Lehre von der „un- mittelbaren Erkenntnis“ recht, so ist ja unter allen Umstän- den der Hauptpunkt, die unbedingte Giltigkeit der Erkennt- nisprinzipien schon zu Beginn der Untersuchung unentbehr- liche Voraussetzung und damit an sich selbst schon der re- lativistischen Auflösung in den Kausalzusammenhang der wechselnden Erscheinungen entzogen. Das Weitere wäre dann eine Streitfrage der Methodenlehre, eine wichtige wissenschaftliche Aufgabe, die aber den Stachel des Kampfes um das Letzte und Höchste nicht mehr in sich tragen würde.. „Zwischen den Bedürfnissen des Gemütes und den Er- gebnissen menschlicher Wissenschaft ist ein alter, nie ge- schlichteter Zwist“, so begann einst Lotze seinen Mikro- kosmos. Es scheint als nähern wir uns in der Geschichte menschlichen Denkens einer Epoche, welche die Überwin- dung dieses alten Zwistes auf neugeschaffener Grundlage in Angriff zu nehmen gewillt ist. Vielleicht läßt sich für diesen Neubau auch aus der Gedankenwelt eines Mannes, wie Fries, ein Baustein entnehmen, in dessen persönlicher Entwicklung zwei bedeutsame Repräsentanten jener gegensätzlichen Be- strebungen, das mathematische und kritische Denken Kants Digitized by Google X Vorwort. und die gefühlsmäßige Art der Brüdergemeinde sich zu- sammenfanden. In ihm, der aus einem Zögling der Herrn- huter ein Schüler Kants, ein Mathematiker und Physiker wurde, vollzog sich ja eine besonders eigenartige persön- liche Vereinigung jener Gegensätze, deren wirkliche Über- windung im Grunde das Hauptproblem der tieferen Denker aller Zeiten bildet. Heidelberg, im März 1906. Th. Elsenhans. Verzeichnis der Abkürzungen. Ein Teil der Werke von J. F. Fries ist in folgender Weise abgekürzt zitiert: Jakob Friedrich Fries, Neue oder anthropologische Kritik der Vernunft 3 Bände 2. Aufl. 1828—31, abgekürzt N. Kr. I II III. Die erste Auflage: Neue Kritik der Vernunft 3 Bände 1807: N. Kr. I1 II1 IIP. — — System der Metaphysik, Ein Handbuch für Lehrer und zum Schulgebrauch 1824, abgekürzt: Metaph. oder Metaphysik. — — System der Logik, ein Handbuch für Lehrer und zum Selbstgebrauch 1811, abgekürzt: Logik (wo die 2. Aufl. von 1819 zitiert ist, ist dies besonders bemerkt). — — Handbuch der Psychischen Anthropologie 2 Bände 1820 und 1821, abgekürzt: Ps. A. oder Anthrop. Die übrigen Werke von Fries sind je mit ihrem vollständigen Titel genannt. Kants Werke sind zitiert nach der Ausgabe von Rosenkranz und Schubert, 1838—1840 (abgekürzt: S. W.) mit Ausnahme der Kri- tik der reinen Vernunft (Kr. d. r. V.) und der Kritik der praktischen Vernunft (Kr. d. pr. V.), welche nach der Kehrbachschen Ausgabe (Reklam) zitiert sind. Wo die Berliner Akademische Ausgabe her- angezogen ist, ist dies besonders bemerkt. Inhaltsübersicht des I. Teils. Seite Vorwort III— X Verzeichnis der Abkürzungen XI Kapitell: Die Kritik der Vernunft als philo- sophische Anthropologie 1 A. Die Friesische Kritik des Kantischen Standpunktes 1 Ungenügende Berücksichtigung der Logik und Psy- chologie 1 Verkennung des psychologischen Charak- ters seines Beweisverfahrens 2 Genauerer Beweis da- für im Anschluß an den Begriff transzendental 3 Die transzendentale Erkenntnis als Erkenntnis von Er- kenntnissen a priori 4. B. Die „philosophische Anthropologie“ als Grund- wissenschaft aller Philosophie 5 Bedeutung und Begriff der „philosophischen Anthro- pologie* 5. I. Das Verhältnis der philosophischen zur psychischen Anthropologie 6 Die Arten der Anthropologie 6 Die Merkmale der philosophischen Anthropologie im Unterschied von der übrigen psychischen Anthropologie 7. II. Das Verhältnis der philosophischen Anthropologie zur Philosophie überhaupt und zur Metaphysik . . 8 Unterscheidung zwischen dem Gegenstand der Er- kenntnis und der Erkenntnis als Tätigkeit 8 Die notwendige Vermittlung der Erkenntnis des ersteren durch die letztere 9. III. Das Verhältnis der philosophischen Anthropologie zur Logik 10 Die Abhängigkeit der „anthropologischen* und in- direkt der „philosophischen Logik“ von der philoso- phischen Anthropologie 10. Inhaltsübersicht des I. Teils. XIII Seite IV. Die Stellung der philosophischen Anthropologie im philosophischen System und ihre Schranken ... 12 Das philosophische Gesamtsystem und die Anthro- pologie 12 Der unmittelbare Besitz der Vernunft und die Reflexion 13. Kapitel II: Die psychologischen Grundbegriffe der Friesischen Philosophie 15 A. Die Grundvermögen und ihre Ausbildungsstufen 16 I. Die Geistesvermögen 15 Namenerklärungen und Sacherklärungen 15 Tätig- keiten und Vermögen 16 Die Grundvermögen 17 Unterschiede von Kant 18 Das Begehrungsvermögen als Tatkraft 19 Platuer 19. II. Die Bildungsstufen unseres Geistes 21 Sinn, Gewohnheit, Verstand 22 Die Zwecke der Aus- bildung 22. B. Spontaneität und Rezeptivität 22 Die Spontaneität der Vernunft als erregbare Selbst- tätigkeit 23 Der „Sinn“ als Rezeptivität 23 Die An- wendung dieses Gegensatzes auf jedes Vermögen des Geistes 24 Sein Verhältnis zu dem Begriffspaar: Passivität und Aktivität 25 Kant 25. C. Das Verhältnis des Grundgegensatzes: Spontanei- tät und Rezeptivität zu den Ausbildungsstufen . . 26 Der Grundgegensatz ein durchgehender 26. Kapitel EG: Die Sinnesanschauungen 2b A. Die Empfindung und das „Affizierende“ .... 28 Die Empfindung und das Affizierende 28 Verhält- nis zu Kants Lehre 29 Die Vorstellung eines Ob- jektiven unmittelbar mit der Anschauung selbst ge- geben 30 Erkenntnistheoretische Bedeutung dieses Standpunktes 31 Fichte 32. B. Der äußere Sinn 32 Der „äußere Sinn“ und das Verhältnis von Empfäng- lichkeit und Selbsttätigkeit innerhalb desselben 82 Drei Vorstellungsweisen in jeder Wahrnehmung 33 Digitized by Google XIV Inhaltsübersicht des I. Teils. Seite Die Bedeutung der vereinigenden Anschauung (pro- duktiven Einbildungskraft) für die Auffassung des Verhältnisses der Gegenstände untereinander im Un- terschied von der bloßen Erkenntnis dessen, was der Gegenstand für mich ist in der einzelnen Empfin- dung 34. C. Der innere Sinn . 34 Die inneren Sinnesanschauungen 35 Das Wissen um unser Wissen 36 Die „dunklen“ Vorstellungen 36 Der „Horizont der inneren Wahrnehmung“ 37 Die Bedingungen des Eintritts einer Vorstellung in den- selben 37. Der innere Sinn als Rezeptivität, die Apperzeption als Spontaneität 38 als unmittelbares Gefühl 39 Da- raus sich ergebender Unterschied gegenüber der äuße- ren Anschauung 39 Verhältnis zu Leibniz und Kant 39 Die Friesische Kritik des Kantischen Apperzeptions- begriffes 40 Die drei Arten der Apperzeption nach Fries 43. Kapitel IV: Die Einbildungskraft 45 A. Anschauung, Denken und Einbildung 45 Der „empirische Lebenszustand“ beständig wech- selnd 45 Das Bleibende nur durch den reflektieren- den Verstand erkennbar 46 Anschauung und Deu- ken 47 Die Einbildungskraft als Zwischenstufe und als Grundlage des gedächtnismäßigen Gedanken- laufs 48. B. Die reproduktive Einbildungskraft 49 Ihr Verhältnis zum Gedächtnis und zum inneren Sinn 49 Assoziation und Gewohnheit 50 Die Be- deutung der Gewohnheit 61. C. Die produktive Einbildungskraft 52 I. Die Kantische Lehre von der produktiven Einbil- dungskraft und ihre Modifikation durch Fries . . 52 Die Lehre Kants 52 Fries’ Stellung dazu 54 im Ver- hältnis zur reproduktiven Einbildungskraft 54 im Verhältnis zu Raum und Zeit 55. II. Die produktive Einbildungskraft und die Sinnes- täuschungen 59 Digitized by Google Inhaltsübersicht des I. Teils. XV , Seit« Die reine Anschauung und die bestimmten räum- lichen Eigenschaften der Einzeldinge B9 Die Sinnes- täuschungen 60 bei Kant 60 bei Fries 61 Die will- kürliche und die unwillkürliche Seite der produk- tiven Einbildungskraft, unmittelbare Erkenntnis und Reflexion 61 Bedeutung dieses Punktes für die Stel- lung der Friesischen Philosophie 63 Descartes 63. D. Das Verhältnis der produktiven und der repro- duktiven Einbildungskraft 64 I. Ihre wechselseitige Abhängigkeit 64 Die produktive Einbildungskraft einerseits Voraus- setzung der reproduktiven, andererseits von ihr ab- hängig 64 Lösung dieses scheinbaren Widerspruchs bei Fries und Kant 65. II. Das Zusammenwirken beider Vermögen .... 66 1. Die problematischen Vorstellungen 66 Das Entstehen der problematischen Vorstellungen als Vorbereitung des Zusammenwirkens beider Ver- mögen 66. 2. Die Bilder der Dichtungskraft 67 3. Der Begriff des Schemas bei Fries und Kant . 68 Die Schemate der schematisierenden Einbildungs- kraft 68. Die Normalidee 69 Das Verhältnis des Schemas zu Merkmal und Begriff bei Fries 70 Ver- hältnis zum Schematismus der metaphysischen Grund- begriffe 71 Schema und Bild bei Kant 71 Unter- schied vou Kant und Fries hinsichtlich des Schemas 72. Kapitel V: Die Reflexion 73 Der Reflexionsbegriff bei Kant und Fries 73 Tran- szendentale und logische Reflexion 74. A. Das Reflexionsvermögen in seinem Verhältnis zu den anderen Erkenntnisvermögen 75 I. Reflexion und Einbildungskraft 75 Das Verhältnis des gedächtnismäßigen und des logi- schen Gedankenlaufes im allgemeinen 75 Schwan- kende Stellung des Hauptmerkmals (der willkürlichen Bestimmung der Vorstellungen) 75 und der Dich- tungskraft 76 Das Verhältnis der Assoziation und Digitized by Google XVI Inhaltsübersicht des I. Teils. 8eite der Reflexion im besonderen 76 Die Herrschaft der Reflexion in der Eingewöhnung' bestimmter Assozia- tionen und ihre Bedeutung für den Menschen 77. II. Reflexion und Anschauung 78 Intuitives und diskursives Erkennen 78 Das „Wieder- bewußtwerden“ unserer Erkenntnisse 80 Der innere Sinn als sinnlicher Anfang unserer geistigen Selbst- erkenntnis 81 Die Reflexion als Ergänzung- desselben zu einem „Ganzen der inneren Erfahrung“ 81 Die intellektuelle Anschauung 82 Das Verhältnis von Reflexion und Sinnlichkeit bei Fries und Kant 83. III. Reflexion und Verstand 84 Die Identifikation von Reflexionsvermögen und Ver- stand 84 bei tieferer Sacherklärung nicht zulässig 85 Der Verstand als Hauptbegriff der Ethik wie der Logik 86 als Kraft der Selbstbeherrschung inner- halb der drei Ausbildungsstufen 86 Verhältnis zum Reflexionsvermögen 87. IV. Reflexion und Vernunft 87 Die Reflexion als ursprüngliche Selbsttätigkeit im Gegensatz zur Reflexion als bloßer innerer Selbst- beobachtung 87 Bedeutung dieser Unterscheidung 88 Rückblick auf die Geschichte der Reflexionsphilo- sophie und deren Überwindung durch Kant 89 Ver- hältnis der Reflexion als Äußerung der Kraft der Selbstbeherrschung zur Selbsttätigkeit der Vernunft 90 Vergleichung mit Fichtes „intellektueller Anschau- ung“ 90 Die beiden Momente der Spontaneität und Unmittelbarkeit bei Fries und Fichte 91 Ihr Ver- hältnis zur Affektion des inneren Sinns 94. R. Die Art der Reflexionstätigkeit 95 I. Die Arten des willkürlichen Vorstellens 95 Aufmerksamkeit 95 Rückerinnerung 96 Dichten 96 Denken 97. II. Die willkürliche Aufmerksamkeit und das Grund- gesetz des willkürlichen Vorstellens 98 Die willkürliche Aufmerksamkeit 98 Das Grundge- setz des willkürlichen Vorstellens 99. C. Die Hilfsmittel der Reflexion 99 Ihre Einteilung 100 Kant 100. Digitized by Google Inhaltsübersicht des I. Teils. XVII Beite I. Die Theorie der Vergleichung 101 Die „Vergleichungsbegriffe“ 101 Verhältnis zu Kants „Amphiboiie der Reflexionsbegriffe“ 102. II. Die Theorie der Abstraktion 105 Die „getrennten Vorstellungen“ 105 Das „Grund- gesetz der Abstraktion“ 106. III. Die Anwendung der Vergleichung und Abstraktion auf das Ganze unseres Vorstellens und Wissens . . 107 1. Analytische und synthetische Einheit .... 107 „Welt und Natur“ 108. 2. Die Abstraktionsarten 109 Die quantitative und qualitative Abstraktion 109 Die Mängel dieser Unterscheidung 109. 3. Die Abstraktion als Hilfsmittel für das „Be- wußtsein überhaupt“ 110 Die Erhebung über das Momentane der inneren Wahrnehmung 111 Das „Bewußtsein überhaupt“ bei Fries und Kant 112. 4. Die Abstraktion im Dienste der Reflexion in der Anwendung auf das Ganze der Erkenntnis . . 112 a) Ihr Verhältnis zum Assertorischen, Proble- matischen und Apodiktischen 112 b) Ihre Bedeutung für die Grundfrage nach dem Ursprung des Wissens um die Kate- gorien 113 Der Streit des Empirismus und Rationalismus 113 Kant 113. c) Die subjektive Allgemeingiltigkeit und ihr Verhältnis zum Begriff des Apodiktischen . 114 Mehrfache Bedeutung der subjektiven Allgemeingiltig- keit 114 Gleichsetzung mit dem Apodiktischen 115. d) Die wechselseitige Abhängigkeit der apo- diktischen und assertorischen Erkenntnis . 116 Die anthropologische Grundlage des Apodiktischen 117 Die Abhängigkeit des Apodiktischen vom Asser- torischen und umgekehrt 117 Ihre Vereinigung in der Erfahrung 118. e) Anwendung auf die apriorische Erkenntnis 119 Rein und gemischt a priori 119 Das a priori nicht = angeboren 120 Die Abstraktion als Hilfsmittel zur Gewinnung des a priori 121. JClsenhens, J. F. Fries und die K»ntische Erkenntnistheorie. JJ xvm Inhaltsübersicht des I. Teils. Seite D. Die Formen der Reflexion 121 L Die Beschreibung der Denkformen 122 Das Verhältnis des Allgemeinen zum Besonderen als grundlegendes 122. 1. Die Bildung der Begriffe 122 Verhältnis des Begriffs zum Schema 123 Dunkel, klar, deutlich 123 Analysis und Determination 123 Gegenteiliges Verhältnis derselben zur unmittelbaren Synthesis der Vernunft und zur mittelbaren Synthe- sis des Verstandes 124 Die ursprüngliche Synthesis bei Fries und Kant 124. 2. Die Einteilung der Urteile 126 Ableitung der Formen der Urteile aus der Form der Begriffe und ihrer Verwendung im Urteil 126 Be- deutung dieses Versuches 126. II. Die analytische Erkenntnis 127 1. Das Verhältnis der philosophischen zur anthro- pologischen Logik 127 Unterschied der bisherigen anthropologischen Unter- suchungen von der philosophischen Erkenntnis 127 Die praktische Untrennbarkeit beider 128 Bedeutung dieser Frage für den Standpunkt der anthropologi- schen Vernunftkritik überhaupt 130. 2. Der Unterschied analytischer und synthetischer Urteile 131 Analytische und synthetische Urteile bei Fries 131 Abhängigkeit dieses Unterschiedes von der Wort- bedeutung 132 Verhältnis der Friesischen Theorie zu späteren. Schleiermacher 134 Sigwart 135 Die Bedeutung des vorhandenen Begriffssystems der Wis- senschaft für die vorliegende Frage 136 von Fries hervorgehoben 136 Die analytischen Urteile als Ver- deutlichung der unmittelbaren Erkenntnis 136 for- male und materiale Philosophie 137. 3. Die Grundsätze des Denkens 137 a) Die anthropologischen Grundsätze des Re- flektierens 138 Ihre Ableitung 138. b) Die philosophischen Gesetze der Bestimmung des Gegenstandes 139 Ausscheiden des Satzes vom Grunde 139 Ableitung der philosophischen Grundgesetze 140. Digitized by Google Inhaltsübersicht des I. Teils. XIX Seit« c) Die Anwendung der Grundsätze des Den- kens 140 als negativer Kriterien 141 zur Ableitung der ana- lytischen Urteile 141. d) Die Beziehung der Grundsätze des Den- kens auf den „Gegenstand“ bei Fries und bei Kant 141 Die Beziehung auf den „Gegenstand“ als Merkmal der philosophischen Grundgesetze 142 Kant 142. E. Das logische Ideal der Reflexion 144 Das Ziel der Reflexion die Vollendung der logischen Deutlichkeit der Erkenntnis 144. I. Beweis, Demonstration und Deduktion .... 145 Beweis, Demonstration, Deduktion und ihr Verhält- nis zur historischen, mathematischen und philoso- phischen Erkenntnis 145 Demonstration und Be- weis bei Fries und Kant 146 Prinzipielle Bedeutung dieser Unterscheidung im kritischen System 147 Das Vorurteil, alles beweisen zu wollen 148 mittelbare und unmittelbare Urteile 149 Das Wesen der De- duktion 150. II. Das Verhältnis der Friesischen „Deduktion“ zu verwandten Begriffen bei Kant ^ 162 1. Deduktion und Beweis 152 Die „Verwechslung des Beweises mit der Deduktion“ bei Kant 152 Die prinzipielle Bedeutung der Frage 153 Der Beweischarakter der Deduktion bei Kant 153 Die Merkmale des „transzendentalen Beweises“ 155 . Das Verhältnis des transzendentalen Beweises zur Deduktion 158 Die Sonderstellung des transzen- dentalen Beweises 159. 2. Die „empirische Deduktion“ und die „physiolo- gische Ableitung“ 160 Das Verhältnis der „empirischen“ zur „transzenden- talen Deduktion“ 160 Die „physiologische Ablei- tung“ 161 Scheinbarer Gegensatz beider 162 J. B. Meyer 162 Die „Abhandlungen der Fries’schen Schule, neue Folge“ 162 Das tatsächliche Verhältnis der „empirischen Deduktion“ und der „physiologischen Ableitung“ 164 Das Interesse der Friesischen Schule an demselben 165 der Standpunkt von Fries 166. XX Inhaltsübersicht des I. Teils. Seite 3. Die „metaphysische Deduktion* 166 Ihre Aufgabe bei Kant 167 Die metaphysische und die transzendentale Erörterung des Raumes und der Zeit 167 Der Begriff der „Erörterung“ oder „Exposition“ 168 Verhältnis derselben zur transzen- dentalen Deduktion im weiteren Sinne 169 Das Ver- hältnis der Exposition zur Definition 169 Die „tran- szendentale Erörterung“ nur Exposition im uneigent- lichen Sinne 171. Die metaphysische Deduktion nur Deduktion im uneigentlichen Sinne 171 Die „Exposition des ober- sten Grundsatzes der praktischen Vernunft“ 172 der Geschmacksurteile 173 Kants metaphysische Deduk- tion in ihrem Verhältnis zur Friesischen Deduktion 173 zur Spekulation bei Fries 174. 4. Die „subjektive Deduktion“ 175 a) Die subjektive Deduktion der reinen Ver- standesbegriffe bei Kant 176 Das Verhältnis der subjektiven und objektiven De- duktion 176 Der Ort derselben 176 B. Erdmann 176. b) Die Deduktion der Ideen bei Kant . . . 178 Die subjektive Deduktion der Ideen 178 Die De- duktion der Ideen als regulativer Prinzipien 178 Die „transzendentale Deduktion“ der Ideen und ihre „unbestimmte“ objektive Giltigkeit 179. c) Die subjektive Seite der Deduktion bei Fries und Kant 180 Die Subjektivität der Deduktion bei Fries 180 seine Ausdehnung der Deduktion auf die Ideen und die Prinzipien der praktischen Vernunft 181 Verhältnis zu Kant 182. III. Die Theorie als logisches Ideal 182 1. Die Theorie als Vereinigung der Systemformen 182 Die unabhängigen Anfänge unserer Erkenntnis 182. 2. Die Vermittlerrolle der Mathematik 183 Die Mathematik als Grund aller Erklärbarkeit über- haupt 183. 3. Die Unerklärlichkeit der Qualitäten 183 Die Unableitbarkeit des Historischen 184 Dio Be- deutung der Mathematik für die „eigentliche Wissen- schaft“ bei Kant 185 Die Irrationalität des „Gege- benen“ bei Kant 186 Die „Antizipationen der Wahr- nehmung“ 186 Ergänzung durch Fries 188. Digitized by Google Inhaltsübersicht des I. Teils. XXI Seite F. Der Fortschritt der Reflexionserkenntnis . . . . i89 Die heuristischen Methoden der reflektierenden Ur- teilskraft 189. I. Die Spekulation 190 Die nur zergliedernde Methode der Spekulation 191 Die Art ihrer Begründung 191 ihr subjektiver Cha- rakter 192 mathematische und philosophische Spe- kulation 193 Bedeutung der Spekulation l'ür die Phi- losophie 193 Verhältnis zur Deduktion 194 Beru- fung auf Kant 194. II. Die Induktion 190 1. Die untergeordnete Stellung der Induktion im Friesischen System 126 Ulrici 196 0. Liebmann 197 Die Überschätzung der Induktion der Grundfehler der Erfahrungsphiloso» phie!197. 2. Die Abhängigkeit der Induktion von „leitenden Maximen“ . , . , . . . . * . , , . , , 197 Empirische und rationelle Induktionen 198 Gewin- nung der Maximen durch Spekulation 199. 3. Induktion und empirische Naturgesetze . . . 199 Gegensatz zur Spekulation 200 zum Analogie- schluß 200. 4. Das Verhältnis der Induktion zur philosophi- schen Anthropologie 201 Die Auffindung der Prinzipien durch Induktion 201 Verhältnis zur Deduktion 201 Die Induktion als Er* gänzung der Spekulation 203. 5. Die leitenden Maximen . , , , , , . , . . 204 Die allgemeinsten Maximen 204 Die aus den apo- diktischen Erkenntnissen entlehnten 205 Die „be- stimmteren leitenden Maximen“ 206. 6. Resultate 206 Die Doppelstellung der Induktion bei Fries 206 Fries mit Kant gegen die Erfahrungsphilosophie 208. Kapitel VI: Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft l>09 Das Wiederbewußtsein der Reflexion und die un- mittelbare Erkenntnis 209 Die Metaphysik 209 Das XXII Inhaltsübersicht des I. Teils. Seite psychologische Medium der unmittelbaren Erkennt- nis 210. A. Die Auffassung der unmittelbaren Erkenntnis im Gefühl 211 I. Das „Wahrheitsgefühl“ als Tatsache 211 Die Notwendigkeit erster Voraussetzungen, deren Wahrheit unmittelbar gefühlt wird 211. II. Die Arten des Wahrheitsgefübls 212 3 Arten als verschiedene Tätigkeiten der Urteils- kraft 212. III. Das „Wahrheitsgefühl“ in seinem Verhältnis zum „Glauben“ 213 1. Glaube in logischer und in metaphysischer Be- deutung 213 2. Kants Glaubensbegriff 215 Der historische Glaube 215 „pragmatischer“ und „doktrinaler“ Glaube 216 Der „moralische“ Glaube 216 3. Fries und Jakobi 218 Der Glaubensbegriff bei Jakobi zu eng 218 Die Beru- fung auf Humes belief 220 belief und faith 221. IV. Das Verhältnis des „Wahrheitsgefühls“ zum „Sinn“ 222 Die Vermischung beider 222. 1. Fries und der Mystizismus 222 %/ Die Verwechslung der gedachten Erkenntnis mit der anschaulichen bei den Mystikern 222 Jakobis my- stischer Grundzug 223 Der spätere Jakobi 224. 2. Fries und die Engländer 226 Die Lehre vom common sense 226 Das Wahrheits- gefühl bei Fries die unmittelbare Selbsttätigkeit der Urteilskraft 226. V. Die Stellung des „Gefühlsvermögens“ bei Fries . 227 Kant 227 Das Gefühl „keine eigene Grundlage un- seres Geistes“ 228 ein „Akt der Denkkraft“ 229 Be- deutung des Gefühls bei Fries 229 Fries und Schleier- macher 229. B. Systematische Übersicht der in der unmittelbaren Erkenntnis der Vernunft vorhandenen Formen . 23 1 Digilized by Google Inhaltsübersicht des I. Teils. XXIII Beite I. Die allgemeinen Formprinzipien der Vernunfter- kenntnis 231 1. Die Notwendigkeit . . . . 231 Subjektivität der Unterschiede des Wirklichen, Mög- lichen und Notwendigen 231 ihr Grund in der un- mittelbaren Erkenntnis der Vernunft 232. 2. Die Einheit 233 Verbindung als Vorstellung einer synthetischen Ein- heit 233 Die intellektuelle synthetische Einheit im Unterschied von der figürlichen 234. II. Das System der synthetischen Formen 234 1. Der Leitfaden zur Auffindung der synthetischen Formen 234 Kants Leitfaden 235 Der Mangel desselben und seine Ergänzung durch Fries 235. 2. Das System der Kategorien, Grundsätze und Ideen 236 a) Das System der Kategorien und der Grund- sätze 236 Die Kategorientafel 236 Modifikation derselben bei Fries 237 Die Schemate der Kategorien 238 Die Tafel der metaphysischen Grundsätze der Natur- lehre 239. b) Das System der Ideen 240 Die Entstehung der Ideen durch Verneinung der Schranken des anschaulichen Schematismus 240 Das System der Ideen 240 Der Grundsatz des Selbst- vertrauens der Vernunft 242 Der Grundsatz der Vollendung 242 Der sittliche Schematismus als Sche- matismus für die Ideen 243 Die natürliche und die ideale Ansicht der Dinge 243. C. Die Deduktion der notwendigen Einheitsformen der Erkenntnis 244 Die Hauptfragen 244. I. Die aller Synthesis zugrunde liegende Vernunft- beschaffenheit 245 1. Die Einheit der erkennenden Vernunft . . . 245 Alle Erkenntnis der Vernunft die Wirkung einer Kraft, die aber der Anregung bedarf 245. XXIV Inhaltsübersicht des I. Teils. 2. Die Arten der Apperzeption a) Die transzendentale Apperzeption .... Die aus der analytischen Einheit folgende Vernunft- beschaffenheit 246 Die aus der objektiven synthe- tischen Einheit folgende 247 Das eine Ganze der unmittelbaren Erkenutnis 248. b) die ursprüngliche formale Apperzeption Die in dem Verhältnis des Materialen und Formalen unserer Erkenntnis liegende Voraussetzung 248 Die ursprüngliche formale Apperzeption als Quell aller Einheit 249. c) Die materiale Apperzeption Die Einteilung in reine, transzendentale uud ursprüng- lich formale Apperzeption 250 Verhältnis beider Gliederungen 250 Drei Arten materialer Bestim- mungen 261 Verhältnis der reinen und materialen Apperzeption 251. 3. Der Friesische Apperzeptionsbegriff in seinem Verhältnis zum Kantischen Die von Fries an Kants Apperzeptionsbegriff geübte Kritik 252 Die Schwächen derselben und Kants tat- sächliche Meinung 253 Kants angebliche Verwechs- lung der Einheit der Reflexion mit der Einheit der unmittelbaren Erkenntnis 254 Die Kantische Syn- thesis kein Akt des „Reflexionsvermögens* 265. 4. Die methodologische Bedeutung des Friesischen Apperzeptionsbegriffs Die anthropologische Vernunfttheorie in ihrem Ver- hältnis zu Kant 257 zuin Empirismus und zum Rationalismus 257 Die Lehre von der „unmittelbaren Erkenntnis“ als Gegengewicht gegen den empiri- schen Charakter der anthropologischen Methode 259. II. Die Bestimmung des Gegenstandes durch Erkennt- nis a priori Die Frage der Beziehung der Vorstellung auf den Gegenstand 260. 1. Empirische und transzendentale Wahrheit . . Zweierlei Wahrheitsbegriffe nach Fries 261 Die objek- tive Begründung 261. Diesubjektive Begründung 263. 2. Der Begriff der objektiven Giltigkeit bei Fries und Kant Kants objektiver Ausgangspunkt nach Fries 264 Die Seite 246 246 248 250 252 257 260 261 264 Digitized by Google Inhaltsübersicht des I. Teils. XXV Seite objektive Giltigkeit als Prädikat der transzenden- talen Apperzeption 265 Die Affektion durch den „Ge- genstand“ und der Begriff der objektiven Giltigkeit bei Kant 265 Übereinstimmung und Differenz bei- der 267. III. Die Deduktion selbst 268 1. Gesamtübersicht der Deduktion der Prinzipien a priori überhaupt 269 Reine Form, Erfüllung der Form und erfüllte Form 269 Die Form des Vernunftschlusses als Regulativ 269 Drei Gebiete der Deduktion 270 Die Mehrdeutigkeit des Vernunftbegriffes bei Fries und Kant 271. 2. Die vier spekulativen Momente der Erkenntnis 273 Die Philosophie kein Schaffen neuer Wahrhei- ten 273 Die obersten Elemente 273 Die Kombination derselben in den vier spekulativen Momenten 274. 3. Die Deduktion der einzelnen notwendigen Ein- heitsformen 275 a) Die Sinnesanschauung 275 Äußerer und innerer Sinn in ihrem Verhältnis zur transzendentalen Apperzeption 276. b) Die reine Anschauung 276 Deduktion der Stetigkeit und Unendlichkeit der An- schauungsformen 277 ihrer Dimensionen und ihres Verhältnisses zur Realität 278 Geometrie und reine Chronometrie 278 Das Verhältnis von Raum und Zeit zu Geometrie und Arithmetik bei Fries und Kant 279. c) Die analytische Einheit 281 Die Wiederholung der vier Momente in den Formen der Reflexion 281 der Sinnesanschauung 281 der reinen Anschauung 282 Die Gesetze der Homogenität, Spezifikation und Stetigkeit bei Fries 282 bei Kant 283 Beziehung zur Entwicklungstheorie 285 Ver- hältnis von Fries zu Kant 285 Die synthetische Ein- heit und die Relativität der Erkenntnis 285 Die moda- lische Bestimmung des Gegenstandes a priori durch analytische Einheit 286 als Lösung des Widerstreits zwischen Materie und Form 286. d) Die nur gedachte synthetische Einheit (die Kategorien) 287 Verhältnis zur analytischen Einheit 287 Die Deduktion der Kategorien als Hauptaufgabe 287 Verhältnis zum Digilized by Google XXVI Inhaltsübersicht des I. Teils. Seit# Urteil 288 Hauptmoment die Relation 288 Das Grund- verhältnis 288 Die Größenbegriffe 289 Die Kate- gorien der Beschaffenheit 289 der Modalität 290 der Relation 290 Veranschaulichung der Übereinstim- mung der Hauptmomente in einer Tafel 291 Das Verhältnis der Friesischen Deduktion der Kategorien zur Kantischen 291 Die Methode. 292 Die Extensität des Deduktionsverfahrens 292 Die Intensität des- selben 292 die beherrschende Stellung der Kategorien der Relation 293 Verhältnis zur modernen Logik 294. Die aus der Anwendung der Kategorien auf die Er- kenntnis sich ergebenden Aufgaben 294. 4. Die Deduktion der metaphysischen Grundsätze der Naturwissenschaft 296 a) Die Bedeutung der Deduktion der meta- physischen Grundsätze der Naturlehre . . 296 Doppelter Wert derselben 296. b) Mathematische und dynamische Grundsätze 297 Die Natur als oberster Begriff des ganzen Systems 297 Der Unterschied beider Arten von Grundsätzen 297 Die „Zufälligkeit“ der mathematischen Zusammen- setzung der Erscheinungen 298 verit6s de fait und veritfesde raisonnement 299 Verhältnis zu Leibniz300. c) Äußere und innere Physik und die einzelnen Grundsätze 300 Die äußere und die innere Naturerkenntnis in ihrem Verhältnis zur Mathematik 300 in ihrer Bedeutung für die einzelnen Grundsätze 302 Die Abhängigkeit unserer geistigen Weltansicht von der materiellen 304. d) Kants „Widerlegung des Idealismus“ und die Deduktion der Grundsätze der „inneren Na- turerkenntnis“ bei Fries 304 Verschiedene Absicht beider 304 ihre Differenzen in der Deduktion der Grundsätze 305. e) Kant und Fries in ihrem Verhältnis zur „Meta- physik der inneren Natur“ 306 Kants immanente Metaphysik der „körperlichen Natur“ 307 Die Metaphysik der inneren Natur bei Fries und ihre Schranken 307 Das Verhältnis der Mathe- matik zu deu Phänomenen des inneren Sinns bei Kant 309 bei Fries 309. 5. Die Deduktion der Prinzipien für die Lehre von den Ideen . . . . 310 Digitized by Google Inhaltsübersicht des I. Teils. XXVII Seite a) Die Notwendigkeit einer Deduktion der Ideen nach Fries irn Unterschied von Kant . . - 310 Die Ausdehnung der Deduktion auch auf die Ideen 311 Kritik des Kantischen Standpunktes 311. b) Die Grenzen desErkennens und der Glaube an die Realität der Dinge schlechthin . . 314 Die Entstehung der idealen Ansicht im Gegensatz zur natürlichen 314. a) Idee und Anschauung 315 Der Begriff Idee 315 Das Hinausgehen der kombi- nierenden Einbildungskraft und des Denkens über die Grenzen der Anschauung 316. ß) Die Frage nach der Übereinstimmung der Gegenstände mit unserer Vorstellung . . 317 Der spekulative Dogmatismus und die Unmöglichkeit einer Übereinstimmung der Dinge an sich mit unserer Anschauung 318 Der Einwurf der „dritten Möglich- keit“ 319 Trendelenburg 320 Das „Präformations- system“ bei Kant 321 Die Bedeutung der Antinomien- lehre für unsere Frage 322 Das Noumenon in „nega- tiver“ und „positiver Bedeutung“ 324 Der Stand- punkt von Fries 324. t) Der Glaube an die Realität schlechthin . 324 Schein oder Erscheinung? 325 Unsere Gebundenheit an die Sinnesanschauung 325 Die subjektive Grund- lage der Giltigkeit der Ideen 326. c) Der Gang der Deduktion der Ideen . . . 326 * Die vollständige Einheit und Notwendigkeit als Grund- gedanke 326 Die Idee des Absoluten 327 Die ein- zelnen Ideen 328. d) Wissen, Glaube und „Ahndung“ .... 328 Die Leerheit der Idee des Absoluten 329 Die intelli- gible Welt und die Idee der Gottheit 329 Die drei „modalischen Grundsätze“ 330 Wissen, Glaube und Ahndung als Überzeugungsweisen von gleich not- wendiger Gewißheit 332. e) Die Bedeutung der Ideenlehre bei Fries und Kant 333 Der praktische und der spekulative Glaube 333 Der Widerstreit der Vornunftschlüsse 334 Das Erkennen als unerklärbare Qualität 334. XXVIII Inhaltsübersicht des I. Teils. Seite 6. Die Deduktion der regulativen Prinzipien . . 335 a) Die Stellung der regulativen Prinzipien bei Fries und Kant 335 Verhältnis zu den Kategorien und Ideen 335 Kon- stitutiv und regulativ 335 Die regulativen Prinzipien als Maximen der Induktion 336 Verhältnis zu Kant 337. b) Die. idealen Regulative 338 Die einzelnen Sätze 338 Die Scheidung von Theorie und Idee 339 Polemik gegen Schelling 340 Die ästhetische Beurteilung aus bloßen Gefühlen 342. c) Die heuristischen Maximen der Urteilskraft 342 Die Ansprüche des Sinns und des Verstandes 343 in der Klassifikation 343 Das Gesetz der Stetig- keit 344 im Beweis 344 Die Wissenschaft vom Schönen und Guten als Vollendung der Wissenschaft vom Wahren 345. Ein Namenregister für beide Teile folgt am Schlüsse des ganzen Werkes. Druckfehlerverzeichnis. ■ ■ ■ — ■ * S. 93 Z. 8 von oben statt „vermittelte“ lies: „verwickelte“. S. 115 Z. 1 von unten Anmerk. 3) statt „Kapitel VII“ lies: „Teil II, Kap. I“. S. 184 Z. 15 von oben statt „Acht“ lies: „Auch“. Kapitel I. Die Kritik der Vernunft als philosophische Anthropologie. A. Die Friesische Kritik des Kantischen Standpunktes. Fries, der sieh so sehr als Kants Schüler weiss, dass er damit als „Partei anderen Parteien“ entgegen zu stehen glaubt, der sich für den einzigen hält, welcher die Kritik der Vernunft selbst weiter fortgebildet hat, der gelegent- lich auch sein Unternehmen als „gänzliche Umarbeitung“ des Kantischen bezeichnet1), knüpft auch die Erörterung aller Hauptpunkte seiner Erkenntnislehre an eine Ausein- andersetzung mit Kant. So vollständig auch in den Werken Kants alle philo- sophischen Aufgaben erörtert und so trefflich diese Lehren geordnet sind, so bleibt doch, meint Fries, beim Studium derselben neben dem Reichtum an Belehrungen, der aus ihm zu schöpfen ist, das Gefühl eines Mangels, als ob gleichsam noch der rechte Mittelpunkt der Lehre fehle, in dem alle ihre Fäden zusammenlaufen, und in dem sie verknüpft werden sollten. Dieser Mangel liegt in erster Linie darin, daß Kant die zwei Wissenschaften nicht vollständig in den 1) Vgl. Gesch. d. Philos. II, 590. Metaph. 138. N. Kr. I, 42. In seiner Geschichte der Philos. (1. 595 f) führt er die Veränderungen, zu welchen er bei seinem Versuch einer vollständigeren Ausbildung der Lehre Kants gelangt ist, auf fünf Hauptpunkte zurück: 1. Allgemeine Theorie der Erkenntnis. 2. Theorie des Denkens. 3. Die spekulative Ideenlehre. 4. Das Prinzip der Ethik und Politik. 5. Das Verhältnis der Ästhetik zur Religionsphilosophie. Elsen bans. J. F. Fries und die Kantischc Erkenntnistheorie. 1 2 Kapitel I. Kreis seiner Untersuchungen mit aufgenommen liat, welche doch offenbar die eigentlichen Grundlagen derselben ent- halten, nämlich Logik und Psychologie. Grundlegende Bedeutung für die ganze Kritik der reinen Vernunft hat der Leitfaden der Urteilsformen und Schlußformen. Diese aber wären erst durch einen Überblick der ganzen logischen Auf- gabe festzustellen. Sinn, Bewusstsein, Apperzeption, Ein- bildungskraft, Verstand sind in ihrem gegenseitigen Ver- hältnis als Bestandteile einer Theorie des Erkenntnisver- mögens eingeführt, aber eine ausreichende psychologische Theorie derselben ist nicht gegeben. Noch deutlicher wird dieser Mangel fühlbar, wenn wir Kants Beweisverfahren in Betracht ziehen. Kant will die Giltigkeit der metaphysischen Grundsätze der Naturwissenschaft und die praktischen Grundsätze der Re- ligionsphilosophie einem Beweise unterwerfen. Seinen Nachweisungen kommt aber eigentlich eine ganz andere Be- deutung zu, als es nach seiner logischen Disposition scheint. Das Prinzip der Möglichkeit der Erfahrung, aus welchem er die metaphysischen Grundsätze der Naturwissenschaft be- weist, ist ja kein „ontologischer Grund eines Naturgesetzes“, sondern nur ein psychologischer Grund eines Bedürfnisses für meine Vernunft. In Wirklichkeit wird durch Kants Be- weise nicht bewiesen, daß in der Natur jede Substanz be- harre, jede Veränderung eine Ursache habe, daß alles, was zugleich ist, in Wechselwirkung stehe, sondern nur gezeigt, daß die menschliche Vernunft das Bedürfnis habe, jene Gesetze als Wahrheiten vorauszusetzen, wenn sie die Erscheinungen als in einem Erfahrungsganzen ver- bunden beurteilen wolle. Richtig verstanden ist also diese ganze Betrachtung nur von psychisch-anthropologi- scher Natur. Diesen psychologischen Charakter seiner ganzen Un- tersuchung hat Kant übersehen. Ergeht davon aus, daß die Vernunft erst sich selbst und ihr eigenes Vermögen kennen müsse, ehe sie mit Aussicht auf Erfolg sich an den Aufbau eines eigenen Systems wagen dürfe. Allein er zog nicht in Digitized by Google Die Kritik der Vernuuft als philosophische Anthropologie. 3 Betracht, daß diese Selbsterkenntnis der Vernunft uns auf den Standpunkt der Anthropologie als Erfahrungswissen- schaft stelle, da wir doch zuletzt nur aus der sinnlichen inne- ren Selbstanschauung unsere Kenntnis von der Beschaffen- heit unserer Vernunft selbst schöpfen können1 2). Die genauere Begründung dieser Auffassungsweise knüpft Fries an eine Kritik des vieldeutigen Ausdrucks tran- szendental. Die für die V ernunf tkritik maßgebende Fassung des Begriffs, nach welcher alle Erkenntnis transzendental heißt, „die sieh nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnis von Gegenständen überhaupt beschäf- tigt“ *), führt mit Notwendigkeit zu der Anerkennung, daß es sich hier um innere Erfahrung handelt. Transzendentale Erkenntnis ist hier nicht die Erkenntnis a priori selbst, son- dern die Erkenntnis von Erkenntnissen a priori. Stellt ein Prinzip die Bedingung a priori vor, unter der allein Objekte, deren Begriff empirisch gegeben ist, a priori weiter bestimmt werden können, so heißt es, nach der seiner Ver- nunftkritik eigentümlichen Begriffsbestimmung, nicht tran- szendental, sondern metaphysisch. Z. B. der Satz, daß jede Veränderung eine Ursache habe, ist metaphysisch, aber die Einsicht, daß sich dieser Grundsatz in unserm Ver- stände finde, und wie er angewandt werden müsse, ist transzendental. Durchdie transzendentale Erkenntnis er- kennen wir also nicht a priori, sondern wir erkennen durch sie nur, wie wir a priori zu erkennen vermögen. Die Erkennt- nisse a priori selbst sind ihr Gegenstand3). Kant machte nun den „großen Fehler“, daß er auch die transzendentale Er- kenntnis in diesem Sinn für eine Erkenntnis a priori hielt 1) N. Kr. I., S. XV ff. und in der Schrift: Reinhold, Fichte und Schelling. Leipzig, 1803. S. 200. 2) So nach der von Fries zitierten 4. Aufl.; nach der genaueren Fassung der 2. Aufl. heisst es: „sondern mit unserer Erkenntnisart*; und nach der 1. Aufl.: „sondern mit unseren Begriffen a priori von Gegenständen überhaupt“. (Ausg. v. Kehrbach 44.) 3) Reinhold, Fichte und Schelling 201, N. Kr. I, 28 f. Man könnte noch hinzufügen: Nicht um das Objekt sondern um das Subjekt der Erkenntnis handelt es sich hier. Vaihinger, Kommentar I, 471. Digitized by Google 4 Kapitel I. und ihre empirisch-psychologische Natur verkannte. Er be- lehrt uns zwar in sehr bestimmter Weise darüber, welche Er- kenntnisse a priori in unserer Vernunft sind, wie unentbehr- lich uns ihr Gebrauch wird, und wie sie angeordnet werden müssen. Geht man aber über die bloße Tatsache hinaus und fragt, wie kommt unsere Vernunft zu diesen Kategorien, Ideen und zu diesem praktischen Glauben? so gibt Kant nur die Antwort: sie liegen unabhängig von aller Erfahrung in unserem Geiste, „wir können auch noch hinzusetzen, an- geborene Ideen sind es aber nicht, denn in der Tat fängt alles unser Erkennen nur mit Sinnesanschauung und Em- pfindung an. Was sind sie aber sonst, und wodurch erhalten wir sie? darauf hat er nie geantwortet“ >). Es ist auch nach Fries durchaus richtig: „Philoso phi- sche Erkenntnis selbst ist allgemeine und not- wendige Erkenntnis, sie ist Erkenntnis a priori“*), aber die Erkenntnis von dieser ist nicht selbst wieder a priori, sondern ist nur durch innere Wahrnehmung d. h. durch innere Erfahrung möglich. Transzendentale Er- kenntnis in der für die Vernunftkritik maßgebenden Bedeu- tung wäre also eigentlich „philosophisch-kritische Erkennt- nis aus innerer Erfahrung“ ; die Prinzipien der reinen Er- kenntnis a priori als solche kann man ja immerhin auch tran- szendental nennen, nur darf man dann den letzteren Begriff nicht mit dem ersteren verwechseln. Geschieht dies, und wird das subjektive, empirische, anthropologische Wesen der im eigentlichen Sinne transzendentalen Erkenntnis ver- kannt, so wird in das Kantische System ein unüberwind- licher Widersinn hineingelegt, „indem durch die Apriorität der transzendentalen Erkenntnis die innere Wahrnehmung selbst zur Erkenntnis a priori gemacht wird, und so anstatt des Kan tisch eil transzendentalen Idealismus ein absurder empirischer Idealismus herauskäme, nach welchem das Ich nicht nur Schöpfer seiner Welt, sondern sogar seiner selbst würde“ 3). 1) N. Kr. I, 301. 2 ) Beinhold, Fichte u. Schelliug 202. 3) N. Kr. I, 30. Digitized by Google Die Kritik der Vernunft als philosophische Anthropologie. 5 B. Di© philosophische Anthropologie als Grundwissen- schaft aller Philosophie. Vernunftkritik ist also nur möglich als „philosophi- sche Anthropologie“, und so wird die philosophische Anthro- pologie zur Grundwissenschaft aller Philosophie1). Philoso- phische Erkenntnisse können uns nur durch eigenes Nach- denken zum Bewußtsein kommen, sie müssen daher in der Natur des Menschen selbst durch ihre Natur bestimmt sein. Unsere Erkenntnis der Welt ist als Erkenntnis immer nur eine Tätigkeit unserer Vernunft und kann als solche unter- sucht werden. „Wenn daher jemand im Besitz einer hinläng- lich genauen Theorie der Vernunft ist, so muß er aus dieser nach weisen können, welche philosophische Erkenntnisse der Mensch haben müsse, warum er gerade diese besitze, und wie sie richtig ausgesprochen werden müssen.“ Es kommt also alles darauf an, das Wesen unseres Geistes so weit zu erfor- schen, als nötig ist, um den Quell des Wissens in ihm zu fin- den, und dadurch einzusehen, ob wir Philosophie besitzen, und welche sich notwendigerweise in uns findet. Selbst- erkenntnis ist es also, welche gefordert wird, Untersuchung der Vernunft, Kenntnis der inneren Natur des Geistes, An- thropologie? 2) Was versteht nun aber Fries unter philoso- phischer Anthropologie? Die für die richtige Würdigung des Friesischen Standpunktes wesentliche Antwort auf diese Frage läßt sich am besten geben, wenn wir das Verhältnis dieser Disziplin zu der an die Stelle der empirischen Psycho- logie tretenden psychischen Anthropologie, zur Philosophie überhaupt und Metaphysik und endlich zur Logik genau bestimmen. 1) Handbuch der psychischen Anthropologie 1820, I, S. 4. 2) Metaphysik 43, N. Kr. I., 32. 6 Kapitel I. I. Das Verhältnis der philosophischen zur psychischen Anthropologie. Die Anthropologie als Lehre vom Menschen zerfällt in pragmatische Anthropologie, die als „Weltkenntnis in der ge- wöhnlichen Bedeutung dieses Wortes“ mehr eine Kunst ist, den Menschen zu behandeln, als eine Wissenschaft, und die „physiologische Anthropologie“, die eigentliche Naturlehre vom Menschen1). Die letztere beschäftigt sich teils als „medi- zinische Anthropologie“ oder Physiologie mit der Natur des menschlichen Körpers, teils als „psychische Anthropologie“, gewöhnlich „empirische Psychologie“ genannt, mit „dem Innern des Menschen, so weit er sich Gegenstand der inneren Selbsterkenntnis wird“, teils als „vergleichende Anthropo- logie“ — in der Regel aber mit Unrecht „philosophische An- thropologie“ genannt — mit dem gegenseitigen Verhält- nis zwischen dem menschlichen Körper und dem mensch- lichen Geiste. Hier handelt es sich um die zweite dieser Disziplinen, um die psychische Anthropologie. Fries will sie nicht Psy- chologie nennen, da das in der Philosophie für das metaphy- sische, beharrliche, einfache und unsterbliche Wesen des Geistes gebrauchte Wort Psyche, Seele Voraussetzungen ein- schließe, auf die vorläufig keine Rücksicht genommen wer- den dürfe. Er stellt sich weder die Aufgabe einer Seelen- lehre, noch einer Geisterlehre, denn wir kennen keinen andern Geist, als das denkende Wesen, und kein anderes denkendes Wesen, als den Menschen, sondern die Aufgabe einer auf den menschlichen Geist sich beschränkenden Er- fahrungsseelenlehre oder psychischen Anthropologie. Aber auch von dieser Wissenschaft unterscheidet sich noch die philosophische Anthropologie. „Erfahrungsseelenlehre ist 1) Mit dieser Einteilung schliesst sich Fries völlig an Kants An- thropologie (Ausg. von Rosenkranz VII, 3) an. Charakteristisch aber ist, daß er die Anthropologie als „physiologische“ behandelt, während Kant eine „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“, eine „Welt- kenntnis“ gibt. Die Kritik der Vernunft als philosophische Anthropologie. 7 eine innere Experimentalphysik, die für sieh immer fragmen- tarisch bleibt, mit dieser wollen wir uns nicht begnügen, son- dern wir wollen uns zu einer Theorie des inneren Lebens, zu innerer Naturlehre erheben, unsre Idee ist eine Analyse des- sen für die innere geistige Natur, wras wir jetzt für die äußere Physik Naturphilosophie nennen. Diesen Teil der psychi- schen Anthropologie wollen wir philosophische Anthro- pologie nennen. Unsere philosophische Anthropologie ist dann keine Geschichte der Vernunft, wie sie sich im Kinde zum Erwachsenen, zum Greise entwickelt, wie sie mit Wachen und Schlafen erscheint, wie sie nach Mann und Weib, nach Kon- stitution, Volk und Rasse sich nuanziert, oder wie sie in kör- perlichen und Geisteskrankheiten verletzt und zerstört wird. Dieses sind Aufgaben für die psychische Anthropologie, wir suchen hingegen eine Beschreibung der Vernunft, um zu einer Theorie derselben zu gelangen, wie sie in gesunden Exem- plaren überhaupt der inneren Beobachtung eines jeden vor Augen liegt“ *). Diese Theorie der Vernunft erfordert „schwie- rigere Untersuchungen“, als sie in der psychischen Anthro- pologie sonst zu führen sind. Lehren, welche hier nur als Tatbestand angenommen werden, sind dort zu begründen. Insbesondere sind es die „tieferen rechtfertigenden Lehren“ - für die Gesetze der Form des inneren Lebens, „welche eigent- lich allein die Trennung der Kritik der Vernunft von der psychischen Anthropologie notwendig machen“ 1 2). Die philosophische Anthropologie kann also als ein Teil der psychischen Anthropologie betrachtet wer- den, erhebt sich aber über die sonstigen Untersuchungen dieser letzteren durch ihre Aufgabe, uns über die Be- schaffenheit unserer philosophischen Erkenntnisse aufzu- klären, und durch ihr Verfahren, vermöge dessen sie als Theorie der Vernunft von der bloßen Beschreibung der Er- 1) N. Kr. I, 31 ff. Metaphysik 43 ff., 53f. Psych. Anthropol. I, 1 ff. 2) N. Kr. I, 53 f., vgl. auch Anthropol. I, 166 „Wegen der Weit- läufigkeit u. Schwierigkeit dieser Untersuchuugcn (über Apperzeption) müssen wir sie zura Gegenstand einer eigenen Wissenschaft machen und sie der Kritik der Vernunft überlassen.“ 8 Kapitel I. fahrungsseelenlehre zu höheren Methoden1) fortschreitefc. Für die gesamte Auffassung der Friesischen Philosophie ist also stets zu beachten, daß die „philosophische An- thropologie“, welche die Grundwissenschaft der Philo- sophie bilden soll, „keineswegs mit der empirischen Psychologie“ identisch ist. II. Das Verhältnis der philosophischen Anthropologie zur Philosophie überhaupt und zur Metaphysik. Wie verhält sich aber diese philosophische Anthropo- logie zur Philosophie selbst? F ries sucht dies an dem Verhältnis des Gegenstandes der Erkenntnis zu der ErkenntnisalsTätigkeit deutlich zu machen. Jede ein- zelne Tatsache, daß ich dies oder jenes weiß, daß ich diesen oder jenen einzelnen Gegenstand erkenne, ist ein Gegenstand der inneren Erfahrung. Ich kann daher jede Erkenntnis auf zweierlei Weise betrachten, einmal subjektiv, wiefern sie meine Tätigkeit ist, und dann objektiv in Rücksicht ihres Gegenstandes. Ich erblicke z. B. einen Baum, ich kann ihn an seinem Wüchse, seiner Rinde, seinen Blättern, dem Duft seiner Blüten als Linde von anderen Baumarten unterscheiden und meine Kenntnis von demselben bis zur ganzen Natur- geschichte dieser Baumart erweitern. Auf der anderen Seite aber kann ich fragen : wie gelange ich zu diesen Kenntnissen? und ich sehesogleich: zugrunde liegenWahrnehmungen,wcl- chedurch dieSinne vermittelt sind; dazu kommen mathemati- sche Bestimmungen, Begriffe und Urteile des Verstandes, um 1) Auf diese Methoden wird weiter unten näher einzugehen sein. Zu der Unterscheidung der philosophischen Anthropologie von der empirischen Psychologie vgl. auch die Stelle in der Schrift Reinhold» Fichte und Schelliug, S. 20 „. . . Fichte hat schon oft seinen Wider- willen gegen diesen Namen (empirische Psychologie, Erfahrungsseelen- lehre) erklärt und gesagt, es gilbe für ihn gar keine Psychologie; uns geht es damit fast ebenso, wir wollen also lieber den Ausdruck philo- sophische Anthropologie brauchen, und dadurch die Wissenschaft aus innerer Erfahrung bezeichnen; also denjenigen Teil der empirischen Naturlehre, welcher die innere Natur zum Gegenstände hat.“ Die Kritik der Vernunft als philosophische Anthropologie. 9 die Erkenntnis vollständig zu machen usf. Diese letztere Be- trachtungsweise, welche dem Erkennen als Tätigkeit, der inneren Geschichte des Erkennens nachgeht, ist augen- scheinlich die anthropologische. Da aber die philosophische Erkenntnis reines Eigentum der Vernunft sein, nur aus ihr selbst entspringen, nur von ihrer Selbsttätigkcit abhängen soll, so müssen wir bei einer vollständigen anthropologischen Untersuchung der Vernunfterkenntnis auch auf den In- halt derselben stoßen und imstande sein, zu bestimmen, welche phil oso ph ische Erkenntnisse wir überhaupt be- sitzen, allein besitzen können, und wie sie sich richtig an- wenden lassen. Gewöhnlich betrachten wir unsere Erkennt- nis nur durch ihren Gegenstand und nennen sie z. B. wahr, wenn sie mit ihrem Gegenstände übereinstimmt. Aber ge- rade bei den ewigen Wahrheiten, den allgemeinen und not- wendigen Gesetzen, den Erkenntnissen a priori, oder wie wir sonst die philosophische Erkenntnis nennen wollen, fällt es gleich ins Auge, daß wir sie nicht durch ihren Gegenstand wahr machen können, da wir vielmehr den Gegenstand nur mittelbar durch sie denken und nicht mit ihr vergleichen können. Wollen wir daher uusere Erkenntnisse sicher ken- nen lernen, so müssen wir anfangs die gewöhnliche, nur ob- jektive Art, die Erkenntnisse zu betrachten, verlassen und uns bloß auf die subjektive, anthropologische beschränken, die andere wird uns nachher von selbst zufallen *). Nun ist die Bedeutung der philosophischen An- thropologie als „Vorbereitungswissenschaft“ der Philosophie erst völlig deutlich. Philosophie ist „Wissen- schaft von den philosophischen Erkenntnissen“ *). Die phi- losophischen Erkenntnisse entspringen der Selbsttätigkeit der Vernunft. Da es außerhalb der Vernunft keinen Weg gibt, zu diesen Erkenntnissen zu gelangen, so können wir nur mit Hilfe einer anthropologischen Durchforschung der Vernunfttätigkeit selbst dem philosophischen Erkenntnis- inhalt beikommen, der im übrigen keineswegs durch die an- 1) N. Kr. I, 39 f. 2) Mctaph. 28. Digitized by Google 10 Kapitel I. thropologische Untersuchung erst erzeugt, sondern nur durch sie aufgefunden wird. Nur wenn sie sich so auf eine erfah- rungsmässige anthropologische Untersuchung gründet, kann die Philosophie mit ihren Wahrheiten rein a priori zu völliger Evidenz gelangen 1 ). Damit ist zugleich das Verhältnis der philosophischen Anthropologie zur Metaphysik bestimmt, da eben die Me- taphysik es ist, w’elche sicli mit dem Inhalt der philoso- phischen Erkenntnisse beschäftigt. III. Das Verhältnis der philosophischen Anthropologie zur Logik. Dagegen ist das Verhältnis der formalen Disziplin der Philosophie, der Logik zur philosophischen Anthropologie nicht ebenso deutlich. Logik ist die Wissenschaft von den Regeln des Denkens. Unter den Regeln des Denkens können wir aber erstens die notwendigen Regeln der Lenkbarkeit der Dinge, die notwendigen Regeln verstehen, unter denen das Wesen der Dinge überhaupt steht, nur wiefern es denk- bar ist. Eine solche Erkenntnis von notwendigen und all- gemeinen Gesetzen des Wesens der Dinge nennen wir eine philosophische. Zweitens können wir unter den „Regeln“ auch dieGesetze verstehen, nach denen gerade unser mensch- licher Verstand denkt. Es handelt sieh dann nicht um die notwendigen Gesetze des Wesens der Dinge überhaupt, son- dern um eine besondere Tätigkeit unseres Gemütes. Dar- nach ist zu unterscheiden die philosophische oder demon- strative Logik als „Wissenschaft von den Gesetzen der Denk- barkeit eines Dinges“ von der anthropologischen Logik als der „Wissenschaft von der Natur und dem Wesen unseres Verstandes“. Die letztere muss jedoch die Grundlage der ersteren bilden. Die herkömmliche philosophische Logik ist nämlich so arm an Gehalt und so abhängig in allen ihren Behauptungen von der anthropologischen, daß man gar nicht imstande ist, sie abgesondert für sich aufzustellen. Von dem 1) N Kr. II, 199. Digilized by Google Die Kritik der Vernunft als philosophische Anthropologie. 11 Vorurteil für die Selbstgenügsamkeit dieser demonstrativen Logik, welches die Logik des Aristoteles und seiner Schule be- herrschte, rührt seine einseitige Svllogistik, rühren die scho- lastischen logischen Pedanterien, das übermässige Zutrauen zu Definitionen und Beweisen, das Suchen nach einem höch- sten Grundsatz des Wissens, nach einem obersten Kriterium der Wahrheit her1). In das andere Extrem verfiel die engli- sche Schule und ihre Anhänger in Frankreich, indem sie alle Philosophie und somit auch die philosophische Logik völlig in empirische Psychologie auflöste. Kant, der diese ent- gegengesetzten Einseitigkeiten in einem höheren Standpunkt aufzuheben anfing, blieb doch in Rücksicht der Logik zum Teil noch bei dem aristotelischen Vorurteil stehen. Sagt er doch ausdrücklich, die Logik dürfe keine psychologi- schen Prinzipien voraussetzen. Dies rührt nur von seiner Verkennung des Verhältnisses der Philosophie zur philo- sophischen Anthropologie her. „Allerdings wäre es höchst ungereimt, die Grundsätze der philosophi- schen Logik, die notwendigen Grundsätze der Denkbarkeit der Dinge durch empirische Psycho- logie d. h. durch Erfahrungen beweisen zu wollen“2), allein es handelt sich nicht darum, die philo- sophischen Grundsätze zu beweisen, sondern sie zu dedu- zieren, und dies allerdings muss aus anthropologischen auf Erfahrung beruhenden Voraussetzungen heraus geschehen. Auch hier also fangen wir ohne Ansprüche an die Philo- sophie mit dem an, was jedermann zugibt, mit der Beob- achtung unseres eigenen Erkennens. Mit Hilfe dieses anthro- pologischen Verfahrens werden wir dann die Einsicht in die philosophische Logik „gleichsam ungesucht mit erhalten“ 8). 1) Mit dm* Art, wie Fries hier eine Bereicherung der traditionellen Logik durch Psychologie fordert, deutet er das Programm an, das dann von der neueren Logik, insbesondere von Sigwart ausgeführt wurde. 2) Logik 9. Dieser eine Satz (vom Verf. gesperrt) genügt, um die Unrichtigkeit einer ganzen Reihe von Darstellungen der Friesi- schen Philosophie zu zeigen. 3) System der Logik § 1. Grundriss der Logik S. 3 f., Meta- physik 39; 44. 12 Kapitel I. IV. Di© Stellung der philosophischen Anthropologie im philosophischen System und ihre Schranken. Damit sind wir nun im ganzen über die charakteristische Stellung orientiert, welche die „philosophische Anthropo- logie“ bei Fries einnimmt, und durch welche seine Vernunft- kritik zur „anthropologischen Kritik der Vernunft“ wird. Wir fügen nur noch zum Zweck der systematischen Über- sicht den Entwurf des philosophischen Gesamt- systems hinzu, in welchem der Anthropologie ihre be- herrschende Stellung angewiesen ist: 1) als Vorbereitungs- wissenschaft geht voraus die psychische Anthropologie nach ihrem ganzen Inhalt und Umfang. Es folgt als 2) die Kritik der Vernunft, welche, da sie gleichmässig alle rein philo- sophische Erkenntnis, sowohl Logik als Metaphysik, sowohl spekulative als praktische Metaphysik mit Hilfe der An- thropologie abzuleiten hat, zunächst eine Übersicht aller dieser Formen der rein philosophischen Erkenntnis .geben muss, um sodann nachzuweisen, wie diese Formen in unseren Erkenntnissen entspringen, und warum sie sich gerade so finden müssen, wie das Bewusstsein sie zeigt. Die übrigen Teile der Philosophie enthalten nur teils eine weitere Ausführung1) der auf diese Weise abgeleiteten philosophischen Erkenntnisse, teils eine Nachweisung und Beurteilung ihrer Anwendungen. Die erstere Aufgabe fällt 3) dem System der Logik und 4) dem System der Metaphysik zu. Die zweite ergibt folgende Disziplinen: n) die mathe- matische Naturphilosophie 0) die Ethik nach allen ihren Teilen 7) Die Glaubenslehre 8) die philosophische Ästhetik. 1) Dass sicli übrigens Fries nicht völlig klar darüber war, in welcher Weise die logischen und metaphysischen Teile der Vernunft- kritik gegenüber der Log*ik und Metaphysik selbst abzugrenzen seien, geht unter anderem daraus hervor, daß die in der 1. Aufl. der Neuen Kritik der Vernunft von 1807 enthaltene „Einleitung“ zur Kritik der erkennenden Vernunft S.3ff. (nicht die in der 2. Aufl. dann fortlaufend numerierte Einleitung zum ganzen Werk V— L) grösstenteils in das System der Metaphysik § 78—83 als „Metaphysik der inneren Natur“ übergegangen ist. Die Kritik der Vernunft als philosophische Anthropologie. 13 Als besonderer letzter Teil folgt dann noch 9) die Geschichte der Philosophie *). Aus dieser systematischen Übersicht, wie aus dem vor- hergeschilderten Verhältnis der philosophischen Anthropo- logie zur Philosophie und ihren einzelnen Disziplinen ergibt sich nun aber zugleich eine Einschränkung ihrer Bedeutung, die nicht übersehen werden darf, wenn man den Friesischen Standpunkt richtig würdigen will. In den Darstellungen seiner Philosophie findet man häufig den Versuch, alles aus seiner anthropologischen Grundposition abzuleiten. Aber die Philosophie löst sich bei ihm keineswegs in Anthro- pologie oder empirische Psychologie auf. Unsere Unter- suchung des Verhältnisses der philosophischen Anthropolo- gie zur Philosophie und ihren einzelnen Disziplinen hat uns stets auf einen Punkt geführt, wo die Zuständigkeit der Anthropologie aufhört und ein selbständiges Element sich geltend macht. Die „rein philosophischen Erkenntnisse“ ■werden durch die anthropologische Untersuchung nicht etwa erst geschaffen, sondern sie sind als unmittelbarer Be- sitz der Vernunft stets schon vorhanden und wer- den durch jene nur zum Bewußtsein gebracht, weshalb auch jene anthropologische Untersuchung diesem unmittelbaren Besitz gegenüber an Wert völlig zurücktritt1 2). Immer und immer wieder wird es betont, „dass der Philosoph durch seine Kunst nicht Geheimnisse neuer Weisheit als Mystagog er- zeugen will, die dem unphilosophischen Blicke gänzlich un- sichtbar wären, dass er seine Wahrheiten nicht schaffen, sondern nur die in menschlicher Vernunft jederzeit vor- handenen aufweisen kann, er ist kein TroirjTris tti<; dXriOeias, sondern sein Geschäft ist nur die dvdjivncnq des Platon“3). Damit zerfällt die gesamte Erkenntnis in zwei scharf ge- schiedene Teile, in die Formen, durch welche wir die 1) Metaphysik 53 ff. 2) Vgl. Ps. Anthr. I. 68: „Kant verwechselte die psychologische Hilfsaufgabe der Kritik: den Ursprung der philosophischen Erkennt- nis im menschlichen Geiste aufzuweisen — mit der Metaphysik selbst.“ 3) N. Kr. II, 103. Digitized by Google 14 Kapitel I. unmittelbar vorhandene Erkenntnis erhalten und in diese selbst. Hier tritt uns diejenige Lehre entgegen, welche wie ein roter Faden durch das ganze Friesische Sy- stem sich hindurchzieht, die Lehre von der Reflexion in ihrem Verhältnis zur „unmittelbaren Erkenntnis“. Fries selbst bezeichnet diese Theorie einer Reflexion auf das unmittelbar in uns Vorhandene, eines „Wissens um unser Wissen“ als die „Grundverbesserung“, welche er in der Naturlchre anzubringen habe, und aus der alles Weitere folge *). Es wird uns daher darauf ankommen, diese Theorie in möglichster Vollständigkeit kennen zu lernen. Dies ist aber nur möglich im Zusammenhang mit einer Darstellung der Grundlagen der Friesischen Erkenntnislehre überhaupt. 1) K. Kr. I, 106. Djgitized by Google Kapitel II. Die psychologischen Grundbegriffe der Friesischen Philosophie. A. Die Grand vermögen und ihre Ausbildungsstufen. I. Die Geistesvermögen. Obwohl Fries die „nachteilige Trennung“ beklagt, welche bei Kant zwischen Psychologie und Vernunftkritik bestehe, erkennt er doch an, daß Kant gerade in den Kritiken (mehr als in der infolge ilirer fragmentarischen Form weniger wertvollen Anthropologie) sich ein Hauptverdienst um die Psychologie erworben habe. Sie verdanke der Arbeit Kants nicht bloß die gänzliche Abweisung der transzendenten Metaphysik aus ihrem Gebiet und die Befreiung von körper- lichen Erklärungsgründen, sondern auch eine besser geord- nete Übersicht der Selbsterkenntnis, richtigere Auffassung der Verhältnisse unter den Geistesvermögen und größere Verständigung über ihre Arten1). Aber sein Vorurteil gegen die Psychologie habe ihn gehindert, diese Untersuchungen genauer auszuführen und erfahrungsmäßig zu begründen. Eine Hauptschwierigkeit der bisherigen Behandlung liege in dem Mangel eines genauen Sprachgebrauchs und einer festen Bestimmung der Begriffe. Die Begriffsbestimmungen der Geistes vermögen wurden bisher meistenteils auf eine unzweckmäßige Weise nach Namenerklärungen statt nach Sacherklärungen gemacht. Die Namenerklärungen (nicht zu verwechseln mit den Worterklärungen, in denen nur einem Gedanken Worte als l) Ps. A. I, 67. Digitized by Google 16 Kapitel II. Zeichen beigegeben werden), in denen einem Begriff nur die Kennzeichen bestimmt werden, um ihn von anderen zu unterscheiden, dienen nur der B e s c h r e i b u n g und gewähren keine Einsicht über die Natur eines Dinges. Sie reichen daher nicht aus für eine erklärende Wissenschaft, für eine Wissenschaft vom menschlichen Geiste, wo im Gegensatz zu gewissen äußeren Naturwissenschaften alles in eine Ein- heit unserer Lebenstätigkeit verbunden und verschlungen erscheint. Und doch ist es „in der Psychologie sehr ge- wöhnlich geworden, die Geistesvermögen nur irgend nach allgemeinen Kennzeichen zu unterscheiden, ohne daß näher darauf geachtet wird, ob denn die Abstraktion, von der ich ausgehe, tiefere Bedeutung hat oder nicht, ob auch wirklich etwas mit ihr erklärt werde. Dadurch werden wir aber in der Psychologie nie zu einem scharfbestimmten, nie zu einem festen Sprachgebrauch kommen, sondern es müßte immer bleiben, wie bisher; jeder dächte gerade bei den Haupt- worten der Wissenschaft, z. B. Sinnlichkeit, Verstand, Ein- bildungskraft, Vernunft, Empfindung, Gefühl etwas anderes. u Wir können daher „in der psychischen Anthropologie durch- aus nur durch eine gründliche Methode der Sacherklärungen, also mif Hilfe der philosophischen Anthropologie zu einem wahrhaft brauchbaren Sprachgebrauch kommen“ 1). Und zwar muß alle Philosophie von der Selbsterkenntnis ausgehen, wie sie sich in der täglichen Erfahrung zeigt. Was wir hier innerlich wahrnehmen, sind Tätigkeiten, Vorstellungen, Lustgefühle, Begierden, Bestrebungen, als deren Ursache wir uns selbst, den Geist, erkennen. Diese Tätigkeiten sind jedoch in beständigem Wechsel begriffen; jede Minute unseres Lebens zeigt darin Veränderungen. Das Bleibende aber oder wenigstens länger Andauernde in uns sind die Vermögen. Sie stehen den Geistestätigkeiten als den unmittelbaren Lebensäußerungen des Menschen gegenüber als die Eigenschaften des Geistes, in denen er „Ursache seiner Tätigkeiten ist und wird“, und nach denen 1) Ps. A. I, 12 f, u. Vorrede zu Bd. II, S. VI ff. Die psychologischen Grundbegriffe der Friesischen Philosophie. 1 i wir deshalb im täglichen Leben die Menschen zu beurteilen gewöhnt sind. Wir sagen z. B. „dieser Mann hat herrliche Anlage zur Musik, nur schade, daß er sie so wenig ausge- bildet hat“, oder ein andermal: „Dieser hat wenig Talent zur Musik, hat sieh aber doch eine gute Fertigkeit im Spielen erworben.“ „Wir setzen also voraus, daß der Mensch in jedem Augenblick viel mehr in seinem Geiste habe, als was er eben in seinen Tätigkeiten sich oder andern zeigt, denn wir nehmen gleichsam diesen Besitzstand des geistigen Lebens nicht unmittelbar nach den Geistestätigkeiten, sondern nach den allein andauernden Vermögen zu denselben“ ’). Da wir aber nur die Tätigkeiten unmittelbar beobachten können, so können wir nur nach deren Arten die Vermögen benennen. Wir könnten also die Zahl der Vermögen ins beliebige vervielfältigen. Es wird aber der Wissenschaft darauf ankommen, nach Sacherklärungen die einfachsten Uebersichten zu geben und nur diejenigen Unterscheidungen hervorzuheben, welche für die psychische Theorie von Be- deutung sind. Und so haben wir unter den Geistesvermögen zunächst im allgemeinen zu unterscheiden teils ursprüngliche ange- borene Anlagen z. B. die Anlagen der Erkenntnis, des Denkens, des Begehrens, teils in der Ausbildung des Lebens erst erworbene Fertigkeiten z.B. das „Lesen und Schreiben können“ 1 2 3 *). Unter den ersteren ursprünglichen Vermögen sind wieder die wichtigsten diejenigen, auf welche sich die anderen zurückführen lassen, die „Grundvermögen“, die auch als unmittelbare Vermögen innerer Tätigkeit be- zeichnet werden können, da sie nicht ihr Bestehen nur durch andere haben, sondern schlechthin nach einem Gesetze der eigenen Wirksamkeit tätig sind9). 1) Ps. A. I, 18. Wir sehen, wie die Friesische Psychologie liier die Möglichkeit eines Geistesbesitzes vorbereitet, der den Inhalt einer logisch nicht direkt fassbaren „unmittelbaren Erkenntnis“ bildet. 2) Ps. A. I, 27. 3) Ps. A. I, 19. Metaphysik, 403. Eigentums, J. F. Fries and die Kantische Erkenntnistheorie. 2 18 Kapitel II. In der Feststellung dieser Grundvermögen wendet sich Fries einerseits gegen die bisher übliche Beschränkung auf die „Erkenntniskraft“, andrerseits aber auch gegen die Fassung, welche Kant der nach dem Vorgang von Tetens aufgenommenen Dreiteilung gegeben hat. Der Einseitigkeit vieler Psychologen, namentlich Descartes, Leibniz, Spi- noza, Wolff, Platner1) gegenüber, welche die Erkennt- 1) Im übrigen stimmt Fries, wie wir mehrfach zu bemerken Ge- legenheit haben werden, in verschiedenen Hauptpunkten seiner Lehre mit Platner überein. Er urteilt zwar über Platners „Neue Anthropo- logie“ : „Neben vielem sehr guten ist die Theorie durch materialistische Hypothesen sehr gehindert“ (Ps. A. 65) und er stellt Platner in dem oben erwähnten Zusammenhang mit den einseitigen Intellektualisten zusammen, aber er ist sich der nahen Verwandschaft seiner Unter- scheidung der Grundvermögen und der drei Bildungsstufen mit Plat- ner bewusst (Anthrop. Vorrede II f.) und er beruft sich an jener Stelle unmittelbar nachher in der Benennung der 3 Grundanlagen gegen Kant auf Platner (Anthropol. 41). Dass dies möglich ist, liegt in der bei der nahen Beziehung zu Tetens (vgl. A. Wreschner, Ernst Platners und Kants Erkenntnistheorie, Zeitschr. für Philos. u. philos. Kritik, 1893, Bd. 102, S. 3 ff.) und Kant begreiflichen Neigung Platners, trotz der be- herrschenden Stellung der Vorstellkraft doch die beiden anderen Ver- mögen wieder zu verselbständigen, einer Neigung, welche in der „neuen Anthropologie“ (Ernst Platners „Neue Anthropologie für Ärzte und Weltweise“, I. Bd., 1790) stärker hervortritt, als in den „Philosophi- schen Aphorismen“ (oder nur in der noch nicht in demselben Masse wie die letzte unter dem Einfluss Kants stehenden mir leider allein zu- gänglichen 2. Aufl. von 1784). Man vgl. folgende Stellen, die zugleich als Material für die mehrfach zu erwähnenden Beziehungen zwischen Fries und Platner dienen mögen): Aphorismen § 66 „So ist also die menschliche Seele eine unablässig wirkende Vorstellkraft — ein stets nach Vorstellungen bestrebtes, und stets mit Vorstellungen beschäftig- tes Wesen.“ § 67. „ Vorstellungen haben von der Beschaffen- heit der Sache, heisst erkennen ; von der Beziehung der Sache auf den selbsteigenen Zustand empfinden; und wenn es in der Vorher- sehung ist, Wollen, Erkenntnis und Willensvermögen.“ §68. „Dadurch sind einige Seelen Wirkungen, z.B. die gehörig zum Willen, nicht unmittelbar Vorstellungen, sondern eigentlich Folgen von Vor- stellungen.“ Dazu Neue Anthropologie § 327. „Ob es gleich, be- sonders nach deutlicher Erklärung des Wortverständnisses, zulässig sein mag, alle in der Seele auf einander folgende Wirkungen Vorstel- lungen zu nennen, sofern sie sich alle aus dem Wesen einer Vorstell- Die psychologischen Grundbegriffe der Friesischen Philosophie. 19 niskraft, Denkkraft, Vorstellungskraft der Seele für die eine Grundkraft hielten, aus der sich alle andern, auch das Be- gehren und Wollen ableiten ließen, schließt sich Fries allerdings grundsätzlich an die Kan tische Lehre an, glaubt aber in zwei wesentlichen Punkten von ihr abweichen zu müssen. Erstens ist nach Fries mit der Kantischen Bezeich- nung der Grundvermögen als Erkenntnisvermögen, Ver- mögen des Gefühls der Lust und Unlust und Begehrungs- vermögen der Unterschied der zweiten und dritten Anlage unsres Geistes nicht richtig bezeichnet. Die Geistestätig- keit aus der dritten Anlage werde besser nach Platner Bestrebung1) genannt. In der Tat ist die wenig durch- sichtige Begründung dieser auch für die Friesische Erkennt- nispsychologie nicht unwesentlichen Änderung, die über die Bedeutung einer bloßen Benennungsfrage hinausgeht, nur un- ter Zuhilfenahme der betreffenden Abschnitte bei Platner völlig verständlich. „Wenn in einem lebendigen Wesen“, sagt Platner2), „undeutlich, oder deutlich die Vorhersehung eines ihm bevorstehenden vollkommenen oder unvollkom- kraft erklären lassen, .... so ist es dennoch besser, zu unterscheiden: l.Das Auffassen derVorstellungen, welche der Seele vorsehweben;2. Die Veränderungen, welche unmittelbar auf die aufgefassten Vorstellungen in ihr erfolgen.“ § 329: „Die unmittelbaren Veränderungen, welche aus den so von der Seele aufgefassten Vorstellungen in ihr erfolgen, teilt der Verfasser in Wirkungen des Erkenntnis-, Empfindungs- und Bestrebungs Vermögens.“ § 620: .... „Mir scheint das Wol- len von dem Empfinden nicht weniger unterschieden zu sein, als bei- des von dem Erkennen.“ § 621: Empfindungen und Bestrebungen sind nicht Vorstellungen in dem engeren Sinne des Wortes, sondern Ver- änderungen, welche in lebendigen Wesen auf Vorstellungen erfol- gen “ Vgl. auch: M. Dessoir, Geschichte der neueren deutschen Psychologie I, l2, (1897) S. 227. 1) Übrigens von Platner selbst noch in der 2. Aufl. der „Aphoris- men“ (1784 § 67 vgl. obige Anmerkung) noch „Willensvermögen“ ge- nannt, dann erst Bestrebung „weil es auch tierische und ganz bewusst- lose, folglich ganz unwillkürliche Bestrebungen der Seele gibt, welche unter dem Allgemeinbegriff Willen nicht befaßt werden können.“ (Neue Anthropologie § 329.) 2) Neue Anthropologie § 616. Digitized by Google 20 Kapitel II, menen Zustandes erregt wird: so entsteht in ihm die Vor- hersehung einer möglichen Befriedigung, oder Nichtbefrie- digung seines Triebes — eines Vergnügens oder Mißver- gnügens. Diese Vorhersehungen sind Empfindungen (Ver- gnügen oder Mißvergnügen) selbst in einem niederen Grade.“ Mit diesen „Vorhersehungen“, die selbst Lust und Unlust mit sich führen, können sich nun nach Fries dem Wesen, welches Lust und Unlust fühlt, Wünsche verbinden, daß die Zukunft zu seiner Lust ausfallen möge. Zur vollen Begierde wird aber der Wunsch erst durch das auf unsere Tatkraft ein- wirkende Interesse, das wir am Gegenstände nehmen. Aber auch Begehren ist noch nicht handeln; die Begierde (und das Wollen als verständige Begierde) wirkt erst im Ent- schluß auf die strebende Tatkraft und diese führt die Tat aus als die dritte Art unserer Geistestätigkeiten. Wenn es also „auf Sacherklärung ankommt, so sind Herz und Trieb oder Gemüt und Begehrungsvermögen eins und dasselbe und um dessen Natur kennen zu lernen, müssen wir die Lustgefühle und Begierden in Verbindung miteinander be- trachten und erst das willkürliche Handeln an die dritte Stelle setzen“1). So scheidet Fries aus dem Gebiete dessen, was Kant „Begehrungsvermögen“ nennt, alles aus, was nur Bestimmungsgrund des Handelns ist, ohne die Kraft des Handelns selbst zu sein und rechnet es auf Grund des engen Zusammenhangs zwischen der Antizipation des künftigen Lust- oder Unlustzustandes und dem Wünschen oder Be- gehren (bzw. Verabscheuen) desselben zu der zweiten Klasse, welcher er dann — der modernen Fassung des Begriffes sich nähernd — den umfassenderen Namen Gemüt gibt. So gelangt er zu der Dreiteilung: Erkenntnis, Gemüt (oder Herz, „welchem Lust und Unlust gehört“) und Tatkraft. Mit dieser letzteren an sich wenig glücklichen Bezeichnung2) 1) Anthropologie I, 41 f. 2) Wenig glücklich sowohl in betreff der Berufung auf Platner, der von dem Begehrungsvermögen selbst sagt, dass es allezeit entwe- der begehrend oder verabscheuend wirke (Neue Anthropol. § 617), als auch in psychologischer Hinsicht überhaupt, da jene dritte Klasse, die Die psychologischen Grundbegriffe der Friesischen Philosophie. 21 der dritten Klasse, in welcher die Beziehung zur psychischen Eigenart des Wollens möglichst ausgeschaltet ist, schafft sich Fries die Möglichkeit, diese „Tatkraft“ in so nahe Be- ziehung zum „Verstand“ zu setzen und diesen dann als eine Ausbildungsstufe auch der übrigen Grundvermögen zu betrachten. II. Die Bildungsstufen unseres Geistes. Damit kommen wir auf den z w e i t e n Punkt, an welchem Fries von der Kan tischen Lehre abweichen zu müssen glaubt. Man pflege der Kantischen Einteilung gemäß ein Vermögen der Seele nach dem andern zu beschreiben und so die Ver- mögen getrennt von einander zu betrachten. Dieses scheine ihm genau genommen nicht ausführbar, denn in jeder wirk- lichen Lebenstätigkeit seien immer alle Grundanlagen mit- einander angeregt. Man müßte also nur nach dem Über- wiegenden des einen oder andern Vermögens unterscheiden, was ihm aber keine hinlängliche Bestimmtheit zu gewähren scheine. Geistesvermögen lassen sich überhaupt nicht klassi- fizieren wie Pflanzen oder Tiere. Denn thatsächlich bestehen sie nicht, wie jene, neben einander, „sondern sie sind in einander, verbunden zu einem Grade der Lebenstätigkeit“ '). Wir müssen also — damit kommt Fries auf einen für das ganze Verständnis seines Systems besonders wichtigen Punkt — mit dem Unterschied der Anlagen noch den der Bildungsstufen unseres Geistes verbinden, und wir werden nur dann „eine wahrhaft brauchbare Gruppierung der Lehren erhalten, wenn wir das Menschenleben als Auf- gabe der Selbstbeherrschung und Selbstausbildung ansehen und die einzelnen Untersuchungen demgemäß ordnen, wie eigentlich einfach als „willkürliches Handeln“, als „Tat“ charakterisiert wird, entweder nur die äussere Kraftentfaltung beim Handeln be- zeichnen soll und dann überhaupt kein „Geistesvermögen“ darstellt oder falls die psychischen Grundlagen des Handelns mit herein- genommen werden, auch die ausgeschalteten Willenselemente mit ein- schliesst. 1) Anthrop. II, Vorrede XXVIII. Digitized by Google 22 Kapitel II. jede Grundlage unseres Geistes dem Verstände einen ihr eigenen Zweck der Ausbildung nennt“ *). Wir nennen zur vorläufigen Übersicht jene Bildungs- stufen und diese Zwecke. Die drei Stufen der Ausbildung unseres Geistes, die sich also in jedem der drei Grundvermögen geltend ma- chen müssen, sind: die sinnliche Anregung, die Fort- bildung nach den Gesetzen des unteren Gedanken- laufs, und die Fortbildung nach den Gesetzen des oberen Gedankenlaufs, oder kürzer: Sinn, Gewohn- heit und Verstand. Die eigentümlichen Zwecke aber, welche für die ganze höhere Ausbildung des Lebens jedes der Grundver- mögen dem Verstände vorschreibt, sind: für die Ausbildung der Erkenntnis die Ideen der Wahrheit, für die Ausbildung des Gemütslebens die Ideen des Schönen, für das „Tat- leben der Willenskraft“ die Ideen des Guten1 2). Wir haben diese Kombination der Ausbildungsstufen mit den Grundvermögen und die Beziehung derselben auf ihre letzten Zwecke nur innerhalb des Erkenntnisvermögens zu verfolgen, werden aber zu bemerken Gelegenheit haben, wie die Durchführung dieser eigentümlichen Theorie auf erkenntnistheoretischem Gebiete durch die Ausdehnung der- selben auch auf die anderen Grundvermögen bedingt ist. Zunächst haben wir aber einen anderen grundlegenden Unterschied ins Auge zu fassen, dessen Verhältnis zu der obigen Dreiteilung, obwohl für das Verständnis seiner Er- kenntnistheorie wesentlich, bei Fries nicht klar hervortritt. B. Spontaneität und Rezeptivität. Ira menschlichen Erkenntnisvermögen stehen sich Selbsttätigkeit oder Spontaneität und Empfänglichkeit oder Rezeptivität gegenüber. Das Verhältnis beider ist zunächst 1) Anthrop. I, 43; II, Vorrede VI, XXXI. Dadurch wird nach Fries „die ganze allgemeine Psychologie eine natürliche Vorbereitung der Ethik“. Antrop. I, 43. 2) N. Kr. I, 51, Anthrop. I, 43; II, Vorrede XXXI. Die psychologischen Grand begriffe der Friesischen Philosophie. 23 von der Art der hier in Betracht kommenden Spontaneität aus näher zu bestimmen. Die Spontaneität des menschlichen Geistes ist nicht eine Spontaneität schlechthin, die auf sich selbst beruhen könnte und sich selbst genug wäre, um sich zu äußern, sondern sie fordert eine fortgesetzte äußere Anregung, um in Tätigkeit zu bleiben. Sie verhält sich nicht wie etwa die ursprünglichen bewegenden Kräfte der Materie, die wir uns in ihrem Anziehen und Abstoßen als Spontaneität schlechthin denken, sondern wie z.B. die Selbst- tätigkeit des lebendigen menschlichen Organismus, die be- ständig in Rücksicht der Ernährung und des Atemholens neu angefacht werden muß, wenn sie sich fortdauernd äußern soll. Wir bezeichnen eben deshalb die Vernunft (wie über- haupt die Eigenschaften des Geistes als einer Ursache seiner Tätigkeiten) besser nichtalsKraft, sondern als Vermögen. „Unter Kraft verstehen wir nämlich die zureichende Ursache einer Wirkung, aber eine solche zureichende Ursache unserer Geistestätigkeiten ist nie in unserem Geist allein, sondern wir brauchen außer dem Vermögen in uns immer noch andere ursächliche Bedingungen, welche die sinnliche Anregung bringen1)“. Die Vernunft ist also selbsttätig, nur indem sie erregbar ist. Sie ist Erregbarkeit oder erregbare Selbst- tätigkeit*). Jede erregbare Selbsttätigkeit hat nun aber eine be- stimmte Form ihrer Erregbarkeit, in welcher sich ihr Wesen unmittelbar zeigt, wozu aber stets auch eine durch Affektion von außen bestimmte Materie der Erregung kommen muß. So ist der Geist durch die Form seiner Erregbarkeit nicht etwa als Vermögen zu bewegen, zu leuchten, zu schallen, sondern als Vermögen zu erkennen bestimmt, und setzt dabei eine durch Affektion den Geist anregende äußere Ein- wirkung voraus. Die Empfänglichkeit für diese äußere Einwirkung heißt, wie schon erwähnt, Sinn. Die erregbare Selbsttätigkeit des Erkenntnisvermögens selbst aber wird Vernunft genannt 8). 1) N. Kr. I., 75 ff. 2) Anthropol. I, 26. 3) Genau genommen dürfte allerdings der Begriff der Vernunft 24 Kapitel II. Stehen sich also Sinnlichkeit und Vernunft als Empfäng- lichkeit und Selbsttätigkeit gegenüber, so müssen wir uns dabei von dem herkömmlichen Sprachgebrauch losmachen, der die Sinnlichkeit ausschließlich zu den „äußeren Sinnen“ und die Vernunft ausschließlich zu den höheren Formen des Denkens in Beziehung setzt. Ist schon bei Kant die Gleichung, Rezeptivität — Sinnlichkeit, Spontaneität — Verstand (ge- legentlich auch „Vernunft“ im weiteren Sinn genannt* 1) so weit durchgeführt, daß der „innere Sinn“ ein Teil der Sinn- lichkeit wird und der weiteste Begriff der Vernunft auch die auf der Sinnlichkeit beruhende reine Anschauung mit um- faßt, wobei aber doch Sinnlichkeit und Verstand als die bei- den „Grundquellen des Gemüts“ für die Erkenntnis, als be- stimmte „Fähigkeiten“2) im Haushalt des Geistes fixiert sind, so ist bei Fries diese Verbindung der beiden Grundbegriffe mit „Vermögen“ des „Gemüts“ völlig gelöst. Wir haben für das Vermögen zu jeder Art von Geistestätigkeit sowohl eine Selbsttätigkeit unseres Geistes als ein sinnliches Verhältnis zu derselben anzu- nehmen. Für jedes Vermögen des Geistes unterscheiden wir daher die Sinnlichkeit desselben als Vermögen, durch äußere Anregungen zur Tätigkeit zu gelangen, und die reine Selbsttätigkeit desselben als durch die Natur unseres Gei- stes selbst bestimmte Form desselben3). So heißt z. B. die Vernunft selbst Sinnlichkeit, sofern sie in der Materie ihrer Erregungen unter dem Gesetz des Sinnes steht4). So heißt die Vernunft sogar ein „sinnliches Vermögen zu Erkennen, Lust zu fühlen, willkürlich zu handeln“ 5). als Selbsttätigkeit nicht auf das Erkennen beschränkt werden, sondern müsste auch das Lustfühlen, Begehren und Streben umfassen. Die Vernunft heisst der „sich selbst vernehmende, der selbstbewußte Geist selbst“. „Nur da die Grundlage und das erste im Geistesleben des Men- schen immer die Erkenntnis ist, so heißt vorzüglich in engerer Be- deutung die Selbsttätigkeit des Erkenntnisvermögens Vernunft.“ N. Kr. I, 81. 1) Kritik der reinen Vernunft, herausg. v. Kehrbach. S. 48. 76. 2) Vgl. Vaihinger, Kommentar I, 230. 3) Anthrop. I, 24. 4) N. Kr. I, 76 f. 5) Anthrop. I, 25. Die psychologischen Grundbegriffe der Friesischen Philosophie. 25 Außerdem ist eine weitere Besonderheit der Friesi- schen Auffassung des Verhältnisses von Spontaneität und Rezeptivität hervorzuheben. Fries wendet sich dagegen, daß die meisten Lehrer das Leben unseres Geistes gleichsam teilen zwischen Sinn als Empfänglichkeit und Verstand als Spontaneität, wobei in der Regel dem Sinn des Erkenntnis- vermögens die Anschauung, dem Verstand das Denken zu- geschrieben werde. Diese ganze Teilung in leidende und tätige Lebenszustände bezeichnet er als u n z u 1 ä s s i g. Denn jede Lebensbestimmung unseres Geistes sei Selbsttätigkeit. Nichts gehöre dem Sinn für sich allein, sondern dieser gebe nur der Sinnlichkeit d. h. der sinnlichen Selbsttätigkeit die Anregung1 2). Der „Sinn“ ist also nicht etwa eine der „Ver- nunft“ koordinierte Größe, die als selbständiger Bestandteil des Geisteslebens betrachtet werden könnte, sondern er ist nur das durchaus untergeordnete Mittel, der Selbsttätigkeit Anregung zu gebeu. Die vielfach angefochtene Scheidung zwischen Aktivität und Passivität in der Kantischen Erkennt- nislehre, ihre Verteilung auf Verstand und Sinnlichkeit finden wir also bei Fries teilweise aufgehoben. Die Identifikation des Gegensatzes der koordinierten Glieder: Spontaneität-Re- zeptivität und Aktivität-Passivität ist zugunsten der Spon- taneität eingeschränkt, wofür sich übrigens schon bei Kant Anhaltspunkte finden*). Behalten wir nun den in diesem Sinne zu fassenden und das ganze Geistesleben durchziehenden Gegensatz zwischen Empfänglichkeit und Selbsttätigkeit, Sinn und Vernunft im Auge, so wird sich eine klarere Übersicht über die wenig durchsichtigen psychologischen Grundlagen der Friesischen Erkenntnislehre gewinnen lassen, um von hier aus den zen- tralen Begriff der Reflexion in Angriff zu nehmen. 1) N. Kr. I, 80. 2) Vgl. Vaihinger, Kommentar II, 23. Cohen, Kants Theorie der Erfahrung, 2. Aufl., 1885, S.344ff. Windelband, Geschichte der neueren Philosophie. II*, 57. 26 Kapitel II. C. Das Verhältnis des (Jrnmlgegensatzes: Spontaneität und Rezeptivität zu den Ausbildungsstufeu. Zunächst aber erhebt sich die Frage, wie nun eigent- lich die „Ausbildungsstufen“, die jedem Vermögen des Geistes eigen sein sollen, zu diesem Grundgegensatz zwi- schen Spontaneität und Rezepti vi tät, Selbsttätigkeit und Empfänglichkeit, „Vernunft“ und „Sinn“ sich ver- halten, der ebenfalls in jedem Vermögen sich finden soll. Das Nebeneinanderbestehen dieser Einteilungsmöglichkeiten bringt eine gewisse Unsicherheit in dem wechselseitigen Verhältnis dieser Grundbegriffe mit sich. Indem wir den Sachverhalt aufzuklären suchen, beschränken wir uns auf das Erkenntnisvermögen. Das erste Glied trägt ja bei beiden Einteilungen den- selben Namon: „Sinn“. Nun läge es nahe, die Schwierigkeit dadurch zu heben, daß man ohne weiteres die beiden anderen Ausbildungsstufen: Gewohnheit oder vielmehr das der- selben entsprechende Vermögen der „Einbildungskraft“ und den Verstand der Spontaneität zurechnete. Dies wäre aber schon deshalb völlig verfehlt, weil gerade zwischen dem Ver- stand als Reflexionsvermögen und der Spontaneität der Ver- nunft der für das ganze Friesische System maßgebende Gegensatz besteht. Wir bringen vielmehr nur daun Ordnung und Folge- richtigkeit in den Aufbau der Friesischen Erkenntnislehre, wenn wir den Grundgegensatz: Spontaneität- Rezepti vitftt durch alle Ausbildungsstufen hindurchgehen las- sen. Die Spontaneität liegt überall zugrunde. Die Namen: Sinn, Gewohnheit, Verstand aber bezeichnen in erster Linie die Seite der Rezepti vitftt. Der Verstand als Reflexionsver- mögen ist eigentlich, wie wir sehen werden, zuletzt nichts anderes, als die vollständige Ausbildung der im Sinn sich darstellenden Rezeptivität durch die künstliche Selbstbeobachtung. In der Regel stehen also jene Aus- bildungsstufen als eine Art Steigerung der Rezeptivität der Spontaneität gegenüber. Die psychologischen Grundbegriffe der Friesischen Philosophie. 27 Nun kommt aber ohne die ursprüngliche Selbsttätigkeit der Vernunft überhaupt keine Erkenntnis zustande, und so erscheinen die jenen Normen entsprechenden „Vermögen“: Sinnlichkeit, Einbildungskraft, Verstand zugleich auch als Repräsen tan ten der ursprünglichen Selbsttätigkeit der Ver- nunft. Das nähere Verhältnis dieser verschiedenen Faktoren der Erkenntnis ist erst im Verlauf der folgenden Darstellung genauer zu präzisieren. Ohne diese Orientierung über die teil- weise ineinander übergreifenden Grundbegriffe sind aber viele Einzelheiten der Friesischen Erkenntnistheorie über- haupt nicht verständlich. Kapitel III. Die Sinnesanschauungen. A. Die Empfindung und das „Afß zierende“. Jede Erkenntnis fängt der Zeit nach mit Sinnesan- schauungen an,dieuns in der Empfindung gegeben wer- den. Anschauungen überhaupt sind „diejenigen Erkenntnisse, deren wir uns unmittelbar wieder bewußt sind“1), Sinnes- anschauungen diejenigen, durch welche wir unmittelbar das Vorhandensein gegenwärtiger Gegenstände erkennen. In der Empfindling wird mir also die Anschauung eines gegen- wärtigen objektiven Mannigfaltigen, eines Schalles, eines Gefärbten, eines Warmen oder Kalten u. s. w. Abgesehen von dieser bestimmten Vorstellung, wodurch in der Empfin- dung angeschaut wird, ist die Empfindung selbst ein bloßer für uns unbestimmbarer Eindruck auf den Sinn. Erst durch die Erregung der Sinnesanschauung wird er zur Erkenntnis. Da der Geist in der Empfindung zum Anschauen ge- trieben wird, so ist die Empfindung ein passiver Zustand des Geistes. Aber auch hier ist die Passivität des Geistes nicht ein neues Leiden, sondern ein bloßes Bestimmtwerden zur Tätigkeit. Dieses die Tätigkeit bestimmende, dieses Element der llezeptivität in den Sinnesanschauungen ist das im sinnlichen Eindruck enthaltene A f f i z i e r e n d e , durch welches jenes Anschauen hervorgebracht wird. Was dieser sinnliche Eindruck eigentlich ist, darüber können wir nichts weiter sagen. Denn er enthält das äußere Verhältnis zum Affizierenden, unsere Beobachtung aber ist nur eine innere; jenes äußere wird da gar nicht wahrgenommen“ 1 ). 2) N. Kr. I, 85 ff. 1) N. Kr. 1, 106. Die Sinnesanschauungen. 29 Es leuchtet ein, daß in diesem Punkte, in der schwie- rigen Frage des „Affizierenden“ die „subjektive Wen- dung“, welche die Kantische Philosophie bei Fries nimmt, und welche schon in der beherrschenden Stellung der philo- sophischen Anthropologie zum Ausdruck kommt, besonders deutlich zutage treten muß. Bei Kant ist das Affiziertwerden des wahrnehmenden Subjekts durch den „Gegenstand“ der Punkt, an welchem eine realistische Denkweise einsetzen kann. Sinnlichkeit definiert er als die „Fähigkeit (Rezep- tivität), Vorstellungen durch die Art, wie wir von Gegen- ständen affiziert werden, zu bekommen“. Die Empfindung ist ihm die „Wirkung eines Gegenstandes auf die Vorstel- lungsfähigkeit, sofern wir von demselben affiziert werden“. Bei unbefangener Auslegung dieser wie vieler ähnlicher Stellen kann kaum ein Zweifel darüber sein, daß Kant unter den affizierenden Gegenständen, die eine Wirkung auf die Vorstellungsfähigkeit ausüben, nicht selbst wieder Vorstel- lungen versteht, die ja eben dadurch erklärt werden sollen, sondern daß er die Existenz affizierender (obwohl uns völlig unbekannter) Dinge an sich voraussetzt1). Von Fries wird nun diese Folgerung völlig aus der Erkenntnistheorie ausgeschieden2). Er wendet sich direkt 1) Vgl. z. B. die bei Vaihinger, Kommentar II, 21, zitierte Stelle: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 3. Abschn., Ausg. v. Rosenkranz, XIII, 84: „Sobald dieser Unterschied der Erscheinungen und der Dinge an sich selbst (allenfalls bloß durch die bemerkte Ver- schiedenheit zwischen den Vorstellungen, die uns anderswoher ge- geben werden, und dabei wir leidend sind, von denen die wir lediglich aus uns selbst hervorbringen, und dabei wir unsere Tätigkeit beweisen) einmal gemacht ist, so folgt von selbst, daß man hinter den Erschei- nungen doch auch etwas anderes, was nicht Erscheinung ist, nämlich die Dinge an sich einräumen und annehmen müsse, ob wir gleich uns von selbst bescheiden, daß, da sie uns niemals bekannt werden können, sondern immer nur, wie sie uns affizieren, wir ihnen nicht näher treten, und, was sie an sich sind, niemals wissen können.“ Vgl. auch Vaihinger, Kommentar II, 12 ff.; Riehl, Philosophischer Kritizismus 1876, 1, 423 ff. und das letzte Kapitel dieses Werkes. 2) Über ihre Wiederaufnahme an anderer Stelle wird weiter un- ten zu handeln sein. 30 Kapitel III. gegen die über Kants vorsichtigere Ausdrucksweise aller- dings hinausgehende Vorstellung, als ob die Sinnesanschau- ung dadurch entstehe, daß ich ein Ding außer mir als das zur Empfindung Affizierende, als die Ursache meiner Empfindung ansehe. Bei der Wahrnehmung eines grünen Baumes z. B. wäre nach dieser herkömmlichen Auffassung der Sachverhalt folgender: der Baum affiziert mein Auge, dadurch erhalte ich die Empfindung des Grünen, und weil diese eine Ursache haben muß, so schließe ich auf den Baum als das Affizierende und als die Ursache jener Em- pfindung des Grünen. Aber nicht der Baum affiziert mein Auge, sondern das Licht durch ihn. Sollte ich das Ding außer mir nur als das zur Empfindung Affizierende, als die Ursache meiner Empfindung anschauen, so müßte ich in jenem Falle nicht auf den Baum, sondern entweder auf Licht oder auf eine bloße Bewegung in meinem Auge u. s. w. schließen. Wie es aber dann überhaupt komme, daß diese Affektion meines Auges für mich zur Anschauung des Grünen wird? Darüber kann ich nichts mehr sagen, denn das wäre Erfahrungstatsache, aber diese Erfahrung ist nicht in meiner Gewalt. Ich muß bei der Beobachtung selbst stehen bleiben. Der Sachverhalt stellt sich dann weit ein- facher dar. Es zeigt sich nämlich, daß in der Empfindung von vorn ehe rein ein Anschauen von etwas außer mir, oder einer Tätigkeit in mir (je nachdem es äußere oder innere Sinnesanschauung betrifft) enthalten sei, und nicht erst durch Reflexion oder sonst hinterher hinzugebracht werde. Die Vorstellung eines Gegenstandes oder eines Objektiven tritt überhaupt nicht als etwas von der Anschauung Geschie- denes auf, indem der Gegenstand als das den Geist Affizie- rende vorgestellt würde, sondern ist unmittelbar mit der Anschauung selbst gegeben. In einer Gehörs- empfindung z. B. bin ich mir unmittelbar eines Schalles, als etwas außer mir, und nicht des Schallenden be- wußt, das ich vielmehr erst durch Reflexion in dem Zu- sammenhang der Erfahrungen erkenne ; ich höre ja oft einen Schall, ohne das Schallende zu kennen, von dem er kommt. Digitized by Google Die Sinnesanschauungen. 31 Ebenso sehe ich den Baum unmittelbar als etwas Grünes außer mir, und nicht etwa als die Ursache meiner Em- pfindung vom Grünen. In der Regel rührt jene irrtümliche Meinung, daß wir uns in der Empfindung ihrer Ursache, nämlich des Gegen- standes, bewußt werden, daher, daß wir in dem Bedürfnis, die Sinnestäuschung oder die bloße Einbildung von der wirk- lichen Sinnesanschauung zu unterscheiden, das unterschei- dende Merkmal darin finden, daß nur der letzteren wirklich ein gegenwärtiger Gegenstand entspricht und nun meinen, daß wir in der Tat in Vergleichung mit dem Gegenstände jene An- schauung verifizierten. Das kann aber gar nicht geschehen. Nicht der Vergleich der Empfindung mit dem affizierenden Gegenstand, sondern nur der Vergleich der Empfindungen untereinander, der ganze Zusammenhang unserer Erfah- rungen kann uns im einzelnen Falle zeigen, ob wir es mit einer wirklichen Sinnesanschauung oder mit einer bloßen Einbildung zu tun hatten. Fries ist sich der erkenntnistheoretischen Trag- weite dieser Frage völlig bewußt, die aufs engste mit dem Wahrheitsbegriff zusammenhängt. Dieser Fehler, führt er deshalb im Anschluß daran aus, wo man den Gegenstand nur als das Affizierende in der Empfindung anzuschauen meine, liege allen den Spekulationen zugrunde, in denen die Wahrheit der Erkenntnis aus einem Kausalverhältnis zu ihrem Gegenstand abgeleitet werde, oder wo man skeptisch daraus die Unsicherheit unseres Wissens aufweisen wolle, dass man diesem Kausalverhältnis nicht trauen dürfe. Selbst ganz metaphysisch genommen sei die Erklärung: wir bringen deu Gegenstand zu unserer Vorstellung hinzu, indem wir einen Grund derselben suchen, nicht stichhaltig, „denn was ist Grund anders als ein Gegenstand, durch den ein anderer ist; Grund ist also nur eine Art von Gegenstand, und wenn wir nicht den Begriff eines Gegenstandes schon voraussetzen, könnten wir weder Grund noch Folge denken, dieser Begriff kann also keineswegs durch letztem entspringen“ l). Zu- 1) N. Kr. I, 90 f, 72. 32 Kapitel III. sammen mit Kants Ausdrucksweise vom Ding an sich als „Grund der Erscheinungen“ wird hier vollends jede unmittel- bare Beziehung desErkennens auf den „affizierenden Gegen- stand“ als transzendente Realität folgerichtig ausgeschieden. Auch Fichte gelangt zu diesem subjektivistischen Stand- punkt. Aber während für Fichte die Lösung in dem spe- kulativ erfaßten schöpferischen Ich liegt, in dem auch der „affizierende Gegenstand“ aufgeht, ist es für Fries der empi- rische Befund, die innere Selbstbeobachtung, die ihn ver- anlaßt, bei seiner Analyse des Erkennens von einem Kausali- tätsverhältnis zwischen dem vorstellenden Ich und einem transzendentalen Gegenstand abzusehen. Daß damit die Frage des „Dings an sich“ noch nicht in negativem Sinn entschieden ist, wird sich uns später ergeben. Für jetzt haben wir auf die Frage der Sinnesanschauung näher einzugehen. Für jedes Vermögen des Geistes ist nach Fries Rezep- tivität und Spontaneität zu unterscheiden. Im Gebiete der Sinnesanschauungen ist die Rezeptivität durch die „Affek- tion“, durch das „Affizierende in der Empfindung“ re- präsentiert, die Spontaneität durch die Vernunft als Sinn- lichkeit. B. Der äufsere Sinn* Wenn wir zunächst innerhalb der Anschauungen des äußern Sinns das Verhältnis von Empfänglichkeit und Selbsttätigkcit genauer ins Auge fassen, so haben wir dabei stets zu beobachten, daß unter „äußerem Sinn“ nicht etwa das körperliche Organ zu verstehen ist, bei dessen Reizung die Empfindung in unserem Geiste erscheint, sondern nur die Empfänglichkeit unseres Geistes, von außen her, eben durch das, was man gewöhnlich „äußern Sinn“ nennt, an- geregt zu werden. Wir reden nur von „Sinnen des Geistes“. Hören und Sehen werden daher auch als eine „sinnliche Erkenntnistätigkeit unserer Vernunft“ bezeichnet J). Sinn und Vernunft ist ja identisch mit Empfänglichkeit und Selbst- 1) Psych. Anthrop. I, 46. N. Kr. I, 111. Djgitized by Google Die SinnesanBchatiiingen. 33 tätigkeit. Die durch das „Affizierende“ entstandene Em- pfindung ist nun aber für sich allein ein bloßer für uns un- bestimmbarer Eindruck auf den Sinn. Die Empfindung wird zur äußeren anschaulichen Erkenntnis erst, indem zu dieser sinnlichen (rezeptiven) Seite unseres Erkenntnisvermögens die Selbsttätigkeit der Vernunft hinzutritt. In jeder unmittelbaren äußeren anschaulichen Erkennt- nis, auch in jeder Wahrnehmung, finden sich nämlich drei Vorstellungsweisen verbunden: 1) die Sinnesanschauung in der Empfindung selbst, wie Wärme, Farbe, Schall, Duft u.s.w., 2) die Anschauung von Raum und Zeit, 3) die figürliche Ver- bindung der Gegenstände der Sinnesanschauung in Raum und Zeit. Von diesen drei Bestandteilen gehört nur die An- schauung der ersten sinnlichen Beschaffenheiten der Dinge zur Sinnlichkeit unseres Erkenntnisvermögens. Der zweite Bestandteil dagegen, die Anschauung von Raum und Zeit ist auf die mathematische Anschauung und mit dieser auf die reine Vernunft zurückzuführen. Das Vermögen der An- schauung von Raum und Zeit nennt Fries im Anschluß an Kant die reine Sinnlichkeit, die Anschauung des Raumes Form der äußern Sinne, die Anschauung der Zeit Form des Sinnes überhaupt. Die figürliche Verbindung durch die Vorstellung anderer dauernder Begebenheiten in der Zeit, von Gestalt und Lage der Dinge im Raum, von Größe, Zahl und Grad überhaupt wird der produktiven Ein- bildungskraft zugeschrieben1). Erst durch diese allen Sinnen gemeinschaftliche, das Mannigfaltige vereinigende Anschauung wird uns eigentlich die Erkenntnis der Körper als Materie im Raume und in der Zeit möglich. Die Em- pfindungen für sich allein würden uns keine Erkenntnis der Aussenwelt, sondern nur zerstreute einzelne Bilder liefern, und — was besonders wichtig ist — die einzelne Empfindung lässt mich den Gegenstand nur erkennen nach dem, was er für mich, den anschauenden Geist ist; Jene vereinigende Anschauung hingegen zeigt ihn uns so, wie die Gegenstände 1) Anthrop. 1, 102. Eigentums, J. F. Fries und die Kantigehe Erkenntnistheorie. 3 Digitized by Google 34 Kapitel III. ausser uns in ihrem Verhältnisse gegeneinander sind“ 1). Es gibt also für uns zwei Anschauungsweisen der Außen- welt. „Eine in der Empfindung zeigt uns die Dinge nur nach dem Verhältnis, was sie für den Geist, für das innere Lebendige sind, die andere, daraus abgeleitete hingegen lässt uns eins im Verhältnis zum andern, Materie im Verhältnis zur Materie erkennen. Süß oder bitter, warm oder kalt, rot oder grün ist ein Körper nicht für den andern, sondern nur für mich, den lebendigen Geist. Ton, Duft und Farbe drückt nur das Wesen eines Dinges in seinem Verhältnisse zu mir aus, ein Körper gegenseitig gegen den andern hingegen ist nur Anziehendes und Zurückstoßendes, Bewegliches.“ Es ergibt sich hieraus, daß es in unserer Vorstellung von der Aussenwelt am Ende auf die Qualitäten aus der Empfindung weit weniger ankommt, als es anfangs scheint. „Daß wir gerade diese Sinne haben, oder daß dem einen das Gehör, dem andern das Gesicht fehlt, trägt so viel nicht aus, denn das wichtigste ist die für jeden gleiche ver- einigende Anschauung der materiellen Welt“ s). So läßt sich jetzt der Friesische Unterschied von Re- zeptivität und Spontaneität, von „Sinn“ und „Vernunft“, wie er innerhalb der äußern Sinnesanschauungen sich darstellt, klar bestimmen. Die Seite der Rezeptiv ität ist vertreten durch den „äußern Sinn“, der zu den Empfindungen affiziert wird, die der Spontaneität durch die „reine Sinnlichkeit“ und die produktive „Einbildungskraft“, welch letztere übrigens in der Geschichte des Erkennens erst an einer späteren Stelle weiter zu verfolgen ist 8). C. Der innere Sinn. Zu den „Sinnesanschauungen“ im Sinne von Fries ge- hören aber nicht bloß die äußeren Wahrnehmungen, sondern auch die „innere Selbstanschauung des Geistes“ in seinen veränderlichen Tätigkeiten und Affektionen. Im Ge- 1) N. Kr. I, 171. 2) N. Kr. I, 103. 3) N. Kr. I, 102. Digitized by Google Die Sinnesanschauungen. 3fi gensatz zu den Dingen außer uns im Raume nehmen wir innerlich Vorstellungen, Gefühle und Begehrungen wahr, welche nichts Räumliches enthalten, sondern innere Tätig- keiten des Geistes sind. Dieses Vermögen der Selbsterkenntnis ist das erste und vorzüglichste aller Geistesvermögen. „Denn nur dadurch leben wir unser eigenes Leben, daß wir auch wieder um das wissen, was wir tun“ ‘). Es ist nämlich nicht genug, daß wir wissen, wir müssen auch erst noch wissen, daß uns was wir wissen, wir müssen uns, um davon sprechen zu können, uns unserer Erkenntnisse erst wieder bewußt werden. Auch hier dient uns der Gegensatz zwischen Rezep- tivität und Spontaneität zu weiterer Aufklärung. Der Selbsterkenntnis unseres Geistes gehört so gut wie der Erkenntnis der Außenwelt ein „Sinn“, durch den sie an- geregt wird. Wir müssen uns daher einen „inneren Sinn“ zuschreiben, durch welchen unsere Selbsterkenntnis sinn- liche Anregung empfängt1 2). Innerer Sinn bedeutet also nichts anderes als eine Empfänglichkeit, bei welcher — im Gegen- satz zur äußeren Anregung beim äußeren Sinn — die Anre- gung von innen her erfolgt. Dies findet nun allerdings nicht bloß im Erkennen, sondern auch in jedem anderen Gebiete des Geisteslebens statt. Viele Lustgefühle und Gemütsbewegungen (wie Freude und Trauer), manche Begierden, manche Bestrebungen wer- den innerlich sinnlich angeregt 3). Für unseren jetzigen Zweck aber handelt es sich nur um eine Untersuchung des inneren Sinnes des Erkenntnisvermögens. 1) N. Kr. I, 104. 2) N. Kr. I, 110. Anthrop. I, 81. 3) In der Tat führt Fries diesen Gesichtspunkt auch für die an- deren Gebiete des Geisteslebens durch. Er unterscheidet z. B. von den sinnlichen Anregungen des Lustgefühls in derEmpfindung eineSelbst- tätigkeit des Herzens in dem, wie wir fühlen, dass etwas schön oder gut sei (Anthrop. I, 184), einen „sinnlichen Entschluss“, der durch augenblickliche Lebhaftigkeit der Begierde bestimmt ist, von dem verständigen besonnenen Entschluü nach Überlegung und Wahl (An- thropologie I, 228). 86 Kapitel III. Die einzelne innere Anschauung entsteht also durch eine unmittelbare Affektion des Geistes zu einer inneren Em- pfindung. Eben dadurch unterscheiden sich die eigentlichen inneren Sinnesanschauungen einerseits von den „Einbil- dungen“, welche meist nur die Anschauung von nicht gegen- wärtigen Gegenständen aus der Erinnerung, aber keine An- schauungen unserer selbst, keine Sinnesanschauungen un serer Tätigkeit enthalten, andererseits von allen willkür- lichen Vorstellungsarten, z. B. von der später zu erörtern- den Reflexion, sofern nämlich die eigentlichen inneren Sinnes- anschauungen unwillkürliche, aufEmpfindung beruhende Vorstellungen sind, zu denen wir genötigt worden 1). Vermöge des inneren Sinns kommt also „über das Ver- hältnis, daß ich eine Vorstellung oder andere innere Tätig- keit habe, noch das andere hinzu, daß ich mir auch bewußt werde, sie wirklich zu haben“ 2). Woher kommt nun aber diese Differenz zwischen „Ha- ben“ und „Bewußtwerden“ ? Wie kommt es überhaupt, daß außer dem bloßen Vorhandensein einer Tätigkeit im Geiste noch eine besondere Empfänglichkeit erfordert wird, damit wir uns derselben bewußt werden können? Für die unbestimmte Fassung des Be- griffs Bewußtsein, für welche Bewußtsein ebensoviel bedeutet, als Vorstellen, besteht jene Differenz allerdings nicht. Denn selbstverständlich ist dann das Haben einer Vorstellung und das Bewußtsein von derselben identisch. Anders aber, wenn wir Bewußtsein der bestimmtesten Bedeutung nach als „innere Wahrnehmung“ oder „Perzeption“ fassen. Es zeigt sich dann, daß wir allerdings Vorstellungen und andere innere Tätig- keiten haben können, ohne uns ihrer bewußt zu sein. Wir wissen von ihnen nicht durch ihre unmittelbare Gegenwart, sondern nur dadurch, daß wir uns mittelbar ihrer bewußt werden. Solche Vorstellungen heißen dann dunkle im Gegen- satz zu den klaren, deren wir uns unmittelbar bewußt sind. Mit dieser Theorie der dunklen Vorstellungen schließt 1) N. Kr. I, 112 f. 2) N. Kr. I, 114. Digitized by Google Die Sinnesanschauungen. 37 sich Fries eng, teilweise wörtlich an Kants Anthropologie J) an. Er modifiziert dieselbe aber durch seine genauere Unter- suchung der Bedingungen, unter denen die dunklen Vorstel- lungen in das Licht des Bewußtseins treten. Das dunkle Feld unserer Vorstellungen ist bei weitem größer, als das helle, dessen wir uns bewußt sind. Unter der ganzen Menge unserer jedesmaligen Vorstellungen bilden die klaren nur einzelne lichte Punkte in einem unermeßlichen Gebiete des dunklen. Die Gesamtheit dieser lichten Punkte kann man auch den „Horizont der inneren Wahrnehmung“ nennen. Die Größe dieses Horizonts der inneren Wahrnehmung, dieses Ge- sichtsfeldes des inneren Auges, dessen größerer oder kleinerer Umfang einen bedeutenden Unterschied in der Anlage eines Menschen zum Denken ausmacht, steht im umgekehrten Ver- hältnis zur Schärfe der Auffassung und Unterscheidung. Wie man bei einem Teleskop das Gesichtsfeld immer mehr ver- kleinern muß, je genauer man sehen, je mehr Vergrößerung man benutzen will, so wird ein enger Horizont der inneren Wahrnehmung die scharfe Unterscheidung und ruhige Beob- achtung begünstigen1 2). Wovon ist nun aber das Eintreten einer Vor- stellung in diesen Horizont der inneren Wahrneh- mung abhängig? Unter welchen Bedingungen wird eine dunkle Vorstellung in eine klare, d. h. in eine Perzeption verwandelt? Diese Bedingungen sind: einerseits der Grad der Empfänglichkeit des inneren Sinns, andererseits der Grad der Lebhaftigkeit der betreffenden Gei- stestätigkeiten. Es ist stets ein bestimmter Grad der Stärke oder Lebhaftigkeit einer inneren Tätigkeit, einer Vorstellung, eines Lustgefühls, einer Begierde erforderlich, damit sie den inneren Sinn hinlänglich affizieren, um das Bewußtwerden derselben möglich zu machen. Eine Vorstel- lung muß also so lange dunkel bleiben, bis sie die Stärke erhält, welche zu dieser Affektion des inneren Sinnes aus- 1) Kant, Anthrop. in pragmatischer Hinsicht. § 6. S. W. II, 21. 2) Anthrop. 82, N. Kr. 1, 130. 38 Kapitel III. reicht. Diese erforderliche Stärke oder Lebhaftigkeit einer inneren Tätigkeit wird aber in verschiedenen Lebenszustän- den verschieden sein, je nachdem der Grad der Empfäng- lichkeit des inneren Sinnes selbst jedesmal größer oder klei- ner ist. Je lebhafter, eine Vorstellung ist, desto leichter nehmen wir sie wahr, und je empfänglicher der Sinn ist, desto 'weniger Lebhaftigkeit der Vorstellungen bedarf er, um sich ihrer doch noch bewußt werden zu können. Nur der lebhaftesten unter unseren sinnlich angeregten Geistes- tätigkeiten sind wir uns daher in jedem Augenblick bewußt. Nun stellt aber im Gebiete der inneren Sinnesanschau- ungen der innere Sinn nur die Seite der Rezeptivität dar. Worin liegt die Spontaneität die auch hier sich finden muß?1 2) Sie liegt in einem von der inneren Sinnlichkeit un- abhängigen Vermögen, in dem Vermögen des reinen Selbstbewußtseins oder der Apperzeption. Dieses Be- wußtsein meines Daseins, welches durch das Ich bin aus- gesprochen wird, und durch welches ich mich als das eine und gleiche Wesen erkenne, dem meine Geistestätigkeiten zukommen, ist in jeder inneren Anschauung enthalten. Diese Vorstellung: Ich bin, wird aber nicht etwa zugleich mit den einzelnen inneren Anschauungen dem Geiste erst gegeben, sondern sie findet unabhängig von jeder einzelnen statt. Sie liegt allen schon in der Vernunft zugrunde, kommt uns aber erst bei Gelegenheit sinnlicher Anregungen zum Be- wußtsein, wobei die reine Apperzeption in inneren Empfin- dungen des inneren Sinnes zu Sinnesanschauungen, zuWahr- nehmungen meiner Tätigkeiten in der Zeit angeregt wird. Die reine Apperzeption ist also eine „Form der inneren Sinn- lichkeit, welche in jeder inneren Anschauung empirisch be- stimmt wird“ *). 1) In den nicht immer streng systematisch fortschreitenden, teilweise sich wiederholenden Äußerungen von Fries tritt dieser Ge- gensatz allerdings nicht immer als der beherrschende hervor. Er liegt aber stets zugrunde, was aus gelegentlichen Zusammenfassungen z. B. N. Kr. I, S. 120 sich ergibt. 2) N. Kr. I, 120 ff. Anthrop. I, 79 ff. Die Sinnesanschauungen. 39 Dieses reine Selbstbewußtsein ist aber selbst keine Anschauung, sondern nur ein unbestimmtes Gefühl, ein unmittelbares Gefühl unseres Daseins, welches wir aber nur wahrnehmen, wie es in jeder einzelnen Anschauung als em- pirisches Gefühl bestimmt ist und durch sie angeregt wird. Während in der Anschauung ein Gegenstand, z. B. ein Haus, das ich sehe, als unmittelbar gegeben vorgestellt wird, ist mir in dem Bewußtsein: Ich bin, nur mein Dasein un- mittelbar gegeben. Ich selbst werde darin nicht angeschaut, sondern nur beziehungsweise gedacht. Wo aber der Gegenstand der Erkenntnis nicht unmittelbar selbst gegeben, sondern nur durch ein Verhältnis hinzugedacht wird, da han- delt es sich nicht um Anschauung, sondern um Reflexion. Wie ich am Schatten eines Menschen als seiner Wirkung, beziehungsweise durch Reflexion erkennen kann, wer er ist und wo er ist, so kann ich in dem „Ich bin“ den Gegenstand Ich beziehungsweise, aber nicht unmittelbar, erkennen, nur daß das Ding hier in Beziehung auf sich selbst, das Objekt des Vorstellens in Beziehung auf das Subjekt desselben vor- gestellt wird. Das reine Selbstbewußtsein bestimmt sich seinen Gegenstand also nur durch Denken, und es kommt durch dasselbe nicht eher zur bestimmten Erkenntnis, bis es in irgend einer einzelnen Anschauung unserer Tätigkeit empirisch bestimmt wird. Gerade in diesem Verhältnis der reinen Apperzeption als Form des inneren Sinnes zur inne- ren Anschauung liegt der große Unterschied zwischen innerer und äußerer Anschauung. Auch in der inne- ren Anschauung wird zwar, wie in der äußeren, ein Mannig- faltiges in der Anschauung gegeben. Aber die Beziehung jeder einzelnen inneren Anschauung auf das schon vor- handene reine Selbstbewußtsein hat zur Folge, „daß der Gegenstand hier nicht so gleichsam aus dem Mannigfaltigen der Anschauungen erst zusammenfließt, wie die Materie in der äusseren Anschauung, sondern daß die einzelne An- schauung schon eine Tätigkeit des Geistes zum Gegenstand hat, indem ich mir darin unmittelbar bewußt werde, was ich 40 Kapitel III. denke, will und fühle“ *). Eine Affektion findet aber auch hier statt. Nur ist es eine „unmittelbare Affektion des Geistes zu einer inneren Empfindung, in welcher ich mich selbst anschaue“ *). Suchen wir diesen Begriff der Apperzeption 8) bei Fries den beiden Standpunkten gegenüber abzugrenzen, an welche er sich in diesem Stück seiner Lehre anlehnt. Leibniz gegenüber, an den sich Fries in der Lehre von den „dunklen Vorstellungen“ bewußterweise anschließt4), wird nicht schon das „Haben“ der Vorstellungen, ihr „Vorhandensein im Geiste“ als „Perzeption“ bezeichnet, sondern nur das Bewußtsein von denselben. Die Friesische Perzeption ist dann im wesentlichen identisch mit der Leibnizischen „Apper- zeption“ 6). Und Fries erweist sich als Schüler Kants in der Vertiefung des Apperzeptionsbegriffs. Auch er scheidet scharf zwischen Apperzeption und innerem Sinn. Auch für ihn gibt es eine Affektion des inneren Sinnes, und steht dem letzteren die reine Apperzeption als Spontaneität, als „durch- gängige Identität unserer selbst“, als ursprüngliches Selbst- bewußtsein gegenüber, durch welche das gegebene Mannig- faltige in der Empfindung erst zu einer inneren Tätigkeit des Geistes wird. Und die „reine Apperzeption“ wird nicht etwa, wie die gewöhnliche rein empiristische Interpretation der Friesischen Philosophie vermuten lassen könnte, mit dem empirischen Bewußtsein identifiziert. Unter dem Vermögen des „empirischen Bewußtseins“ versteht er vielmehr die „innere Sinnlichkeit“ °). Will Kant die Apper- zeption als „logisches (reines) Bewußtsein“ von dem innern „Sinn“ als psychologischem (angewandtem) streng ge- schieden wissen 7), so stimmt Fries sachlich damit völlig 1) N. Kr. I, 124. 2) N. Kr. I, 125. 3) In der Psych. Anthropologie ersetzt Fries im Anschluss an van Calker das Wort „Apperzeption“ mit einem unglücklichen Versuch der Verdeutschung durch „Vernehmung“. 4) Anthrop. I, 78. 5) Leibniz, Nouveaux ossais, Livre II, Chap. IX, Ausg. von Ger- hardt 5, 121. Monadologie 14. 6) N. Kr. I, 114. 7) Kant, Anthropologie. S. W. VII, 30. Die Sinnesanschauungen. 41 überein, sofern dasBehvort „logisch“ den von aller empirisch- psychologischen Untersuchung unabhängigen Erkenntnis- wert der Apperzeption hervorheben soll. Die „reine Apper- zeption“ ist auch nach Fries ein von allen empirischen Be- stimmungen, durch welche es angeregt wird, unabhängiges Vermögen, eine „eigene Spontaneität des Geistes“ 1 2), ein „reines Selbstbewußtsein“, in welchem — völlig überein- stimmend mit einer Äußerung Kants — nicht, w a s ich bin, sondern nur, daß ich bin, ausgesagt wird *). Näher be- zeichnet dieselbe Fries, indem er einer Andeutung Kants, daß die in der ursprünglichen Apperzeption gegebene Vor- stellung „Ich“ „dunkel“ sein könne 3), eine bestimmtere Form gibt, als ein unmittelbares, aber unbestimmtes „Ge- fühl meines Daseins“. Die Differenz beginnt aber schon beim innem Sinn. Zwar ist bei der Affektion des innern Sinns auch für Fries, wie für Kant 4 5), zuletzt die „angeschaute Tätigkeit“ selbst das Affizierende, wenn auch in der inneren Anschauung selbst „das Nötigende, was uns affiziert“, nicht vorkommt, sondern nur aus dem Zusammenhang der inneren Erfahrung heraus nachträglich erschlossen wird ß). Aber für Kant ist diese Art des Zustandekommens der inneren Anschauung der Grund, daß wir uns selbst nicht wie wir an uns selbst sind, sondern nur, wie wir uns erscheinen, erkennen. Wie wir die äußeren Objekte nur insofern erkennen, als wir äußer- lich affiziert wrerden, so müssen wrir auch vom inneren Sinn 1) N. Kr. I, 120. 2) N. Kr. I, 121. Vgl. Kritik d. reinen Vernunft S. 676: „Dagegen bin ich mir meiner Selbst in der transzendentalen Synthesis des Mannigfaltigen der Vorstellungen überhaupt, mithin in der synthe- tischen ursprünglichen Einheit der Apperzeption bewußt, nicht wie ich mir erscheine, noch wie ich an mir selbst bin, sondern nur dass ich bin.“ 3) Kr. d. r. V. 128. Anm. 4) In der für Fries in Betracht kommenden 2. Auflage der Kr. d. r. V. 674: „Der Verstand findet also in diesem [im inneren Sinn] nicht etwa schon eine dergleichen Verbindung des Mannigfaltigen, sondern bringt sie hervor, indem er ihn affiziert.“ 5) N. Kr. I, 125f. 42 Kapitel III. zugestehen, „daß wir dadurch uns selbst nur so anschauen, wie wir innerlich von uns selbst affiziert werden, d. i. was die innere Anschauung betrifft, unser eigenes Subjekt nur als Erscheinung, nicht aber nach dem, was es an sich selbst ist, erkennen“ *). Nach Fries ist zwar auch die innere Empfindung durch Affektion bedingt, aber sie ist doch das Mittel, mir das unbedingt Gültige zum Bewußtsein zu bringen1 2 3). Für beide wird hier die Stellung zu den psycholo- gischen Grundlagen zu einem charakteristischen Bestand- teil des Systems. Kant, der die Erkenntnisprinzipien von aller empirisch-psychologischen Begründung freihalten will, entwertet die innere Wahrnehmung als Vergegenwärtigung bloßer Erscheinung und nicht eines wirklichen inneren Seins8), und entrückt das oberste Erkenntnisprinzip, die synthetische ursprüngliche Einheit der Apperzeption, in eine höhere Sphäre, die er näher nur dahin charakterisiert, daß er sagt, in jener synthetischen Einheit der Apperzeption werde ich mir bewußt, „nicht wie ich mir erscheine, noch wie ich an mir selbst bin, sondern nur daß ich bin“. Für Fries, der philosophisch-anthropologisch vorgeht, ist der „empirische Lebenszustand meines Geistes“ „die einzige Quelle, aus der ich meine Selbstkenntnis schöpfen kann“ 4). Nochmals muß aber betont werden, daß damit die reine Apperzeption selbst keineswegs empirisch begründet wird. Sie ist nach Fries vielmehr eine der genauem psycholo- gischen Analyse nicht einmal zugängliche unmittelbare und ursprüngliche Spontaneität des Geistes. Gerade jene Unmittelbarkeit der reinen Apperzeption ist es nun, an welcher die von Fries selbst an Kants Apper- zeptionsbegriff geübte Kritik einsetzt, eine Kritik, welche, 1) Kr. d. r. V., 675, 673, 676 (vgl. Cohen, Kants Theorie der Er- fahrung. 2. A. 1885, S. 333 ff.). 2} N. Kr. I, 127. 3) Vgl. auch Kr. d. r. V. 676: „Das Bewußtsein seiner selbst ist also noch lange nicht eine Erkenntnis seiner selbst.“ 4) N..Kr. I, 128. Die SinnesaDSchauungen. 43 um der späteren Besprechung der transzendentalen De- duktion nicht vorzugreifen, hier nur kurz berührt werden kann, soweit sie zur Vervollständigung der Lehre vom innern Sinn unentbehrlich ist. Nach Fries soll es einer der Grundfehler der Kantischen Theorie sein, daß er die Zusammenfassung aller Erkennt- nisse in eine Einheit der Selbstbeobachtung mit der un- mittelbaren Einheit alles Erkennens, den denkenden Verstand als Reflexionsvermögen mit der un- mittelbaren Vernunft verwechselte. Die Kantische Svn- 4/ thesis sei die Handlung des Verstandes, eine Vorstellung zu der andern hinzuzusetzen und beide in einem Bewußt- sein zu vereinigen, was nur die Reflexion tue. Die Kanti- sche Synthesis sei also nichts als ein Akt des Reflexions- vermögens, eine Wiederholung, deren Original er nicht kenne *)• Fries sieht dieses Original in einer unmittelbaren Syn- thesis, welcher gegenüber die Einheitsformen des Bewußt- seins nur abgeleiteter Natur sind. Er unterscheidet dreierlei Bedeutungen des Wortes Apperzeption: Reine Apper- zeption nennt er das „reine Selbstbewußtsein, welches durch die Reflexion : Ich bin, oder ich denke, ausgesprochen wird, die Form des innern Sinnes ist, und jeder innern An- schauung das Ich als den einen und gleichen denkenden Gegenstand bestimmt“, transzendentale Apperzep- tion das „Ganze der unmittelbaren Erkenntnis unserer Vernunft“, und ursprüngliche formale Apperzeption die „unmittelbare Form jenes Ganzen“, in welcher das Ge- setz der Apodiktizität, der Quell aller einzelnen Formen der Einheit liegt, welche die Reflexion auffaßt 2). Die beiden letzten Arten werden uns später beschäftigen. Die erste haben wir als die dem inneren Sinn als Rezeptivität ent- sprechende Spontaneität der Vernunft kennen gelernt. Er will sie genau von der dritten Art unterschieden wissen, aus welcher die einzelnen Einheitsforraen entspringen und 1) N. Kr. II, 64, 66. 2) N. Kr. U, 64 f. Digitized by Google 44 Kapitel III. tadelt Kant, daß er die letztere, die ursprüngliche formale Apperzeption mit dem reinen Selbstbewußtsein vermengt habe ,). Für ihn ist die „reine Apperzeption“ die Form des „inneren Sinns“, die jeder inneren Anschauung das Ich als den einen und gleichen denkenden Gegenstand bestimmt. 1) Auf Grund der 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft, an welche sich Fries halt, und in welcher erst die Einheit des Bewußtseins ausdrücklich als Einheit der Kategorien bezeichnet wird. Vgl. Cohen, Kants Theorie der Erfahrung. 2. A. 1885, 316 f. Kapitel IV. Die Einbildungskraft. A. Anschauung, Denken und Einbildung. In den „Sinnesanschauungen“ ist mir nur das Ver- änderliche meines Seelenlebens gegenwärtig. Das in der inneren Anschauung Gegebene ist in beständiger Verände- rung im Abfluß durch die Zeit. Es müssen daher diejenigen Tätigkeiten, die sich unmittelbar sollen wahrnehmen lassen, in stetigem Abfluß von Veränderungen Vorkommen. Nur bei Gelegenheit von Affektionen nehme ich in der inneren Empfindung meine Tätigkeit wahr. Nur die einzelnen ver- änderlichen, empirischen Bestimmungen des Selbstbewußt- seins fallen in die innere Anschauung; und von diesen, wie wir gehört haben, nur diejenigen, welche Stärke genug besitzen, um den inneren Sinn hinlänglich zu affizieren. Nur eines kleinen Teils meiner Tätigkeiten, nämlich der allerlebhaftesten, bin ich mir in jedem Augenblick meines Seelenlebens bewußt 1). Fries nennt die Gesamtheit der sinnlich angeregten lebhaftesten Tätigkeiten, die unmittelbar ins Bewußtsein fallen, den „empirischen Lebenszustand“2) des Geistes. 1) N. Kr. I, 127. 126. 119. 2) N. Kr. I, 128. 133. Dieser Begriff ist jedoch nicht überall streng festgehalten, wie überhaupt dieser Übergang zur Erörterung über die Einbildungskraft an Schärfe des Gedankeugangs zu wün- schen übrig lässt 1, 134 heisst es: „Was nun ausser diesen [den Sinnes- anschauungen] zum empirischen Lebenszustand gehört, nennen wir im allgemeinen den Gedankenlauf“, während doch der Gedanken- lauf, entgegen obiger Begriffsbestimmung des empirischen Lebens- zustandes, auch die nicht unmittelbaren „willkürlichen Vorstellungen der Reflexion“ einschlieüt. 46 Kapitel IV. Das Gebiet der andern „mir unmittelbar unbewußten Tätig- keiten“ ist übrigens das bei weitem größere. Wir müssen nun weiter annehmen, daß ein Teil dieser letzteren in einem anderen Augenblick unter günstigeren Bedingungen, näm- lich dann, wenn der innere Sinn empfänglicher ist, oder den betreffenden Vorstellungen größere Lebhaftigkeit zukoramt, ebenfalls unmittelbar zur Anschauung kommen kann *). Ein anderer Teil dieser unbewußt bleibenden Tätig- keiten aber kann überhaupt nicht zur unmittelbaren An- schauung gelangen. Wäre unser Inneres nur beständige Veränderung, beständiges Wechseln unserer Tätigkeit, ein augenblickliches Erscheinen und Verschwinden von Vor- stellungen, Begehrungen u. s. w., so würde es nur ein wider- sinniges Spiel äußerer Eindrücke darstellen, ohne alle Selb- ständigkeit. Es muß aber doch etwas unabhängigvon den wechselnden Eindrücken da sein, worauf diese Eindrücke erst gemacht werden. Es muß etwas Beharr- liches, im Wechsel Bleibendes zugrunde liegen. Gerade dies aber, alle dauernde innere Tätigkeit, alles Beharrliche der inneren Erfahrung kann nicht unmittelbar zur Anschauung kommen, sondern wird erst mittelbar durch die zur Anschauung hinzukommende Reflexion erkannt1 2). Erst der reflektierende Verstand bringt uns diese nicht an- schaubaren bleibenden Grundlagen unseres geistigen Lebens zum Bewußtsein. 1) Dieser Umstand wird von Fries in diesem Zusammenhang nicht berücksichtigt, ergibt sich aber aus seiner Auffassung des Ver- hältnisses der dunklen und klaren Vorstellungen. Wir müssen uns ja vorstellen, „daß unser ganzes Wissen jederzeit im Geiste gegenwärtig ist, daß aber in jedem Augenblick nur sehr wenige Vorstellungen die gehörige Stärke haben, um für sich zum Bewußtsein zu gelangen d.h. wahrgenommen zu werden“. N. Kr. I, 138 f. 2) N. Kr. I, 119. 127. 138 f. 249. Auch hier wird die ohne Ein- schränkung ausgesprochene Behauptung gelegentlich in unbestimm- ter Weise eingeschränkt. Vgl. I, 138: „Nur die lebhaftesten Verände- rungen affizieren den inneren Sinn hinlänglich, wir nehmen daher nur eine Reihe von Veränderungen in unseren Vorstellungen wahr, hin- gegen die ruhig fortdauernden sind meistenteils dunkel.“ Die Einbildungskraft. 47 So tritt zur Anschauung als zweite Erkenntnis das Denken. Wir erkennen entweder intuitiv durch An- schauung oder diskursiv durch Begriff und Urteil. Die An- schauung ist eine unmittelbare Erkenntnis des Gegenstandes, wobei der Gegenstand als gegeben vorgestellt wird. Die diskursive Erkenntnis dagegen ist eine mittelbare Vorstel- lung durch allgemeine Regeln und Gesetze, deren genauere Feststellung sich die Logik zur Aufgabe macht. Ehe wir aber zu dieser letzteren übergehen, haben wir zu berücksichtigen, daß es neben diesen beiden Hauptele- menten, aus welchen die Erkenntnis eigentlich im Geiste entspringt, noch andere innere Zustände und Veränderungen der Vorstellungen im Geiste gibt, welche das Vorhanden- sein, den Wechsel und das wechselseitige Spiel der Vor- stellungen in unserem Innern betreffen. Sie „gehören für sich weder dem anschauenden Erkennen noch dem Denken, sondern sie machen nur einen Mechanismus innerer Ver- änderungen aus, wo die im Geiste schon vorhandenen Vorstellungen weiter aufeinander einwirken“ 1 ). Es gibt zwar innerhalb dieses zwischen Sinnesanschauungen und Reflexion liegenden Gebietes neben den willkürlich her- vorgerufenen Vorstellungen und Vorstellungsverbindungen auch unwillkürliche. Aber auch diese gehören dem Sinn in eigentlicher Bedeutung nicht an, da auch bei ihnen keine Affektion zur Empfindung stattfindet -). An das, was ich einmal gehört oder gesehen habe, kann ich mich nachher willkürlich oder unwillkürlich erinnern. Oder, wenn ich ein Ding gesehen habe, kann ich mir nach einer bloßen diskursiven Beschreibung die anschauliche Vorstellung eines ähnlichen selbst entwerfen. Ich kann mir z. B., wenn ich nur einen gemeinen Bären gesehen habe, nach einer bloßen Beschreibung einen Eisbären vorstellen. Auch können die so gewonnenen Vorstellungen in Be- ziehungen zu einander treten und mannigfache Verbin- dungen mit einander eingellen, so daß ein inneres Spiel der 1) N. Kr. I, 133 f. 2) N. Kr. I, 134. 48 Kapitel IV. Vorstellungen entsteht, das sich unabhängig von den un- mittelbaren Sinnesempfindungen selbst erhält. In allen diesen Fällen' haben wir zwar eine Anschauung des Gegen- standes, aber ohne daß der Gegenstand selbst gegen- wärtig ist. Während wir in der Sinnesanschauung den Gegenstand als gegenwärtig erkennen, schauen wir ihn hier nur in der Einbildung an. Wir haben also neben der Sinnlichkeit und dem Verstände ein mittleres Gebiet zu unterscheiden, dasjenige der Einbildungskraft 1). Fries faßt nun alles, was zu dem allein unmittelbar in die Anschauung fallenden „empirischen Lebenszustand“ an Vorstellungen hinzukommt, unter dern Namen „Ge- dankenlauf“ zusammen. Dieser Gedankenlauf entspringt, wie sich jetzt aus dem Bisherigen ergibt, „teils aus unwill- kürlichen Gesetzen des inneren Spiels der Vorstellungen“, teils aus der willkürlichen Reflexion. Fries teilt daher (wobei er sich der Abhängigkeit von Platner bewußt ist) 8) den Gedankenlauf in den gedächtnismäßigen der Ein- bildungskraft und in den logischen des Verstandes. Der erstere wird auch als „unterer“, der letztere als „oberer“ bezeichnet 8). Naturgemäß spielen beide ineinander über. Der Ver- stand verbreitet seine Tätigkeit über den ganzen Lauf unserer Gedanken. Er bestimmt daher mittelbar auch die Gesetze des gedächtnismäßigen Gedankenlaufs nach seinen Zwecken. Wenn also in den Vorstellungen des gedächtnis- mäßigen Gedankenlaufes schon vieles von unserer willkür- lichen Bestimmung abhängig gefunden wird, so darf uns dies nicht irren. Wir haben nur stets das Gesetz im Auge zu behalten, nach welchem die jedesmaligen Veränderungen erfolgen. „Da gehören denn nur solche Gesetze dem gedächt- nismäßigen Gedankenlauf und der Einbildungskraft, nach welchen Vorstellungen innerlich unwillkürlich bewirkt oder modifiziert werden, das übrige hingegen gehört dem logi- schen Gedankenlaufe“ 4). 1) N. Kr. I, 83 f. 134. 146. 2) N. Kr. I, 135. 3) N. Kr. I, 61. 4) N. Kr. 1, 136. Digitized by Google Die Einbildungskraft. 49 Wir verstehen nun, wie Fries einerseits das Gebiet der Einbildungskraft als ein „weites Feld innerer Tätigkeit“ bezeichnet, „welches zum Teil von willkürlichen Bestim- mungen abhängt, zum Teil auch nicht“ *), andrerseits den damit zusammenfallenden „gedächtnismäßigen Gedanken- lauf“ aus unwillkürlichen Gesetzen des inneren Spiels der Vorstellungen entspringen läßt1 2). Das Willkürliche an diesen „willkürlichen Bestimmungen“ rührt nicht von der Einbildungskraft her, sondern vom Verstand, der die Rückerinnerung willkürlich lenkt oder auf künstlichem Wege eine willkürliche Kombination der Vorstellungen herbeiführt 8). Tm einzelnen haben wir von dem Gesamtbeitrag, welchen die Einbildungskraft zum Ganzen der Erkenntnis liefert, nur kurz die Bedeutung der reproduktiven Ein- bildungskraft zu charakterisieren, um dann zu dem Haupt- punkt, zu der produktiven Einbildungskraft überzugehen und zuletzt einen Überblick über das Zusammenwirken ver- schiedener Formen der Einbildungskraft zu geben. B. Die reproduktive Einbildungskraft. Einbildungen sind Anschauungen von Gegenständen ohne deren Gegenwart. Sollen solche Anschauungen mög- lich sein, so muß es eine Fähigkeit des menschlichen Geistes geben, die durch äußere Wahrnehmungen hervorgerufenen Vorstellungen aufzubewahren. Diese Fähigkeit ist das Ge- dächtnis. Das Gedächtnis ist also nichts anderes als das Vermögen, einmal gehabte Vorstellungen aufzubewahren. Nun haben wir aber jederzeit viele Vorstellungen im Gedächtnis, welche so schwach sind, daß wir uns ihrer zu einer bestimmten Zeit vielleicht mit aller Mühe nicht er- innern können, während sie uns ein andermal ungerufen einfallen. Wir müssen also auch hier die Regel des Vor- handenseins der inneren Tätigkeiten noch wohl von der Regel, nach der sie innerlich wahrgenommen werden, unter- 1) N. Kr. 1, 134. 2) N. Kr. I, 82. 3) N. Kr. I, 264. Eisenbaus, J. F. Kries und die Kantische Erkenntnistheorie. 4 Digitized by Google 50 Kapitel IV. scheiden. Das Wiederhervorkommen der verschwundenen Vorstellungen ist, für sich betrachtet, ein bloßes Phänomen vor der inneren Wahrnehmung, welches dem inneren Sinn angehört. Es war die Einseitigkeit aller bisher versuchten Theorien, daß man nur bei diesem Phänomen vor dem innern Sinn stehen blieb, und man nannte diese Erscheinungen mit Unrecht eine Reproduktion oder Wiedererzeugung der Vor- stellungen, da dieses bloße Wiedererscheinen derselben gar keine neue Erzeugung derselben voraussetzt, sondern nur ein Wieder klar werden der dunklen, aber stets vorhandenen Vorstellungen ist, das, wie wir wissen, einerseits von der erhöhten Empfänglichkeit des innern Sinnes, andererseits von der erhöhten Lebhaftigkeit der Vorstellungen abhängt. Enthält also das Gedächtnis nur den Grund der Fort- dauer der Vorstellungen, der innere Sinn den Grund dessen, daß wir uns ihrer bewußt werden, so bringt die reproduk- tive Einbildungskraft die Gesetze hinzu, nach denen jenes beständige Steigen und Fallen ihrer Lebhaftigkeit ver- ursacht wird, und von welchen also, neben gewissen sehr fein abgestuften körperlichen Einflüssen der Laune und Ge- sundheit und neben den später zu erörternden Beiträgen, welche die produktive Einbildungskraft liefert, der „ge- dächtnismäßige Gedankenlauf“ abhängig ist J). Die einzelnen Gesetze dieser „reproduktiven Ein- bildungskraft“ oder „der Stärkung und Schwächung ver- schiedener Vorstellungen durcheinander“ haben für uns kein weiteres Interesse. Sie sollen sich nach Fries in zwei Arten von Erscheinungen zusammenstellen lassen: Die Phänomene der Wiederverstärkung der Vorstellungen durch Assoziation und den Einfluß der Gewohnheit auf das innere Spiel unserer Vorstellungen -). Die Koordination beider ist keine vollständige. Wir erinnern uns, daß mit dem Wort „Gewohnheit“ ja auch die durch die Einbildungs- kraft vertretene Ausbildungsstufe überhaupt bezeichnet wurde. Es umfaßt in diesem weiteren Sinne das ganze Ge- il N. Kr. I, 136 f. 145. 161. 2) N. Kr. I, 148 f. Digitized by Google Die Einbildungskraft. 51 biet des „gedächtnismäßigen Gedankenlaufs“. Gewohnheit heißt nach Fries der „Einfluß, welchen die Wiederholung derselben aktiven oder passiven Zustände irgend eines Wesens auf die künftige Wiederentstehung dieses Zustandes hat, und dieser Einfluß besteht in der größeren Leichtigkeit, womit dieselben Veränderungen später wieder erfolgen.“ Gewohnheit ist daher in dieser weiteren Bedeutung „ein so allgemeines Gesetz, daß ihr Gebiet nicht nur das ganze innere Leben ist, sondern auch noch ein großer Teil der äußeren Natur 1). Sie gibt daher auch kein eigenes positives Prinzip zur Einbildungskraft hinzu. Die Gesetze der Asso- ziation sind vielmehr die alleinigen Grundgesetze ihres re- produktiven Vermögens, und das Gesetz der Gewohnheit in seiner besonderen Anwendung auf die Vorstellungen ist eigentlich nur ein besonderer Fall der Assoziation der Vor- stellungen, der sich in die Formel fassen läßt: „Je öfter und mit je größerer Lebhaftigkeit Vorstellungen in einem Lebens- zustande beisammen gewesen sind, desto leichter erwecken sie sich wieder aufs neue“ 2). Glücklicher als mit dieser Fassung des Verhältnisses von Gewohnheit und Assoziation ist Fries mit einer Beob- achtung, durch welche er die Bedeutung der Gewohnheit für das Verhältnis des logischen zum gedächtnismäßigen Gedankenlauf einleuchtend hervorhebt. Die innere Wirkung der Gewohnheit auf unsere Tätigkeiten beruht ganz augen- scheinlich darauf, daß eine- Tätigkeit uns mechanisch wird, „daß wir in Rücksicht derselben keinen äußern Anstoß brauchen, und nicht über das einzelne derselben erst nach- denken dürfen, sondern daß sich alles gleichsam von selbst ergibt“, was sich z. B. beim Auswendiglernen oder beim Erlernen irgend einer Fertigkeit leicht bemerken läßt. Stets kommt es hier darauf an, sich in Rücksicht einer Handlung nur im allgemeinen zu bestimmen, im einzelnen aber die bewußte Verstandestätigkeit außer Aktivität zu setzen, und die Handlung nur durch den Mechanismus 1) N. Kr. I, 166. 2) N. Kr. I, 169. Digitized by Google 52 Kapitel IV. der Vorstellungsassoziation erfolgen zu lassen, wo sie den Unterbrechungen und Fehlgriffen des willkürlich tätigen Verstandes nicht mehr ausgesetzt ist. „Es trifft hier das- selbe Verhältnis ein, nach dem ein Nachtwandler im Schlafe größere Geschicklichkeiten beweist, als er wachend im- stande ist, nach dem der einfache Naturinstinkt Tiere oft fleißiger arbeiten läßt, als Menschen der künstliche Ver- stand, indem der einfache Mechanismus der sich selbst über- lassenen Assoziation regelmäßiger wirkt, als die einer will- kürlichen Regel folgende Willkür des Verstandes“ !). Auch dadurch wird bestätigt, daß die Gewohnheit, kein eigenes positives Prinzip neben der Einbildungskraft ist, vielmehr ihre Leistung nur darin besteht, daß sie einen besonderen Einfluß auf die Assoziation übt. In Wirklichkeit sind die Gesetze der Assoziation die alleinigen Grundgesetze des re- produktiven Vermögens der Einbildungskraft. C. Die produktive Einbildungskraft. Die Friesische Lehre von der produktiven Ein- bildungskraft schließt sich zunächst eng an Kant an, modi- fiziert dieselbe aber an einigen Punkten und gibt ihr zuletzt eine entschiedene Wendung im Sinne der spezifisch Friesi- schen Unterscheidung zwischen unmittelbarer Erkenntnis und Reflexion. I. Die Kantische Lehre von der produktiven Einbildungskraft und ihre Modifikation durch Fries. Für Kant bildet den eigentlichen Ausgangspunkt seiner Lehre von der produktiven Einbildungskraft-) das, was er 1) N. Kr. I, 168 f. 2) Auf die wechselnde Rolle, welche die produktive Einbildungs- kraft in den verschiedenen Darstellungen der transzendentalen Deduk- tion der Kategorien spielt, haben wir hier nicht einzugeheu (vgl. dazu H. Vaihinger: Aus zwei Festschriften, Kantstudien VII, 1902, S. 106ff.). Für die vorliegenden Ausführungen ist ausschließlich die bedeutsame Die Einbildungskraft. 53 die „A ffinität“ der Erscheinungen nennt. Vermöge der reproduktiven Einbildungskraft sind wir imstande, Vor- stellungen zu assoziieren. Es wäre nun aber wohl denkbar, daß die Vorstellungen, in denen wir uns die Erscheinungen vergegenwärtigen, überhaupt nicht assoziabel wären. Es würde dann eine Menge Wahrnehmungen und auch wohl eine ganze Sinnlichkeit möglich sein, in welcher viel empi- risches Bewußtsein in meinem Gemüt anzutreffen wäre, aber getrennt, und ohne daß es wirklich zum Bewußtsein meiner selbst gehörte. Ich kann aber nur dadurch, daß ich alle Wahrnehmungen zu einem Bewußtsein, nämlich der ur- sprünglichen Apperzeption zähle, überhaupt von ihnen sagen, dass ich mich ihrer bewußt sei. Es muß also einen objektiven, d. h. vor allen empirischen Gesetzen der Ein- bildungskraft a priori einzusehenden Grund geben, auf welchem die Möglichkeit beruht, die Wahrnehmungen als assoziabel und nach allgemeinen Regeln durchgängig ver- knüpfbar anzusehen. Diesen objektiven Grund aller Asso- ziation der Erscheinungen nennt Kant die Affinität derselben und leitet sie ab von der Tätigkeit der produktiven Einbildungskraft, die alseine „blinde, obgleich unent- behrliche Funktion der Seele, der wir uns aber selten nur einmal bewußt sind“, jene objektive Einheit alles Bewußt- seins hervorbringt, ohne die wir überhaupt keine Erkennt- nis haben würden. Sie ist es daher, durch welche wir das Mannigfaltige der Anschauung einerseits mit der Bedingung der notwendigen Einheit der reinen Apperzeption anderer- seits in Verbindung bringen. Ohne sie wären die Kate- gorien bloße Gedankenformen, durch welche kein bestimmter Gegenstand erkannt werden könnte, die Erscheinungen aber ein zusammenhangsloses Aggregat von Wahrneh- mungen, das bloß Mannigfaltigkeit, aber keine Einheit besäße und daher jede Erfahrungserkenntnis unmöglich machen würde. Die „beiden äußersten Enden, Sinnlich- keit und Verstand“, müssen daher „vermittelst dieser tran- Stellung maßgebend, welche ihr Kant in der nun tatsächlich vorliegen- den Redaktion seiner Kritik anweist. Digitized by Google 54 Kapitel IV. szendentalen Funktion der Einbildungskraft notwendig Zu- sammenhängen“ l 2). Auch Fries weist der produktiven Einbildungskraft • eine Mittelstellung zwischen Sinnlichkeit und Verstand an. Auch er betont wie Kant*) die Abhängigkeit der produk- tiven Einbildungskraft in Ansehung des Stoffs von der re- produktiven. So reich und unerschöpflich die produktive Einbildungskraft auch sein mag, so besteht doch alles Neue, was sie hervorzubringen vermag, nur in der Zusammen- setzung und Verbindung der Vorstellungen, in einer neuen Form der Gegenstände; eigentlich schöpferisch wird sie nie. Von einem Schmerz, den ich nie empfunden habe, oder von einer Farbe, die ich nie gesehen habe, kann ich mir auch keine Einbildung schaffen 3). Aber eine Modifikation des Verhältnisses beider ist schon damit gegeben, daß Kant in derjenigen Ausgestaltung seiner Lehre von der Einbildungskraft, welche die zweite Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft darbietet, die repro- duktive Einbildungskraft, deren reproduktive Synthesis er noch in dem Abschnitt der ersten Auflage „von der De- duktion der reinen Verstandesbegriffe“ zu den „transzen- dentalen Handlungen des Gemüts“ gerechnet hatte 4), in die Psychologie verweist, da ihre Synthesis lediglich empi- rischen Gesetzen, nämlich denen der Assoziation, unter- worfen sei. Dagegen gehört die produktive Einbildungs- kraft als transzendentales Vermögen, das die Möglichkeit einer Erkenntnis a priori begründet, in die Transzendental- 1) Kritik der reinen Vernunft, Aus#, v. Kehrbach S. 133. 131 ff. 129. 95. 671 ff. 2) Anthropologie VII, 63: „Die produktive [Einbildungskraft] aber ist dennoch darum nicht schöpferisch, nämlich nicht vermögend, eine Sinnesvorstellung, die vorher unserem Sinnesvermögen nie ge- geben war, hervorzubringen, sondern man kann den Stoff zu dersel- ben immer nach weisen“, vgl. auch „Reflexionen Kants zur kritischen Philosophie“ herausg. v. B. Erdmann I, 91: „Die Einbildungskraft ist nicht produktiv in Ansehung der Empfindungen, sondern bloß [in An- sehung der] Anschauungen.“ 3) N. Kr. I, 147. 4) Kritik der reinen Vernunft S. 1 17. Die Einbildungskraft. 55 Philosophie *). Für die von Fries vertretene, die ganze Ver- nunftkritik beherrschende philosophisch-anthropologische Methode fallen beide Vermögen völlig in das Gebiet der „anthropologischen Kritik der Vernunft“ und sind Objekte der psychologischen Behandlungsweise. Eine weitere Modifikation der Friesischen Fassung der produktiven Einbildungskraft in ihrem Verhältnis zur Kantischen ergibt sich aus ihrem Verhältnis zu Raum und Zeit. Bei Kant erhält die produktive Einbildungskraft ihre Stellung erst in der transzendentalen Deduktion, in deutlich ausgeprägter Weise erst in der Fassung der zweiten Auf- lage. Nachdem zuerst Sinnlichkeit und Verstand als das den ganzen Gedankengang beherrschende Gegensatzpaar gegolten haben, tritt nun die Einbildungskraft als Mittelglied ein. Sofern aber dem produktiven Vermögen derselben die Aufgabe zugewiesen wird, durch eine unbewußte Synthesis des Mannigfaltigen der sinnlichen Anschauung die Möglich- keit „einer Assoziation der Erscheinungen“ objektiv zu be- gründen, gehört sie nach der einen Seite ihrer Grund- funktion zur Sinnlichkeit *) und hätte eigentlich bereits in der Lehre vom Raum und von der Zeit ihre Stelle. Auch nach Kant ist es die produktive Einbildungskraft, welche die Gestalten im Raum verzeichnet s), und ihr Produkt sind geometrische Figuren, wie z. B. das Dreieck* * 4 S.). Aber es verhält sich bei Kant mit diesem produktiven Vermögen wie mit der aktiven Seite der Sinnlichkeit überhaupt. Wie die Sinnlichkeit erst in der transzendentalen Analytik als aktives Prinzip erscheint, das mit dem Verstand unter den allgemeinen Begriff der Synthesis als der spontanen Einheit des Mannigfaltigen fällt 6), ohne daß darnach die transzen- dentale Ästhetik, für welche der Gegensatz Sinnlichkeit — Verstand mit dem von Rezeptivität und Spontaneität zu- sammenfällt, umgestaltet würde, so spielt auch die produk- 1) Kr. d. r. V. S. 673. 2) Kr. d. r. V. S. 672. 3) a. a. 0. S. 155. 4) a. a. 0. S. 206. h) Windelband, Geschichte der neueren Philosophie. 2. Aufl. IT, S. 57. Geschichte der Philosophie, 2. Aufl., 1900, S. 439 (Anmerk.). 66 Kapitel IV. tive Einbildungskraft ihre Holle nur als ein nachgeborencs Kind der Kantischen Systematik, ohne daß ihre Bedeutung für die Lehre von Raum und Zeit in den grundlegenden Ausführungen zur Geltung kommt. Anders bei Fries. Bei ihm erscheint die produktive Einbildungskraft sofort als das „Vermögen der anschau- lichen Verbindung“, der mathematischen Anschauung oder der formalen Anschauung, der z. B. die Vorstellungen von der Größe, Lage und Gestalt der Dinge im Raum an- gehören. Ihr scharf umgrenztes Gebiet ist das Gebiet der reinen Mathematik in ihrem ganzen Umfange. Während die reproduktive Einbildungskraft ihren Einfluß nicht bloß auf das Anschauliche beschränkt, ist die produktive ein bloßes Vermögen der Form an der Anschauung. Als solches trat sie schon bei der Betrachtung der äußeren Sinnes- anschauungen hervor. Von ihr stammt die vereinigende Anschauung, durch welche uns die Erkenntnis der Körper als Materie im Raume und in der Zeit erst möglich wird. Während mich nämlich die einzelne Empfindung den Gegen- stand nur erkennen läßt nach dem, was er für mich, den anschauenden Geist, ist, zeigt ihn uns jene vereinigende Anschauung so, wie die Gegenstände außer uns in ihrem Verhältnisse gegeneinander sind. Die anschauliche syn- thetische Einheit der Dinge in Raum und Zeit ist also das Eigentum der produktiven Einbildungskraft 1). Fries bespricht daher auch die Lehre von Raum und Zeit in demjenigen Teil seiner „Neuen Kritik der Vernunft“, welcher von der produktiven Einbildungskraft handelt. Von den drei Bedingungen, welche in jeder vollständigen Anschauung als sinnlicher Erkenntnis Zusammenkommen, erstens der Empfindung, zweitens der Beziehung der An- schauung in der Empfindung auf die Vorstellungen von Raum und Zeit und drittens der Verbindung oder synthe- tischen Einheit des in der Anschauung gegebenen Mannig- faltigen vermittelst der Beziehungen desselben auf die Vor- 1) N. Kr. I, 146 f., 170 ff. Digilized by Google Die Einbildungskraft. 57 Stellungen von Raum und Zeit, fallen die beiden letzteren in das Gebiet der produktiven Einbildungskraft. So werden zuerst die Vorstellungen von Raum und Zeit näher betrachtet und als Ergebnis der Satz aufgestellt: „Die Anschauungen von Raum und Zeit entspringen nicht durch die Empfindung und deren Sinnesanschauungen, sondern aus einer Grundbestimmung des Geistes, welche nicht erst durch die Empfindung gegeben wird, und die Anschauung derselben unterscheidet sich als reine Anschauung von aller Sinnesanschauung“ *). Der Beweis hierfür wird für 1) N. Kr. I, 177. Auffallend ist, wie Fries in diesem Zusammen- hang, wie in seiner Erkenntniskritik überhaupt den Kantischen Ter- minus a priori fast völlig vermeidet. Dieser Umstand wird uns ver- ständlicher, wenn wir die Ausführungen in Betracht ziehen, mit wel- chen er in seinem System der Logik. S. H22 f., die Erkenntnis a poste- riori und a priori charakterisiert, und deren wenig glückliche Formu- lierung sie für eine zentrale Stellung in der Erkenntnislchre weuig brauchbar erscheinen Hißt. Die Einteilung der Erkenntnisse in Er- kenntnis a posteriori und a priori soll sich aus der Verbindung des Unterschiedes der intuitiven und disknrsiven Erkenntnis mit dem der assertorischen und apodiktischen ergeben. Der Unterschied der assertorischen und apodiktischen Erkenntnis geht auf den Unterschied in unserer unmittelbaren Erkenntnis, ob Erkenntnisse nur aus sinn- lichen Anregungen oder aus der reinen Selbsttätigkeit der Vernunft entsprungen sind. Derjenige zwischen intuitiver und diskursiver (ratio- naler) Erkenntnis gehört dagegen nur dem Vermögen des Bewußt- seins oder der inneren Selbstbeobachtung. Intuitiv ist die Erkenntnis, die uns ganz durch Anschauung zum Bewußtsein kommt, diskursiv diejenige, deren wir uns mit Hilfe der Reflexion bewußt werden. Nun heißt die Erkenntnis eines Gegenstandes a posteriori, wenn sie sich darauf beruft, daß mir der Gegenstand schon in der Anschauung ge- geben sei, wie z. B. jede Erzählung vergangener Begebenheiten; die Erkenntnis eines Gegenstandes heißt hingegen a priori, „wenn ich sie besitze, ehe mir ihr Gegenstand in der Anschauung gegeben ist“. Demnach ist jede, aus der Sinnesanschauung entspringende, (also in- tuitive) Erkenntnis und assertorische Erkenntnis eben damit a poste- riori; und jede apodiktische diskursive Erkenntnis a priori. Durch die- ses Zusammenfällen der apriorischen und der diskursiven Erkenntnis und die Beziehung der letzteren auf die Reflexion (die auch zum Be- wußtwerden der Allgemeinheit und Notwendigkeit mathematischer Erkenntnis notwendig sein soll) kommt in die ganze Terminologie Digitized by Google 58 Kapitel IV. Raum und Zeit gemeinsam im ganzen mit den Argumenten der Kantischen transzendentalen Ästhetik geführt. Nur fehlt das dritte Argument, das nach Kants eigener Erklärung (der er auch in der 2. Auflage, wenigstens der Raumlehre, Folge gegeben hat) in die „transzendentale Erörterung“ gehört, völlig, das zweite, vierte und fünfte werden nicht eigentlich als Beweismittel, sondern als „Beschreibung“ der Vorstel- lungen von Raum und Zeit eingeführt, und der tatsächliche Beweis, daß diese Vorstellungen aus einer Grundbestimmung des Geistes entspringen, welche nicht erst durch die Em- pfindung gegeben wird, und daß die Anschauung derselben sich als reine Anschauung von aller Sinnesanschauung unter- scheidet, wird erst nachträglich im Anschluß an das erste Kantische Argument geführt *). Außerdem wird hierbei noch als ein „neuer Grund“ hervorgehoben, daß die Vorstellungen von Raum und Zeit als reine Anschauungen in ihrer Unend- lichkeit, Stetigkeit und Notwendigkeit weit über das in aller Sinnesanschauung Gegebene hinausgehen, während wir durch die auf den Augenblick ihrer Gegenwart beschränkte einzelne Anschauung nur das unmittelbar Wirkliche erken- nen. Die Schärfe der mathematischen Zeichnung, Punkt, Linie und Fläche des Geometers, die Stetigkeit und Unend- lichkeit des Raumes und der Zeit sind gar keine Gegen- stände der Beobachtung, der Erfahrung, der Sinnesan- schauung. „Die Gewißheit, mit der wir rückwärts in die Ver- gangenheit, vorwärts in die kommende Zukunft schauen, die Gewißheit, mit der wir hinter jeder Grenze von der Erweiterung des Raumes über sie hinaus überzeugt sind, kann gar nicht der Sinnesanschauung gehören, denn in der liegt nichts davon, sie kommt einzig der reinen Anschauung der produktiven Einbildungskraft zu, welche nicht nur auf das einzelne Wirkliche beschränkt ist, sondern sich in jeder Lehre der reinen Mathematik zur Anschaulichkeit allge- meiner Gesetze erweitert“2). etwas Schiefes, das einer ausgebreiteten Anwendung des Begriffes nicht günstig sein konnte. 1) N. Kr. I, 172 ff. 2) N. Kr. I, 178 f. Digitized by Google Die Einbildungskraft. 59 II. Die produktive Einbildungskraft und die Sinnestäuschungen. In dieser produktiven Einbildungskraft haben aber nicht bloß die reinen Anschauungen von Raum und Zeit ihren Ursprung, sondern ihr fällt auch die Aufgabe zu, die Gegenstände selbst nach Dauer, Größe, Gestalt, Lage und Entfernung zu bestimmen, d. h. die Vorstellung der figürlichen synthetischen Einheit der Gegenstände zu liefern. Die Dinge werden uns nämlich in der Sinnesan- schauung nicht als in Zeit und Raum konstruiert, sondern nur unter den Bedingungen einer jederzeit möglichen Kon- struktion derselben in Zeit und Raum gegeben. Wäre das erstere der Fall, so müßten schon aus jeder einzelnen Wahr- nehmung als solcher Gestalt, Entfernung und alle Verhält- nisse der Lage eines Dinges im Raum, sowie die Zeitbestim- mungen sich abnehmen lassen. Dies trifft aber nicht zu, wir können vielmehr diese Bestimmungen erst aus der Ver- gleichung mehrerer Wahrnehmungen durch Reflexion er- halten, was bei der Zeitbestimmung ohne weiteres einleuch- tet, wo wir, ohne die Uhr in der Hand zu haben, oder nach der Sonne zu sehen, kaum um die Dauer einer Viertelstunde be- stimmt wissen; was aber auch für die Konstruktion im Raume z. B. bei der Vorstellung der Tiefendimension deut- lich hervortritt. Hier berührt Fries einen Punkt, an welchen die Kritik der Kantischen Raumlehre mehrfach angeknüpft hat, die Frage, die hauptsächlich von Herbart formuliert, aber auch schon früher, besonders in Eberhards „Philosophischem Magazin“ erhoben wurde1): Woher kommen die bestimmten Gestalten, die bestimmten Orte bestimmter Dinge, wenn den Empfindungen bloß eine a priorische Raumanschauung ohne Anhaltspunkte für die Art der Einordnung der Gegen- stände in dieselbe „zugrunde liegt“? Fries verfolgt aber 1) Vaihinger, Kommentar 7,u Kants Kritik der reinen Vernunft II, 180. Digitized by Google 60 Kapitel IV. diese positive Seite der Sache nicht weiter, sondern wendet sich der negativen zu, um seinen Lieblingsgegensatz zwischen Reflexion und unmittelbarer Erkenntnis auch an der produktiven Einbildungskraft zu entwickeln. Wenn nach Kant alle Erscheinungen in einer durch- gängigen „transzendentalen Affinität“ stehen, welche den im Objekte liegenden Grund der Möglichkeit der Assoziation des Mannigfaltigen enthält, und aus welcher die em- pirische Affinität die bloße Folge ist1), und wenn diese Affi- nität ein Werk der unbewußt schaffenden produktiven Ein- bildungskraft ist, so fragt es sich, wie denn überhaupt Sin- nestäuschungen möglich sind. In den Vorstellungen der Sinne kann der Irrtum nicht liegen, denn keine Kraft der Natur kann von selbst von ihren eigenen Gesetzen ab- weichen ; aber auch nicht im Verstand, da wenn er bloß nach seinen Gesetzen handelt, die Wirkung ) nachzuweisen bemüht, analytischer Art. Sie sind Zer- gliederungen gegebener Begriffe. Hier gehen die Begriffe, wenn auch nur verworren, voran, und es ist vielfältiger Irr- tum möglich, entweder indem Merkmale hineingebracht werden, die wirklich nicht im Begriffe lagen, oder Merkmale fehlen, die hineingehören. Ich werde daher bei solchen a priori gegebenen Begriffen, z. B. dem der Substanz, der Ur- sache, des Rechts, der Billigkeit niemals sicher sein, daß die deutliche Vorstellung einessolchen nur verworren gegebenen Begriffs mit voller Ausführlichkeit und Präzision entwickelt worden ist. Es findet daher genau genommen hier nur eine Annäherung an die eigentliche Definition statt. Kant will des- halb solche philosophische Erklärungen der Begriffe lieber Erörterungen oder Expositionen nennen. Auch eine solche unvollständig bleibende Exposition ist aber doch „als Teil einer Definition eine wahre und brauchbare Darstellung eines Begriffs“. Die Definition schwebt hier stets vor als „die Idee einer logischen Vollkommenheit, die wir zu er- langen suchen müssen“ 8). Wenn nun aus dem Bisherigen sich ergibt, daß Kant in der „Erörterung“ eine analytische Erklärung gegebener Begriffe sieht und diese Bedeutung sowohl für die metaphy- sische als für die transzendentale Erörterung gilt8), so muß es zweifelhaft erscheinen, ob unter diesen Umständen noch von einem Parallelismus mit dem Verhältnis der metaphy- sischen zur transzendentalen Deduktion die Rede sein kann, wo doch die letztere als „Rechtfertigung“ von der ersteren 1) S~ W. I, § l, S. 79 ff. 2) Kr. d. r. V. 559 f., Logik § 105. S. W. III, 331 f. 3) Wobei freilich die Schwierigkeit entsteht, daß hier der Be- griff der (analytischen) Erörterung gerade auf die der konstruierenden und synthetischen Mathematik zugrunde liegende Anschauung an- gewandt wird. Die Lösung liegt darin, daß der grundlegende Nach- weis der Möglichkeit der Mathematik nicht dieser selbst, sondern der Transzendentalphilosophie zukommt. Kr. d. r. V. 562. . Digitized by Google Die Reflexion. 171 als bloßem Aufweis des a priori sich deutlich abhebt. Die genauere Untersuchung zeigt jedoch, daß die Übertragung des Expositionsbegriffs auf die „transzendentale Erörterung“ eigentlich doch nur eine scheinbare ist. Der Form nach kann ja allerdings Kant die transzendentale Erörterung als „Er klärung eines Begriffs“ bezeichnen. Aber wenn dieser Be- griff ein Prinzip ist, woraus die Möglichkeit anderer synthe- tischer Erkenntnisse a priori eingesehn werden kann, und wenn nachgewiesen werden soll, daß „diese Erkenntnisse nur unter der Voraussetzung einer gegebenen Erklärungsart dieses Begriffes möglich siud“, so ist dieser Nachweis selbst doch nicht bloß analytische Erklärung, sondern ein Beweis- verfahren1 2). Es lässt sich auch vermuten, weshalb Kant sich veranlaßt sah, auf diese künstliche Weise den Begriff der transzendentalen Erörterung einzuführen. Die Aufgabe einer Erklärung des „Begriffs*) vom Raume“ als eines Prin- zips der Möglichkeit synthetischer Erkenntnisse a priori, durch welches der Begriff der Objekte a priori bestimmt werden soll, mußte, von der transzendentalen Logik aus ge- sehen, die Frage erwecken, ob denn nun damit die objektive Giltigkeit dieser Prinzipien (des Raumes und der Zeit) end- giltig erwiesen sei und was für eine Funktion dann der tran- szendentalen Deduktion der Kategorien in dieser Hinsicht zufallen könnte. Indem aber Kant auch diesen Nachweis, daß auf Grund der Raum- und Zeitanschauung synthetische Urteile a priori möglich seien, als „Exposition“ bezeichnete, indem er dieser Grundlegung einer Synthesis noch den Cha- rakter einer analytischen Erklärung zu geben suchte, wollte er jede Antizipation der eigentlichen Deduktion ausschlies- sen, wobei freilich die Beschränkung auf die bloße analy- tische Erklärung nur dem Namen nach vorhanden war. Bei der „metaphysischen Deduktion“ dagegen 1) Vgl. auch Vaihinger, Kommentar II, 155. 2) Begriff im allgemeinsten Sinne des Wortes genommen, da ja das vierte und fünfte Raumargumcnt gerade darauf gerichtet ist, uachzuweisen, daü der Kaum kein Begriff (im engeren Sinne), sondern eine Anschauung sei. Digitized by Google 172 Kapitel V. verhielt es sich umgekehrt. Wie dort der eigentlich nur der analytischen Erklärung zukommende Begriff der Erörterung auch auf den Nachweis der Möglichkeit synthe- tischer Erkenntnisse a priori übertragen wurde, so hier der eigentlich nur auf den Beweis der objektiven Giltigkeit an- zuwendende Begriff der Deduktion auf die bloße „Entdeckung der Verstandesbegriffe“. Allerdings wirkt bei der letzteren, der metaphysischen Deduktion noch der Umstand mit, daß hier der Aufweis des a priori nicht bloß als analytische Erklä- rung auftritt, sondern durch die Ableitung aus den logischen Funktionen des Urteiiens gestützt wird. Es ist aber doch nur die „Entdeckung“, nicht die „Rechtfertigung“ der reinen Ver- standesbegriffe, um die es sich hier handelt. Was die Tafel der Urteile liefert, ist nur der „Leitfaden“ für die Entdeckung der Kategorien. Bei der Tätigkeit eines Erkenntnisvermö- gens tun sich verschiedene Begriffe von selbst hervor, die dann mit Hilfe einer länger und mit Scharfsinn angestellten Beobachtung gesammelt werden können. Aber bei diesem Verfahren ist weder eine Garantie für Vollständigkeit der Aufzählung noch Ordnung und systematische Einheit zu er- langen. Dies ist nur möglich mit Hilfe jenes „Leitfadens“ der Urteilsfunktion *). Die letztere ist aber doch nur ein „Leitfaden“ im Gegensatz zu dem Prinzip der Mög- lichkeit der Erfahrung, durch welches die Kategorien ihre „Rechtfertigung“ finden. Das Wesentliche ist die Auf- findung und Darlegung des a priori, und die metaphysische Deduktion kommt damit der „metaphysischen Erörterung“ sehr nahe, deren Aufgabe ist: die „deutliche Vorstellung“ dessen, „was den Begriff, als a priori gegeben, darstellt“. Die enge Berührung mit dem Begriff der Exposition verrät sichauch darin, daß das völlig parallele Verfahren so- wohl in der Kritik der praktischen Vernunft als in der Kritik der Urteilskraft als „Exposition“ bezeichnet wird. In der ersteren lesen wir*): „Die Exposition des obersten Grundsatzes der praktischen Vernunft ist nun ge- 1) Kr. d. r. V. 87. 2) Kritik der prakt. Vernunft, Ausg. v. Kehrbach 56. Digitized by Google Die Reflexion. 173 schehen, d. i. erstlich, was er enthalte, daß er gänzlich a priori und unabhängig von empirischen Prinzipien für sich bestehe, und dann, worin er sich von allen anderen prak- tischen Grundsätzen unterscheide, gezeigt wordenu. Auf sie hat zu folgen die „Deduktion“, d. h. die „Rechtfertigung seiner objektiven und allgemeinen Giltigkeit und der Ein- sicht der Möglichkeit eines solchen synthetischen Satzes a priori4. Auch die Exposition der Geschmacksurteile, d. h. die Erörterung „dessen, was in ihnen gedacht wird4 geht der De- duktion, d. h. „der Rechtfertigung des Anspruches eines dergleichen Urteils auf allgemein-notwendige Giltigkeit4 voraus und beide zusammen, die Exposition und die Deduk- tion, machen die gesamte Aufgabe der ästhetischen Urteils- kraft aus *). Das Verfahren Kants in den drei Kritiken, so wie er es selbst methodologisch aufgefaßt wissen will, zerfällt also stets in zwei Stadien, deren erstes die Aufzeigung und Darstellung des Apriori in seiner Verschiedenheit von allem Empirischen enthält, während im zweiten die Rechtfer- tigung der allgemein-notwendigen Giltigkeit gegeben wird. Die Art der Durchführung in beiden Stadien ist sehr ver- schieden, aber grundsätzlich handelt es sich in dem ersten Stadium stets um das, was schon für die „metaphysische Erörterung4 charakteristisch ist, den Aufweis eines tatsäch- lich vorhandenen Apriori in seinem Unterschied von allem Empirischen. Damit haben wir nun die Grundlage gewonnen für die Beantwortung der Frage, wie sich der Deduktionsbe- griff von Fries zu der „metaphysischen Deduktion4 Kant 8 und zu dessen analogem Begriff der metaphysischen Erörterung verhält. Zunächst legt die empirisch-psychologische Richtung, welche der Friesischen Erkenntnistheorie gewöhnlich als Hauptmerkmal zugeschrieben wird, den Gedanken nahe, es 1) Kritik der Urteilskraft § 30. S. W. IV, 140. 174 Kapitel V. möchte das, was Fries unter Deduktion versteht, nichts anderes sein, als der empirisch- psychologische Nachweis des Vorhandenseins des Apriori, also in demselben Gegen- satz zur transzendentalen Deduktion Kants stehen, wie bei diesem die „metaphysische Deduktion“. In Wirklichkeit trifft dies keineswegs zu. Denn die Deduktion ist nach Fries eine Art der Begründung, die als solche gleichberech- tigt neben Demonstration und Beweis tritt, und sie besteht darin, daß aus einer Theorie der Vernunft abgeleitet wird, welche ursprüngliche Erkenntnis wir notwendig haben müssen, und was für Grundsätze daraus notwendig für un- sere Vernunft entspringen. Dagegen findet sich ein anderer Begriff bei Fries, wel- cher in nächster Beziehung zu Kants „metaphysischer De- duktion“ steht. Es ist der später näher zu erörternde der Spekulation. Unter Spekulation versteht Fries das „re- gressive Verfahren, durch welches wir uns unserer reinen Vernunfterkenntnisse bewußt werden“ *). Diese reinen Ver- nunfterkenntnisse sind aber teils mathematische, teils philo- sophische. Wenn nun auch innerhalb dieser beiden Klassen das spekulative Verfahren ein sehr verschiedenes ist, so gilt doch für beide das charakteristische Merkmal der Spe- kulation, daß wir uns durch sie „nur dessen deutlich bewußt werden, was immer schon in jedes Menschen dunkler Vor- stellung begründet ist“. Die Spekulation hebt aus dem gemeinen Verstandes- gebrauch die allgemeinsten apodiktischen Gesetze der Ma- thematik und Philosophie abstrahierend heraus, deren wir uns in der einzelnen Anwendung täglich bedienen und be- reitet sie dadurch für die Deduktion vor 2). WTir können also, indem wir damit unsere Besprechung des Verhältnisses des Kantischen Begriffes der „metaphy- sischen Deduktion“ zum Friesischen Üeduktionsbegriff ab- schließen, von der „Spekulation“ schon jetzt so viel sagen, daß Fries unter diesem Namen die beiden Verfahrungs- 1) Grundriß der Logik 129. Logik 537 ff. 2) N. Kr. 1, 337. Digilized by Google Die Reflexion. 175 weisen zusammengefaßt, welche Kant „metaphysische Er- örterung“ und „metaphysische Deduktion“ nennt. Damit sind aber die Arten des Kantischen Deduktions- begriffs noch nicht erschöpft. Es findet sich bei Kant noch eine Fassung desselben, welche in näherer Beziehung zur Friesischen Deduktion steht als alle bisherigen Modifika- tionen des Begriffes. 4. Die „subjektive Deduktion“. a) Die subjektive Deduktion der reinen Verstandes- begriffe bei Kant. In der Vorrede zur ersten Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft spricht Kant von der Wichtigkeit und Schwierigkeit der „Deduktion der reinen Verstandesbegriffe“ und führt dann den Begriff der „subjektiven Deduktion“ mit folgenden Worten ein: „Diese Betrachtung, die etwas tief angelegt ist, hat aber zwei Seiten. Die eine bezieht sich auf die Gegenstände des reinen Verstandes und soll die Giltigkeit seiner Begriffe a priori dartun und begreiflich machen; eben darum ist sie auch wesentlich zu meinen Zwecken gehörig. Die andere geht darauf aus, den reinen Verstand selbst, nach seiner Möglichkeit und den Erkennt- niskräften, auf denen er selbst beruht, mithin ihn in sub- jektiver Beziehung zu betrachten, und, obgleich diese Er- örterung in Ansehung meines Hauptzwecks von großer Wichtigkeit ist, so gehört sie doch nicht wesentlich zu dem- selben, weil die Hauptfrage immer bleibt, was und wie viel kann Verstand und Vernunft, frei von aller Erfahrung, er- kennen, und nicht, wie ist das Vermögen zu denken selbst möglich? Da das letztere gleichsam eine Aufsuchung der Ursache zu einer gegebenen Wirkung ist, und insofern etwas einer Hypothese Ähnliches an sich hat (ob es gleich wie ich bei anderer Gelegenheit zeigen werde, sich in der Tat nicht so verhält), so scheint es, als sei hier der Fall, da ich mir die Erlaubnis nehme, zu meinen, und dem Leser Digilized by Google 176 Kapitel V. auch frei stehen müsse, anders zu meinen. In Betracht dessen, muß ich dem Leser mit der Erinnerung zuvor- kommen: daß im Fall meine subjektive Deduktion nicht die ganze Überzeugung, die ich erwarte, bei ihm gewirkt hätte, doch die objektive, um die es mir hier vornehmlich zu tun ist, ihre ganze Stärke bekomme, wozu allenfalls dasjenige, was Seite 92 bis 93 gesagt wird, allein hinreichend sein kann“ 1 2). Es erhebt sich die Frage, wo eigentlich Kant diese subjektive Deduktion gegeben hat, da sich nur aus der tat- sächlichen Ausführung ein deutliches Bild dieses subjektiven Verfahrens gewinnen ließe. B. Erdmann*) spricht die An- sicht aus, Kants Hinweis auf den Gedankengang der objek- tiven Deduktion, der schon in dem einleitenden Abschnitt ausgesprochen sei, ferner seine Andeutungen über die Be- deutung der ersten Ausführungen der Deduktion selbst, end- lich die inhaltliche Vergleichung dieser Ausführungen mit dem letzten Abschnitt derselben zeigen zur Genüge, daß die objektive Deduktion in dem ersten und dritten, die subjek- tive Deduktion in dem zweiten Abschnitt des ganzen Haupt- stücks zu suchen sei. Nur sei diese Trennung, wie von vorn- herein zu erwarten sei, keine strenge. Der zweite Abschnitt enthalte die objektive Deduktion ebenfalls, nur trete die Be- ziehung auf die Frage nach den subjektiven oder, wie wir sagen würden, psychologischen BedingungenderVerstandes- erkenntnis bestimmter in den Vordergrund. Umgekehrtes gelte von dem dritten Abschnitt. Erdmann hat also selbst die Verteilung der objektiven und subjektiven Deduktion auf die drei Abschnitte bedeutend eingeschränkt, indem er nur von einem Vorwiegen des einen oder des andern sprach. Wir werden noch weiter gehen müssen. Nach Kant selbst haben wir darin zwei Seiten, nicht zwei gesonderte Teile der Deduktion der reinen Ver- standesbegriffe zu sehen. Nicht bloß im zweiten, sondern 1) Kr. d. r. V., 8f. 2) Benno Erdmann, Kant« Kritizismus in der ersten und in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, Leipzig 1878, S. 24. Digitized by Google Die Reflexion. 177 auch im dritten Abschnitt durchzieht jene Betrachtung des reinen Verstandes selbst, nach seiner Möglichkeit und den Erkenntniskräften, auf denen er selbst beruht, also die Be- rücksichtigung der subjektiven Seite die ganze Beweis- führung. Kant hat daher auch die beiden Abschnitte, in welchen die Verbindung der subjektiven mit der objektiven Deduktion ihm bedenklich erschien, samt dem psychologi- schen Schluß des ersten Abschnitts durch eine vollstän- dige Neubearbeitung ersetzt. In dem ersten Abschnitt aber, „von den Prinzipien einer transzendentalen Deduktion“ l) ist von der subjektiven De- duktion überhaupt nicht die Rede. Wenn Kant in diesem Abschnitt den Versuch als völlig verfehlt ablehnt, durch die an sich mögliche und innerhalb ihrer Grenzen berechtigte „physiologische Ableitung“ eine Deduktion der reinen Be- griffe a priori zu geben*), und eine solche empirische De- duktion zu den eitelen Versuchen rechnet, womit sich nur derjenige beschäftigen kann, welcher die ganz eigentüm- liche Natur dieser Erkenntnisse nicht begriffen hat3), so kann er nicht von demselben Verfahren sagen, wie es in dem Ab- schnitt über die subjektive Deduktion geschieht, daß diese Erörterung in Ansehung seines Hauptzwecks von großer Wichtigkeit sei, und daß, im Fall seine subjektive Deduktion nicht die ganze Überzeugung, die er erwarte, bei ihm ge- wirkt hätte, doch die objektive, um die es ihm hier vornehm- lich zu tun sei, ihre ganze Stärke bekomme4). Wir müssen vielmehr annehmen, daß die in der subjektiven Deduk- tion zu gebende Antwort auf die Frage: „Wie ist das Ver- mögen zu denken selbst möglich?“ etwas anderes ist als die in der „physiologischen Ableitung“ versuchte „Erklärung des Besitzes einer reinen Erkenntnis“. 1) Kr. d. r. V. S. 103 ff. 2) Vgl. die frühere Ausführung über das Verhältnis der „em- pirischen Deduktion“ und der „physiologischen Ableitung“. 3) Kr. d. r. V. 105. 4) Kr. d. r. V. 8 f. Auch Riehl scheint (der philosophische Kritizismus I, 372 ff.) die Identität der „physiologischen Ableitung“ und der „subjektiven Deduktion“ vorauszusetzen. Eisenbaus, J. F. Fries uud die Kultische Erkenntnistheorie. 12 Digitized by Google 178 Kapital V. b) Die Deduktion der Ideen bei Kant. Diese Auffassung findet ihre Bestätigung darin, daß es nach Kant auch eine „subjektive Deduktion“ der Ideen gibt. Kants wahre Meinung aus den verschiedenen Stellen zu erkennen, ist allerdings auch hier dadurch er- schwert, daß der Begriff „transzendentale Deduktion“ in ver- schiedener Bedeutung gebraucht ist. Von den transzendentalen Ideen ist nach Kant zwar eigentlich keine objektive oder transzendentale Deduktion möglich, wie von den Kategorien J). Denn als Ideen haben sie keine Beziehung auf ein Objekt, das ihnen kongruent ge- geben werden könnte. Aber eine „subjektive Ablei- tung derselben aus der Natur unserer Vernunft“ kann unternommen werden und wurde von Kant geleistet, indem er zeigte, wie durch die eigentümliche Funktion der Vernunft, nämlich das Schluß verfahren aus dem obersten Grundsätze der reinen Vernunft, daß, wenn das Bedingte gegeben ist, auch die ganze Reihe einander untergeordneter Bedingungen, mithin das Unbedingte, gegeben sein muß, die transzendentalen Ideen abgeleitet wTerden können. Diese subjektive Deduktion der Ideen findet nun aber eine eigentümliche Ergänzung durch die Deduktion der Ideen als „regulativer Prinzipien“. Hält man sich rein an den Wortlaut, so findet ein völliger Widerspruch zwischen den Äußerungen Kants an den verschiedenen Stellen statt. Während er früher bewiesen zu haben glaubt, daß eine transzendentale Deduktion in Ansehung der Ideen jederzeit unmöglich ist, hält er jetzt eine transzendentale Deduktion derselben für notwendig. „Man kann sich eines Begriffs a priori mit keiner Sicherheit bedienen, ohne seine transzendentale Deduktion zustande gebracht zu haben. Die Ideen der reinen Vernunft verstatten zwar keine Deduk- tion von der Art, als die Kategorien ; sollen sie aber im min- desten einige, wenn auch nur unbestimmte objektive Giltig- 1) Kr. d. r. V. 289, 517. Digitized by Google Die Reflexion. 179 keit haben und nicht bloß leere Gedankendinge (entia rationis ratiocinantis) vorstellen, so muß durchaus eine De- duktion derselben möglich sein, gesetzt, daß sie auch von derjenigen weit abwiche, die man mit den Kategorien vor- nehmen kann“. Kant sieht darin sogar die „Vollendung des kritischen Geschäftes der reinen Vernunft“ und liefert die- selbe dadurch, daß er zeigt, wie diese transzendentalen Ideen, die psychologische, kosmologische und theologische zwar nicht als konstitutive Prinzipien unsere Erkenntnis über Gegenstände zu erweitern vermögen, aber als regula- tive Prinzipien unserer empirischen Erkenntnis des Mannig- faltigen systematische Einheit geben. Da ein unvermeidliches Bedürfnis der Vernunft eine solche Einheit fordert, so ist es eine notwendige Maxime der Vernunft, nach dergleichen Ideen zu verfahren. Kant selbst bezeichnet dies als die „transzendentale Deduktion aller Ideen der spekulativen Vernunft“ *). Da die „transzendentale Deduktion“ im eigentlichen Sinne des Wortes nach Kant die Erklärung der Art ist, wie sich Begriffe a priori auf Gegenstände beziehen, die tran- szendentalen Ideen aber auf keinen ihnen korrespondie- renden Gegenstand und dessen Bestimmung direkt bezogen werden, so kommt hier dieser Terminus nur in einer et- was allgemeineren Bedeutung zur Anwendung. Eine ge- wisse Berechtigung dafür liegt ja doch darin, daß, wenn die Ideen uns auch nicht zeigen, wie ein Gegenstand be- schaffen ist, sie uns doch Anleitung geben, wie wir die Beschaffenheit und Verknüpfung der Gegenstände der Er- fahrung überhaupt zu suchen haben. Wenn z. B. die ob- jektive Realität des Begriffes einer höchsten Intelligenz auch nicht darin bestehen kann, daß er sich direkt auf einen Gegenstand bezieht, so liegt der Erkenntniswert die- ser Idee doch darin, daß die Dinge der Welt so betrachtet werden, als ob sie von einer höchsten Intelligenz ihr Dasein hätten. Durch diese Deduktion der Ideen als regulativer 1) Kr. d. r. V. 522. Digitized by Google 180 Kapitel V. Prinzipien wird ihnen daher auch wenigstens „einige, wenn auch nur unbestimmte objektive Giltigkeit“ gesichert *). Es trifft dies völlig zusammen mit dem, was Kant von der sub- jektiven Deduktion der Verstandesbegriffe sagt, indem er die Möglichkeit offen läßt, daß derselbe beim Leser nicht die „ganze Überzeugung wecken“ könnte. Halten wir nun Kants Lehre von der subjektiven De- duktion der Ideen zusammen mit seinen Ausführungen über die subjektive Deduktion überhaupt, so wird es völlig ein- leuchtend, daß die letztere nicht mit der „physiologischen Ableitung“ identisch sein kann. Sie ist mehr. Sie ist eine Ableitung „aus der Natur der Vernunft“ und sie wird, indem sie zeigt, wie die transzendentalen Ideen zur Befriedigung eines unabweisbaren Vernunftbedürfnisses dienen, sogar in gewissem Sinne zur „transzendentalen Deduktion“. c) Die subjektive Seite der Deduktion bei Fries und Kant. Hier ist der Punkt, wro sich der Friesische Deduk- tionsbegriff am nächsten mit dem Kantischen be- rührt. Auch für Fries ist die Deduktion keine bloße „Er- klärung des Besitzes einer reinen Erkenntnis“, sondern eine Begründung der philosophischen Grundsätze durch Ab- leitung aus einer Theorie der Vernunft. Nur wird für Fries diese Deduktion überhaupt die einzig mög- liche und besitzt daher für Kategorien wie für Ideen die- selbe Giltigkeit. Für die Ideen muß sich so gut wie für die Verstandesbegriffe der Ursprung der Einheitsformen aus dem Wesen unserer Vernunft nachweisen lassen. Kant mußte sich auf eine Deduktion der Kategorien beschränken, da er die anschauliche Erkenntnis als die allein für sich selbst ge- sicherte ausah und daher für jede aus bloßer Vernunft ent- springende Erkenntnis einen aus dieser selbst abzuleitenden Berechtigungsgrund forderte. Dies war für die Kategorien wohl möglich, wreil durch sie jene Anschauung eben erst zum 1) Kr. d. r. V. 517, 521. Digitized by Google Die Reflexion. 181 Ganzen der Erfahrung wird, aber für die Ideen nur in sehr unvollständiger Weise, weil für sie in der Erfahrung kein Gegenstand sich findet1 2 3). Anders bei einer Deduktion, welche nur subjektive Ableitung aus dem Wesen der Ver- nunft sein will. Da es unserer Vernunft jederzeit unmöglich ist, gleichsam aus sich selbst herauszutreten zum Gegen- stand, um ihre Erkenntnis mit diesem zu vergleichen, so können wir auch die Prinzipien der Erfahrungserkenntnis nicht dadurch nach weisen, daß wir ihr Verhalten zu den Dingen selbst erhärten, sondern dadurch, daß wir zeigen, jede menschliche Vernunft „weiß“ ihrer Natur nach gerade diese Gesetze und muss nach ihnen urteilen. Genau so ver- hält es sich mit der Giltigkeit der Ideen. Die Deduktion kann auch hier nur darin bestehen, daß wir zeigen : jede endliche Vernunft glaubt kraft der Organisation ihres Wesens notwendig an die ewige Realität der Ideen *). Auch die De- duktion der Prinzipien der praktischen Vernunft kann auf keinem anderen Wege geschehen. Sie besteht darin, „daß wir nachweisen, wie sich in unserer Vernunft der praktische Glaube an die Zweckgesetzgebung im Wesen der Dinge mit dem spekulativen Glauben an die ideale Ansicht der Dinge vereinigt“ 8). So ist für Fries mit der Beschränkung der Deduktion auf den Nachweis der subjektiven Allgemeingiltigkeit aus einer Theorie der Vernunft die gleichmäßige Ausdeh- nung derselben auf die Kategorien, auf die Ideen und auf die Prinzipien der praktischen Vernunft gegeben. Bei Kant ist die Deduktion der Kategorien von der der Ideen durch die Beziehung auf Gegenstände mög- licher Erfahrung und die daraus sich ergebende objektive Giltigkeit geschieden, der oberste Grundsatz der praktischen 1) N. Kr. II, 170 f. Kants Behandlung der regulativen Prin- zipien im Anhang zur Dialektik der reinen Vernunft beruht nach Fries auf einem Mißverständnis, indem er die Maxime des systema- tisierenden Verstandes mit Ideen vermengt habe. N. Kr. II, 307. 2) N. Kr. II, 203 f. 3) N. Kr. III, 161 f. und Vorrede I, XXIII. 182 Kapitel V. Vernunft aber trägt seine Gewißheit in sich selbst, und sein Kreditiv besteht nur darin, daß er selbst als ein Prinzip der Deduktion der Freiheit als einer Kausalität der reinen Ver- nunft aufgestellt werden kann J). In Kants Ausführungen über die subjektive Deduktion aber verrät sich das subjektiv-psychologische Element im Gesamtaufbau seiner Kritik, das in der transzendentalen Deduktion nach der Darstellung der ersten Auflage mit der objektiven Deduktion völlig verwachsen ist, und das dann Kant selbst in der zweiten Auflage ausgeschaltet hat, — diejenige Seite des Kan tischen Deduktionsbegriffs, welche dann von Fries zur alleinherrschenden ge- macht und mit dem Prädikat der vollen Allgemeingiltigkeit ausgestattet wurde. III. Die Theorie als logisches Ideal. 1. Die Theorie als Vereinigung der Systemformen. Aus der Vereinigung der bisher besprochenen Formen des wissenschaftlichen Verfahrens ergibt sich ein logisches Ideal von der Gestalt, unter "welcher die menschliche Wissen- schaft erscheinen müßte, wenn sie vollständig systematisch ausgebildet wäre. Sämtliche drei Arten der Begründung, der Beweis, die Demonstration und die Deduktion müssen in diesem logischen Ganzen unserer Erkenntnis Zusammen- wirken. In dieser ihrer Vereinigung heißen sie Theorie und es kann als die logische Aufgabe unserer Erkenntnis bezeichnet werden, alles in ihr auf seine letzten Erklärungs- gründe zurückzuführen und es in der Theorie systematisch aus dieser abzuleiten. Hiebei ist nun aber die Rolle, welche die drei Systeme der Erkenntnis, der historischen, mathematischen und philo- sophischen, spielen, eine sehr verschiedene. In ihnen sind drei Anfänge unserer Erkenntnis gegeben, die zunächst 1) Kritik der prakt. Vernunft, Ausg. v. Kehrbach 57 f. Die Reflexion. 183 unabhängignebeneinanderstehen und erst unter der Form eines Vernunftschlusses zu einem Ganzen vereinigt werden. Die historische Erkenntnis, die Erkenntnis der Tatsachen für sich allein kann es zu keiner wirklichen Erklärung bringen. Sie entspringt aus den sinnlichen Anregungen un- serer Erkenntnis und kommt uns an Anschauungen zum Be- wußtsein, besteht aber nur aus einer Mannigfaltigkeit der einzelnen Tatsachen, von denen jede als besonderer Teil, als individuelles Dasein, für sich besteht, ohne sich auf andere neben ihm zu beziehen. Andererseits bringen es auch die phi- losophischen Grundsätze für sich allein zu keiner Theorie, denn hier fehlt die Möglichkeit, das Besondere unter die allgemeinen Regeln der Einheit zu fassen. Die Wahrheit der Tatsachen ist ja meist in der Wahrheit der Gesetze schon enthalten. Sollen wir also zu einer Theorie und zu wirk- licher Erklärung gelangen, so kann dies nur durch Mathe- matik geschehen. 2. Die Vermittlerrolle der Mathematik. Erst die mathematische Anschauung bringt die Regel zur historischen Tatsache und den einzelnen Fall zur philo- sophischen Regel hinzu. Die einzelnen Tatsachen sollen durch Grund und Folge zueinander in Beziehung gesetzt werden. Alle Reihen von Grund und Folge werden aber durch Zeit und Raum d. h. durch mathematische Verbindung in unsere Erkenntnis eingeführt. Die letztere ist also der Grund aller Erklärbarkeit überhaupt. 3. Die Unerklärlichkeit der Qualitäten. Daraus ergibt sich nun eine bedeutsame Folgerung. Da alle Erklärbarkeit auf der Mathematik beruht, so kön- nen wir auch nur da von Erklärungen sprechen, wo sich bloße Unterschiede der mathematischen Zusammensetzung aus dem Gleichartigen, bloße Größenunterschiede zeigen. Qualitäten sind daher 184 Kapitel V. unerklärbar. Jede Größenzusammensetzung können wir aus ihren einfachsten Elementen ableiten, aber verschiedene Qualitäten aus historischer und philosophischer Erkenntnis lassen sich nicht auf einander zurück führen1 2). Damit ist sowohl das Vorurteil des Naturalismus ab- gelehnt, daß sich alles müsse erklären lassen, als dasjenige des Rationalismus, daß alles ausEinem höchsten Erklärungs- grund abzuleiten sei. Jede Erklärung setzt ja den Bestand der Tatsachen schon voraus und kann nur die Verbindung der Tatsachen unter einander betreffen. Aus den Formen dieser Verbindung aber lassen sich niemals die Tatsachen selbst ableiten. Das Apodiktische dient nur dazu, die histo- rischen Erkenntnisse als Teile eines Ganzen zu ordnen. Für sich allein ist es nur leere allgemeine Form, der erst ein In- halt gegeben werden muss. Acht historische Erkenntnis ruht daher ebensowohl auf ihren eigenen unabhängigen An- fängen, als apodiktische Erkenntnis auf den ihrigen. Wenn mir z. B. der Tatbestand der Dinge für einen Augenblick der Welt, z. B. der Stand der Gestirne für irgend eine Epoche gegeben ist, so kann ich daraus den Ablauf der Weltbe- gebenheiten durch alle Zeit vorwärts und rückwärts aus den allgemeinen Gesetzen der Mathematik und Philosophie er- klärend berechnen. Das Gegebensein der einzelnen Tat- sachen ist dabei stets vorausgesetzt. Es ist daher auch „Un- sinn, die Geschichte der Welt aus dem Chaos beginnen zu lassen oder irgend eine Geschichte einen ersten Ursprung zu nennen“ *). Daß jene Abhängigkeit aller Erklärung von Mathe- mathik und die Unerklärlichkeit aller Qualitäten nicht schon länger anerkannt wurde, rührt daher, daß es uns unmöglich ist, reine Tatsachen für sich auch nur aufzufassen ohne die mathematischen Bedingungen des Raumes und der Zeit, in deren umfassendem Zusammenhang dann das rein faktische Element der Erkenntnis scheinbar verschwindet. 1) N. Kr. I, 355 ff., Logik 483 ff. 2) Logik 498. N. Kr. I, 363. Digitized by Google Die Reflexion. 186 Mit dieser Behauptung einer Abhängigkeit aller Er- klärung von der Mathematik und der Rollo, welche damit der Mathematik im Haushalt der Wissenschaften zukommt, kann sich Fries auf Kant berufen, nach welchem „in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissen- schaft angetroffen werden kann, als darin Mathematik anzutreffen ist“. Auch schreibt der Beweis hierfür der Ma- thematik ähnlich wie bei Fries eine Vermittlerrolle zwischen den rationalen und den empirischen Bestandteilen der Wis- senschaft zu. Eigentliche Wissenschaft, insbesondere der Natur, erfordert nämlich nach Kant, damit ihre Gewißheit apodiktisch sei, einen reinen Teil, der dem empirischen zu- grunde liegt, und der auf Erkenntnis der Naturdinge a priori beruht. Nun heißt aber, etwas a priori erkennen, es aus seiner bloßen Möglichkeit erkennen. „Die Möglichkeit be- stimmter Naturdinge kann aber nicht aus ihren bloßen Be- griffen erkannt werden; denn aus diesen kann zwar die Möglichkeit des Gedankens (daß er sich selbst nicht wider- spreche), wie des Objektes, als Naturdinges erkannt werden, welches außer dem Gedanken (als existierend) gegeben werden kann. Also wird, um die Möglichkeit bestimmter Naturdinge mithin um diese a priori zu erkennen, noch er- fordert, daß die dem Begriffe korrespondierende Anschau- ung a priori gegeben werde, d. i. daß der Begriff konstruiert werde. Nun ist die Vernunfterkenntnis durch Konstruktion der Begriffe mathematisch. Also mag zwar eine reine Phi- losophie der Natur überhaupt, d. i. diejenige, die nur das, was den Begriff einer Natur im allgemeinen ausmacht, unter- sucht, auch ohne Mathematik möglich sein, aber eine reine Naturlehre über bestimmte Naturdinge (Körperlehre und Seelenlehre) ist nur vermittelst der Mathematik möglich ; und, da in jeder Naturlehre nur so viel eigentliche Wissen- schaft angetroffen wird, als sich darin Erkenntnis a priori befindet, so wird Naturlehre nur so viel eigentliche Wissen- schaft enthalten, als Mathematik in ihr angewandt werden kann.“ Daraus ergibt sieh nach Kant dann in erster Linie für die Chemie und die Psychologie, daß sie „von dem Range 186 Kapital V. einer eigentlich so zu nennenden Naturwissenschaft ent- fernt bleiben“ müssen !). Die Unerklärlichkeit der Qualitäten ist in diesen Aus- führungen Kants im Unterschied von Fries kein Bestandteil der Beweisführung. Sie steckt darin, wenn von dem Objekt als Naturding die Rede ist, „welches ausser dem Gedanken (als existierend) gegeben werden kann“. Die Irrationalität des Historisch-Einzelnen findet bei Kant schon im ersten Para- graphen der transzendentalen Ästhetik nur ihre Berücksich- tigung in dem Gegebensein der Gegenstände, „vermittelst der Sinnlichkeit“. Daher der schon frühe von Gegnern Kants und später besonders von Herbart gemachte Einwand : wenn zu den a posteriori „gegebenen“ noch ungeordneten Empfin- dungen nur die reine Raumanschauung a priori hinzukommt, woher dann die bestimmten Gestalten und die bestimmten Raumbeziehungen bestimmter Dinge?*). Im Besonderen ist der Gesichtspunkt der Qualität maßgebend für die zweite Klasse der Grundsätze des reinen Verstandes, für die „Anti- zipationen der Wahrnehmung“. Als Prinzip derselben gilt: „In allen Erscheinungen hat das Reale, was ein Gegen- stand der Empfindung ist, intensive Größe, d. i. einen Grad“ 1 2 3j. Dieser Satz abstrahiert nach Kant selbst von der empirischen Qualität der Empfindungen, und es ist um so auffallender, daß der Verstand einen solchen synthetischen Satz über den Grad alles Realen in den Erscheinungen, also über die Möglichkeit des inneren Unterschiedes selbst „anti- zipieren“ kann. Die Qualität der Empfindung ist ja Jeder- zeit bloß empirisch, und kann a priori gar nicht vorgestellt werden (z. B. Farben, Geschmack etc.)“. Kant sieht die Lösung darin, daß das Reale, welches „den Empfindungen überhaupt korrespondiert“, nur im Gegensatz zu der Nega- tion = o etwas vorstellt, dessen Begriff „an sich ein Sein enthält“ und nichts bedeutet als „die Synthesis in einem 1) Kant, Metaph. Anfangsgr. d. NaturwigBensch. S. W. V, 309 f. 2) Siehe oben S. 59. 3) Nach der Fassung der zweiten Ausgabe‘der Kr. d. r. V. S. 162. Digitized by Google Die Reflexion. 187 empirischen Bewußtsein überhaupt“, und gelangt zur prä- zisen Formulierung seines Ergebnisses in dem Satz: „Alle Empfindungen werden daher, als solche, zwar nur a poste- riori gegeben, aber die Eigenschaft derselben, daß sie einen Grad haben, kann a priori erkannt werden. Es ist merkwür- dig, daß wir an Größen überhaupt a priori nur eine einzige Qualität, nämlich die Kontinuität, in aller Qualität aber (dem Realen der Erscheinungen), nichts weiter apriori, als die intensive Qualität derselben, nämlich daß sie einen Grad haben, erkennen können, alles übrige bleibt der Erfahrung überlassen“ *). In der letzten Bemerkung liegen alle die prinzipiellen Schwierigkeiten, welche für die Anwendung dieser Grundsätze des reinen Verstandes auf die wirkliche wissenschaftliche Forschung entstehen. Zu dem „Übri- gen“, welches der Erfahrung überlassen bleibt, gehört ja nicht bloß jede bestimmte Qualität, sondern gehört auch jede bestimmte, auch die in bestimmten Zahlen ausdrück- bare, Beziehung zwischen den Qualitäten, wie sie den Ge- genstand der Erfahrungswissenschaften bildet. Die Er- gebnisse dieser letzteren nehmen aber doch auch Allge- meingiltigkeit und Notwendigkeit für sich in Anspruch. Kant hat diese Prädikate ausschließlich für die Prinzipien a priori reserviert. Er sieht sich daher genötigt, innerhalb der sogenannten „Naturwissenschaft“ eine Teilung vorzu- nehmen zwischen der „historischen Naturlehre“, welche nichts als „systematisch geordnete Fakta der Naturdinge enthält“, und der „Naturwissenschaft“, die selbst dann wie- der in „eigentliche“ gänzlich nach Prinzipien a priori ver- fahrende und „uneigentliche“, ihren Gegenstand nach Er- fahrungsgesetzen behandelnde zerfällt1 2). Aber auch die „eigentliche Naturwissenschaft“ bedarf der Objekte, auf welche sie Anwendung findet, und diese Objekte und ihre Beziehungen sind von bestimmter Art, und die Verarbeitung derselben führt daher zu bestimmten Sätzen, die aber als 1) a. a. O. 170. 2) Metaph. Anfangsgr. d. Naturwissenschaft. S. W. V. 306. Digitized by Google 188 Kapitel V. wissenschaftliche Sätze, obwohl empirischen Inhalts, doch Anspruch auf Allgemeinheit und Notwendigkeit erheben. Kant hat dies 'wohl gefühlt, wenn er es in der ange- führten Stelle in den „metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft“ ausspricht, daß die Möglichkeit bestimm- ter Naturdinge nicht aus ihren bloßen Begriffen erkannt werden kann. Aber er hält zur Ergänzung dieses Mangels nur für erforderlich, daß die dem Begriffe korrespondierende Anschauung a priori gegeben werde. Dadurch entsteht der Schein, als ob eine reine Naturlehre über bestimmte Natur- dinge nur vermittelst der Mathematik völlig a priori mög- lich sei. Bestimmte Naturdinge sind aber stets Dinge von be- s t im m t e r Q u a 1 i t ä t , und Qualitäten lassen sich nie rest- los in mathematische Bestimmungen auflösen. Sie sind als solche unerklärbar. Man wird also in jeder Wissenschaft mit Ausnahme der reinen Mathematik selbst an einen Punkt kommen, auf welchen Mathematik nicht mehr anwendbar ist. Fries hat das Verdienst, diese Seite der Kan tischen Lehre von der Anwendung der Mathematik auf die Wissen- schaft, die bei Kant in der von Schopenhauer1) so scharf kritisierten Bezeichnung des Empirischen der Anschauung als eines „Gegebenen“ versteckt liegt, in seiner Lehre von der Unerklärliehkeit aller Qualitäten zur vollen Deutlichkeit herausgearbeitet zu haben. Die Tragweite dieser Lehre für die Erkenntnistheorie wird uns später zu beschäftigen haben. Aus dem Bisherigen geht jedenfalls hervor, dass sie das Kor- 1) Vgl. Schopenhauer, Kritik der Kantischen Philosophie, Sämt- liche Werke, Ausg. von Grisebach 1, S. 559. „Nach der in der tran- szendentalen Ästhetik gegebenen ausführlichen Erörterung der all- gemeinen Formen der Anschauung muß man erwarten, doch einige Aufklärung zu erhalten über den Inhalt derselben, über die Art, wie die empirische Anschauung in unser Bewußtsein kommt, wie die Erkenntnis dieser ganzen, für uns so realen und so wichtigen Welt in uns entsteht. Allein darüber enthält die ganze Lehre Kants eigentlich nichts weiter, als den oft wiederholten nichtssagenden Ausdruck: „„Das Empi rische der Anschauung wird von Außen ge- gebe n““. Die Reflexion. 189 relat der Abhängigkeit aller Erklärung von der Mathematik ist. Indem Fries beides betonte, gelangte er zu seiner Lehre von der Theorie, in welcher mathematische, philosophische und historische Erkenntnis sich zu vereinigen hat. Kant schwebt als wissenschaftliches Ideal bei allem „empirischen Realismus“ doch stets ein System apriorischer Erkenntnis in seiner Isolierung vor, er sucht daher auch innerhalb der Naturwissenschaft ein Sondergebiet für sie abzugrenzen. Fries macht Ernst damit, daß das Apodiktische in unserer Erkenntnis für sich nur leere allgemeine Form ist, und richtet sein Augenmerk darauf, der einzelnen „historischen“ Er- kenntnis, die ihre eigenen „unabhängigen Anfänge“ hat, durch Unterordnung unter die apodiktischen Formen Not- wendigkeit zu verleihen. F. Der Fortschritt der Reflexionserkenntnis. Die Vollkommenheit unserer Erkenntnis, wie sie durch die Vereinigung der philosophischen, mathematischen und historischen Wissenschaft erreicht wird, ist nur eine Idee, der wir uns allmählich annähern können. Wie ist dies möglich? Wie vermag die Reflexions- erkenntnis in der Annäherung an dieses Ziel fortzuschreiten? Das hierzu erforderliche wissenschaftliche Verfahren haben wir in erster Linie von der bloßen wissenschaftlichen Darstellung des schon Gefundenen zu unterscheiden, wie sie in den systematischen, konstitutiven Methoden gegeben wird. Wenn von wissenschaftlicher Methode die Rede ist, sind meist die letzteren gemeint, obwohl es sich hier nur um die Subsumtion des Besonderen unter bereits gefundene all- gemeine Gesetze handelt. Ist aber die Aufgabe gestellt, Neues zu finden, so richtet sich die wissenschaftliche Me- thode nach anderen Regeln. Welches sind diese heuristi- schen Methoden der logischen Erfindungskunst? Da alles unser Erkennen der Zeit nach mit einzelner sinnlicher Wahrnehmung anfängt, so wird es sich bei dem, was wir mehr in uns finden sollen, stets um die Erkenntnis 190 Kapitel V. allgemeiner apodiktischer Formen handeln. Wir suchen dabei stets Allgemeines zu dem Besonderen hinzu. Während also das erstgenannte Verfahren stets progressiv ist, das Allgemeine als gegeben voraussetzt, und mit Hilfe der subsumierenden Urteilskraft diesem das Besondere unter- ordnet, sind die heuristischen Methoden alle regressiv, gehen vom Besonderen zum Allgemeinen und gehören da- her der reflektierenden Urteilskraft an. Dabei haben wir zwrei Hauptformen zu unterscheiden. Wir suchen entweder prosyllogistisch zu den beson- deren Behauptungen durch Zergliederung die allgemeineren Gründe, wrelche wir in ihnen schon voraussetzen, dies ist die Methode der Spekulation. Oder wir verfahren re- gressiv beweisend, indem wrir Erfahrungen zu allge- meinen Ansichten kombinierend zu den einzelnen Fällen historischer Erkenntnis, die gegeben sind, das Allgemeine hinzusuchen. Dies ist der Fall der Induktion *). Beide Verfahrungsarten bedürfen einer genaueren Er- örterung. I. Die Spekulation. Fries wird nicht müde, zu betonen, die philosophische Erkenntnis sei nicht von der Art, daß sie erst völlig neu entdeckt und von den einzelnen erst neu erlernt werden müßte. Vielmehr sei jeder Mensch in ihrem Besitz und wende sie, wenn auch unbewußt und unbedacht beim Den- ken täglich an. Erst wrenn mehrere ihre Meinungen mit einander vergleichen und, etwa in Betreff der Beurteilung der Natur der Dinge, der sittlichen Lebensverhältnisse oder Religions wrahrheiten, in Widerstreit mit einander geraten, so zeigt sich, daß unser Urteil in allen diesen Dingen von gewissen allgemeinen Voraussetzungen über Natur, sitt- liches Leben und den Glauben ausgeht, über die wir uns nur durch Denken klar werden können. Wir haben diese all- gemeinen Gesetze, welche aller unserer Erkenntnis zugrunde 1) N. Kr. 1, m f. Logik 516 f. Digitized by Google Die Reflexion. 191 liegen, in unserra Geiste aufzusuchen. Dies geschieht durch die zergliedernde Methode der Spekulation. Wir gehen dabei aus vom gemeinen Verstandes- gebrauch, der die Begriffe in concreto anwendet, und suchen dieselben in abstracto darzustellen. Aber wie sollen wir von diesen Beurteilungen des täglichen Lebens zu einem letzten gelangen, das als Prinzip gelten kann? Die bloße Zergliederung für sich allein gibt mir ja keinen Anhalts- punkt dafür, ob ich nicht noch weiter fortgehen kann, ob ich wirklich zu einem letzten unableitbaren Prinzip gelangt bin. Außerdem sollen diese Prinzipien für sich unerweis- liche Sätze und doch, als Verbindung allgemeiner Begriffe, nicht unmittelbar allgemein verständlich sein. Worauf soll dann aber ihre Giltigkeit beruhen? Die Antwort darauf ergibt sich aus dem eigentlichen Wesen der in der Spekulation zur Anwendung kommenden regressiven Methode. Indem man hier, nicht wie sonst von den Gründen zu den Folgen übergeht, sondern mit den Folgen beginnt und sich zu den Gründen durchzufinden sucht, wird durch dieses logische Experiment der rückwärts gehenden Untersuchung die ganze Bedeutung derselben verändert. Es kommt nämlich hier „zunächst nicht darauf an, die philosophische Wahrheit einem Beweis zu unter- werfen oder sie von andern Wahrheiten abzuleiten, sondern nur sie kennen zu lernen, wie sie eben in uns ist. Es kommt hier zunächst nicht darauf an: das Wesen der Dinge, wel- che die Gegenstände unserer Erkenntnis sind, sondern nur unsere Erkenntnis selbst als die Tätigkeit unserer Vernunft kennen zu lernen. Mögen diese Erkenntnisse wahr und giltig sein oder nicht; wir fragen zuerst nur, was für Er- kenntnisse hat denn der Mensch? wie ist sein Erkenntnis- vermögen beschaffen ?u !) Die regressive Spekulation be- weist also nicht einen Satz durch den andern, sondern sie zeigt nur subjektiv, daß, wer einen gewissen Satz annimmt, die Wahrheit eines andern schon voraussetze. Wir suchen 1) Metaphysik S. 99 ff. Digitized by Google 192 Kapitel V. z. B. in der Spekulation einen Grund für die Behauptung, daß die Kreisbewegung des Mondes eine stetig wirkende anziehende Kraft der Erde voraussetze — und finden, daß wir diese Behauptung nur als eine Folge des allgemeinen Gesetzes annehmen, daß jede Veränderung, also auch in diesem Fall die in der Kreisbewegung sich darstellende stetige Veränderung der Bewegungsrichtung ihre Ursache haben müsse. Die regressive Methode gibt also der Speku- lation einen durchaus subjektiven Charakter. Das Philo- sophieren wird in eine innere Erfahrungssache verwandelt, es wird zur „erfahrungsmäßigen geistigen Selbstbeobach- tung“, zur anthropologischen Untersuchung. Fries will da- her diese regressive Methode auch die kritische und die Untersuchung selbst Kritik der reinen Vernunft genannt wissen *), denn sie hat es nur mit Beurteilung der Grund- überzeugungen der menschlichen Vernunft zu tun, ohne eine dogmatische Aufstellung darüber geben zu können. Durch die Spekulation werden also alle wahrhaft all- gemeinen Urteile, alle apodiktischen Gesetze aus dem ge- meinen Verstandesgebrauche auf dem Wege der Zergliede- rung herausgehoben. Da die apodiktischen Gesetze teils mathematische, teils philosophische sind, so haben wir auch zwei Arten der Spekulation zu unterscheiden. Die mathematische Spe- kulation hat, wenn sie dem Fortschritt der Wissenschaft dienen will, neue Zusammensetzungen zu suchen. Als analytische Heuristik erfindet sie neue Arten der Konstruk- tion und führt sie auf ihre Prinzipien zurück. Als synthe- tische Heuristik verwendet sie die gefundene neue Methode, um vermittelst ihrer von den einfachsten Elementen zu den zusammengesetzteren aufzusteigen. Die erste Art der Er- findung ist die seltenste und schwerste. Sie ist allein dem mathematischen Genie zugänglich und ist selbst für dieses oft ein Geschenk des guten Glückes. In dieses Gebiet ge- hört z. B. die Erfindung der Buchstabenrechnung, und die Erfindung der Differentialrechnung durch Newton und 1) Metaphysik 104. Digitized by Google Die Reflexion. 193 Leibniz. In der Philosophie dagegen folgt die Erfindungs- kunst den einfachsten Regeln. Ist nur erst die Sprache so weit ausgebildet, daß sie mit eigener Lebendigkeit eine hin- reichende Biegsamkeit der Abstraktion verbindet, was aller- dings nicht Sache des einzelnen Mannes sondern der Nation ist, so ist alles gegeben, was der Philosoph zu seinen Erfin- dungen bedarf. Er hat ja nicht, wie der Historiker, neue Tatsachen zu suchen, oder wie der Mathematiker, neue Zu- sammensetzungen, sondern er soll nur die Grundformen seiner eigenen Überzeugungen in sich beobachten, wie sie schon da liegen. Spekulation als Aufsuchen der Prinzipien, als „kriti- sche Methode“ ist eben deshalb für die gesamte Philosophie unentbehrlich. Gerade dasjenige Gebiet der Philosophie stellt der Spekulation die wichtigsten Aufgaben, welches wir in der Philosophie ihr gewöhnlich entgegensetzen, das Gebiet der Ideen oder des Praktischen. Denn die Idee ist „nichts anderes, als der ganz aus der Reflexion erzeugte, und nur durch sie geltende Begriff, welcher sich nur durch Spekulation über das dunkle Gefühl des gemeinen Bewußt- seins erhebt“. Der Mittelpunkt unseres Geistes, ein unend- licher Glaube und eine ewige Liebe, kündigt sich schon dem gemeinen Verstände im dunklen Gefühle der Würdigung des Wertes der Tugend, im dunklen Gefühl des Gefallens am Schönen und Erhabenen und endlich im Gefühle der Hohheit der Religion als das ewig Bestehende an. Aber es gibt einen Punkt, wo die Idee des Ewigen, belebt durch je- -nen Glauben und jene Liebe, aus dem bloßen Kreise des Ge- fühls in das Begreifliche heraustritt, wo sich das im Gefühl nur Geahnte in helle und klare Begriffe auflöst. Das aber ist die Aufgabe, welche allein die Spekulation zu lösen ver- mag. Sie trennt sich hier von dem gemeinen Bewußtsein, aber nicht etwa, um der Vernunft neue Gebiete des Über- sinnlichen zu eröffnen, sondern einzig, um sie in dem lang- erworbenen Felde der Erfahrung mit sich selbst zu ver- ständigen^). 1) N. Kr. I, 384 ff. Logik 544 ff . Elsenhaus, J. F. Fries und die Kautische Erkenntnistheorie. 13 194 Kapitel V. Ist diese Arbeit der Spekulation getan, sind die philo- sophischen Prinzipien, auf gefunden, so handelt es sich da rum, sie zu rechtfertigen. Dies geschieht in der Deduk- tion, deren Methode wir bereits kennen gelernt haben. Nehmen wir noch als drittes die Aufgabe hinzu, das „syste- matische Verhältnis der so gewonnenen und gerechtfertigten Prinzipien zur Anwendung im Ganzen der menschlichen Erkenntnis nachzuweisen“, so haben wir die Hauptaufgaben der Philosophie als Wissenschaft, im besonderen der Meta- physik umschrieben. Die Spekulation ist also nach Fries die für die gesamte Philosophie grundlegende Methode. Ihre Stellung wird da- durch noch deutlicher, daß er ihr im Kantischen System ihren Ort anweist. Jene drei Aufgaben können nämlich, meint Fries, getrennter oder miteinander verbundener be- handelt werden. „Stellen wir sie ganz gesondert nebenein- ander, so ist die erste diejenige, wrelche Kant die Grund- legung einer metaphysischen Lehre genannt und vor züglich klar für die Metaphysik der Sitten bearbeitet hat, die zweite Aufgabe für sich würde ich die Kritik der Ver- nunft, die dritte aber das System einer rein philosophi- schen Lehre nennen“ l). Mit dieser Kantischen Parallele zu seiner spekulativen Methode hat Fries einen glücklichen Griff getan. Denn in der Vorrede zu seiner „Grundlegung der Metaphysik der Sitten“ hat Kant die Absicht dieser Schrift in ganz analoger Weise bestimmt, wrenn er sagt: „Gegenwärtige Grundlegung ist aber nichts mehr, als die Aufführung und Festsetzung des obersten Prinzips der Moralität, wrelche allein ein, in seiner Absicht ganzes und von aller anderen sittlichen Untersuchung abzusonderndes Geschäft ausmacht“ *). Die Schrift gibt daher Antwort auf die Frage: was ist Moralität? Sie beschäftigt sich mit der quaestio facti 8), während die Deduktion der Kritik der prak- tischen Vernunft die quaestio juris entscheidet. Die Stellung 1) Metaphysik 118 f. 2) S. W. VIII, 9. 3) K. Fischer, Geschichte der neueren Philosophie, 4. Auf!., V, 56. Digitized by Google Die Reflexion. 196 beider, der Grundlegung zur Methaphysik der Sitten und der Kritik der praktischen Vernunft hat allerdings in Kants Ent- wicklung verschiedene Phasen durchgemacht1), aber schon der Ausgangspunkt der „Grundlegung“, die „gemeine sitt- liche Vernunfterkenntnis“ gibt Fries das Recht, darin eine seiner Spekulation, die nur das in jeder menschlichen Ver nunft Vorhandene zergliedert, analoge Methode zu sehen. Die volle Bedeutung dieser zentralen Stellung der „Spe- kulation“ in der Friesischen Methode wird erst hervortreten, 1) Es lag keineswegs von Anfang an im Plane Kants, der früher in Anssicht genommenen eigentlichen „Metaphysik der Sitten“ eine solche grundlegende Schrift vorausgehen zu lassen. Ich führe die Data kurz auf (nach der akademischen Ausgabo von Kants Ge- sammelten Schriften IV, 627 ff. P. Menzer). Zunächst ist nur die Rede von den „metaphysischen Anfangsgründen der praktischen Welt Weisheit“ (Brief an Lampert v. 31. Dez. 1765), von den „reinen Prinzipien der Sittlichkeit „als einem Teil des geplanten Werkes „die Grenzen der Sinnlichkeit und der Vernunft“ (an Herz vom 7. Juni 1771 u. 21. Febr. 1772), dann von der „Metaphysik der Sitten* (Brief Hamanns an Hartknoch vom 11. Jan. 1783). Erst im April 1784 heißt es ln einem Brief Hamanns an Joh. Georg Müller v. 30. April 1784: „Kant arbeitet an einem Prodromus zur Moral, den er anfänglich Antikritik betiteln wollte, und auf Garves Cicero Beziehung haben soll. Den jetzigen Titel lesen wir zum ersten Mal in Hamanns Brief an Scheffner vom 19 /20. Sept. 1789, in welchem zugleich mit der Absenduug des Manuskriptes die Vollendung des Werkes bezeugt wird. Aber das Verhältnis zur „Kritik der praktischen Vernunft* war, wie die Vorrede zeigt, noch keineswegs klar. Denn dort heißt es: „Iin Vorsätze nun, eine Metaphysik der Sitteu* dereinst zu lie- fern, lasse ich diese Grundlegung vorangehen. Zwar gibt es eigent- lich keine andere Grundlage derselben, als die Kritik der reinen praktischen Vernunft, sowie zur Metaphysik die schon gelie- ferte Kritik der reinen spekulativen Vernunft“. Da es aber Kant zu der für eine „Kritik der praktischen Vernunft“ erforderlichen Vollständigkeit noch nicht bringen konnte, so hat er sich „statt der Benennung einer Kritik der reinen praktischen Vernunft, der von einer Grundlegung zur Metaphysik der Sitten be- dient* (VIII, 8 f.). In der für unsere Frage maßgebenden endgil- tigen Ausarbeitung finden wir aber ein Verhältnis beider, welches im wesentlichen mit der Friesischen Gliederung der philosophischen Aufgaben übereinstimmt. 196 Kapitel V. wenn wir die ihr gegenüber völlig untergeordnete und doch mit ihr in der Darstellung der Friesischen Philosophie häufig verwechselte Aufgabe der Induktion genauer kennen lernen II. Die Induktion. 1. Die untergeordnete Stellung der Induktion im Friesischen System. Es liegt nahe, in der Gesamtauffassung eines Systems, wie desjenigen von Fries, welches der inneren Erfahrung eine so große Bedeutung beimißt, der Induktion eine hervor- ragende Stelle anzuweisen. In der Tat geschieht dies auch in den meisten Darstel- lungen der kritischen Philosophie. So macht z. B. H. Ulrici1) gegen Fries geltend, die Induktion gewähre nur dann Ge- wißheit, wrenn der Schluß von den Tatsachen auf die allge- meinen Gesetze ein richtiger Schluß und außerdem die wei- teren Folgerungen vom Gefühl innerer Notwendigkeit ge- tragen seien, und 0. Liebmann2) erklärt den Versuch für absurd, die Apriorität jener notwendigen Erkenntnisformen aus einer Betrachtung des erkennenden Subjektes durch In- duktion nachzuweisen, da dieses Subjekt selbst samt seinem unzertrennlichen Korrelate, dem Objekte, ohne Voraus- setzung von Raum, Zeit und Kategorien, nicht nur nicht empfinden, vorstellen, erkennen könnte, sondern überhaupt nichts wäre. Die philosophische Anthropologie gleiche hier jemandem, der durch Zusammenzählung aller Bäume das Dasein des Waldes nachweisen wolle, sie sehe im Anfang ihres Unternehmens den Wald vor Bäumen nicht. Auf dem Wege der empirischen Induktion könne man immer nur zu einer komparativen Allgemeinheit und einer relativen Not- wendigkeit kommen. Empirische Induktion selbst aber sei, so wie ihr Objekt, nur ermöglicht durch die absolute Not- 1) H. Ulrici, Das Grundprinzip der Philosophie, I, 1845,8.377. 2) 0. Liebmann, Kant und die Epigonen 1865, S. 140—156. Vgl. meine Schrift: Das Kant-Friesische Problem 1902, S. 23 f. Digilized by Google Die Reflexion. 197 wendigkeit und Allgemeinheit, die Apriorität jener obersten Erkenntnisformen, Raum, Zeit und Kategorien. Diese und ähnliche Einwände gegen die Friesische Phi- losophie sind gegenstandslos. Denn er schließt nicht von den Tatsachen auf die allgemeinen Gesetze, seine philosophische Anthropologie gleichtauch nicht etwa demjenigen, der durch Zusammenzählung aller Bäume das Dasein des Waldes nach- weisen wollte, sein Verfahren ist vielmehr genau das um- gekehrte. Sollten wir bei dem Bild bleiben, so müßten wir sagen : er geht von der Gesamtwr ahrnehm ung des Waldes aus, um diese zu zergliedern. Sein Verfahren der Aufsuchung der philosophischen Prinzipien ist ja, wie sich uns gezeigt hat, das der Spekulation, welche dadurch die eigentliche Rechtfertigung derselben aus einer „Theorie der Vernunft“, die Deduktion vorbereitet. Die Bedeutung der Induktion tritt demgegenüber ganz in den Hintergrund. Es ist nach Fries geradezu der Grund- fehler der Erfahrungsphilosophie seit Bacon, „daß sie meint, der Mensch lehre alle Naturgesetze durch die Induktion kennen, daß sie also fälschlich die Methode der Induktion für eine selbständige unabhängige, Methode hält, welches diese doch nie werden kann“. Ein Versuch der Verständigung mit der Erfahrungsphilosophie muss daher vor allem darauf ausgehen, ihr das Vertrauen auf die Induktionen zu schwächen1). Zu diesem Zwecke muss die Grundlage dieser Induktionen einer näheren Prüfung unterzogen werden. 2. Die Abhängigkeit der Induktion von „leitenden Maximen“. Die Schule der Empiriker wrollte die Auffindung allge- meiner Gesetze auf das Prinzip der Erwartung ähnlicher Fälle als Prinzip der Induktion und auf die Gesetze der Wahr- scheinlichkeitsrechnung, also auf die Theorie der mathema- tischen Wahrscheinlichkeit gründen. Sie gelangen aber auf 1) Metaphysik 186 f. 198 Kapitel V. diesem Wege nur zu untauglichen „empirischen Induk- tionen“, welche durch Zusammenzählen ähnlicher Fälle allgemeine Regeln zu erraten suchen. Das hierbei maß- gebende Gesetz der Erwartung ähnlicher Fälle ist, für sich allein betrachtet, nur ein Gesetz der reproduktiven Einbil- dung und nicht des denkenden Verstandes. Die zuverläs- sigen „rationellen Induktionen“ ruhen alle „auf voraus- gesetzten leitenden Maximen, welche selbst durch die philo- sophische und mathematische Erkenntnis a priori bestimmt werden“. Gerade die richtige Lehre von der Schlußkraft der Induktionen führt also über die Erfahrungsphilosophie hinaus und zeigt, daß „alle Induktionen nur durch voraus- gesetzte notwendige Wahrheiten der Mathematik und Meta- physik gütig werden“1). Ein Beispiel wird dies deutlicher machen. Man hat die Aufgabe zur Berechnung gestellt, wie wahrscheinlich es sei, daß die Sonne morgen wieder auf- gehen werde? Aus der seit einigen Jahrtausenden vorhan- denen Betrachtung der regelmässigen Reihenfolge dieser Erscheinung berechnet Buffon zur Antwort seine, Laplace eine andere Zahl. Fries sagt dagegen: das Rechnen hat hier gar keine Bedeutung, wir können nur antworten: wir haben gar keinen Grund zu vermuten, daß der regelmäs- sige Verlauf jener Erscheinungen werde unterbrochen wer- den. Wir nehmen mit Bestimmtheit an, daß der Wechsel der Tageszeiten auf der Erde unverändert fortgehen muß, so lange die jetzigen planetarischen Verhältnisse der Erde un- geändert bleiben, und wir tun dies, weil wir die Gesetze dieser Verhältnisse kennen und eben in diesen die leiten- den Maximen haben, welche unser Urteil bestimmen. Eine Änderung dieser Verhältnisse, die nur etwa durch ein Verlöschen des Sonnenlichtes oder durch eine Störung in der Bewegung der Erde von innen oder von aussen her ein- treten könnte, vermögen wir nicht in Rechnung zu nehmen, da wir weder für das eine noch für das andere irgend Gründe kennen. 1) Metaphysik 186 ff. Logik 444 ff. Digitized by Google Die Reflexion. 199 Mit Hilfe der Wahrscheinlichkeitsrechnung gelangen wir also in der Erforschung von Naturgesetzen stets nur dazu, daß wir aus der Nach Weisung der Regelmäßigkeit in einer Reihe von Ereignissen immer sicherer bestimmen können, diese Ereignisse müssen von irgend einem gemein- schaftlichen Grunde abhängen. Das GesetzdiesesGrun- d es selbst aber vermag sie nicht zu bestimmen. Das ist nur der Induktion mit Hilfe ihrer leitenden Maximen möglich. Wenn sich z. B. für die Beobachtung dieKeplerischen Gesetze als giltig für jeden Planeten, für jeden Trabanten der Planeten und jeden Kometen erweisen, so ist mit immer steigender mathematischer Wahrscheinlichkeit ein gemein- schaftlicher Erklärungsgrund dieser Bewegungen zu ver- muten. Dieser selbst aber läßt sich nur durch die leitenden Maximen der Mathematik des Himmels bestimmen. Während also die zergliedernden spekulativen Me- thoden volle Selbständigkeit besitzen, ist die Induktion nie- malsselbständig, sondern erhält ihre Beweiskraft nur von den durch Spekulationen aufzuklärenden Prinzipien, welche ihr als leitende Maximen zugrunde liegen müssen *). Inner- halb dieser Grenzen vermag sie allerdings regressive Be- weise zu führen, indem sie die Erscheinungen unserer lei- tende Maximen zusammenordnet, während die Spekulation sich damit begnügen muß, allgemeine Regeln durch Zer- gliederung aufzuweisen *). 3. Induktion und empirische Naturgesetze. Aber hat dann die Induktion für die Philoso phie überhaupt irgendwelche Bedeutung? Nach Fries selbst soll die Induktion nur „den Erfahrungswissenschaften dienen, um empirische Naturgesetze zu erforschen“, während die kri- tische Methode allein uns wahrhaft über unsere philosophi- schen Erkenntnisse aufklären und durch ihre Deduktion deren Prinzipien rechtfertigen kann. Im Gebiete der reinen 1) Metaphysik 187 ff. Grundriß der Metaphysik 30. 2) Logik 562. 200 Kapitel V. Philosophie herrscht die Spekulation als Kritik der Vernunft, im Gebiete der Erfahrung die Induktion, welche die Gebiete der Erfahrung unter ihre Gesetze bringt. Die Spekulation „führt zu philosophischen und mathematischen Erörterungen, Induktion ist nur Nachhilfe für die Unterordnung einzelner Wahrnehmungen unter allgemeine Gesetze“. Die Kritik der Vernunft soll nur die Philosophie, die Induktion „die Erfah- rungswissenschaften ausbilden“ 1 2). Nun ist ja das Ziel der Induktion allerdings nicht die Feststellung eines Einzelfalls, sondern die Aufstellung all- gemeiner Gesetze. Dadurch unterscheidet sich die Induk- tion von der Analogie. Fries befindet sich hier in Übereinstim- mung mit Kant. Die Induktion schließt von vielen Dingen auf alle einer Art, die Analogie von vielen Bestimmungen und Eigenschaften, worin Dinge von einerlei Art zusammen- stimmen, auf die übrigen, sofern sie zu demselben Prinzip gehören*). So schließe ich z. B. nach der Induk- tion: Axendrehung ist bei den meisten Planeten beobachtet worden, also werden sich wohl alle um ihre Axe drehen; dagegen nach der Analogie: weil dieser und jener Planet sich um die Axe drehen, werden es wohl auch Pallas und Juno tun. Fries tadelt daher, daß Kant mit der in der An- merkung zu diesem Paragraphen gegebenen Regel der In- duktion: „was vielen Dingen einer Gattung zukommt, das kommt auch den übrigen zu“, diesen Unterschied wieder verwische. Die Analogie habe für sich gar keine Schluss- kraft. Der Schluss von den bekannten Fällen auf die un- bekannten sei überhaupt nur möglich mit Hilfe der durch Induktion präsumierten Regel. Sonst wäre ich ja nicht sicher, ob nicht die mir bekannten Arten einer Gattung gerade diejenigen Merkmale besitzen, welche den übrigen nicht zukommen. 1) Metaphysik 184, 182, 169, 159. N. Kr. I, 390. 2) Vgl. Kant, Logik § 84. S. W. III, 320 f. Fries, Logik 36 f., N. Kr. I, 396. Digitized by Google Die Reflexion. 201 4. Das Verhältnis der Induktion zur philo- sophischen Anthropologie. Lernen wir also mit Hilfe der Induktion die durch die Erfahrung auszumittelnden Naturgesetze kennen, um sie nach Analogien anzuwenden, so werden wir dabei in erster Linie an die empirischen Naturgesetze denken. Daß es sich aber nicht ausschließlich um diese allein handelt, geht schon daraus hervor, daß die Auffindung der Prinzipien als Aufgabe der Induktion neben diejenige der Spekulation gestellt wird. Prinzipien werden nach Fries „dem Ver- stände nie unmittelbar gegeben, sondern er muß sie und ihr Verhältnis zur Anwendung immer erst erfinden. Dieses gelingt der reflektierenden Urteilskraft für reine Vernunft- erkenntnis durch Zergliederung, für die Erfahrung durch Induktion“ 1). Das wichtigste Gebiet der Induktion ist ja die innere Erfahrung, und so fällt ihr die Aufgabe zu, die „allgemeinen Gesetze des Geisteslebens, nach denen sich alle Anlagen desselben entwickeln“, aus den besonderen Untersuchungen herauszuheben und so festzustellen *). Wir werden uns daher ihrer gerade da bedienen, wo wir „nicht bei dem nur Beschreibenden der Erfahrungsseelenlehre für diese und jene Klasse von Geistesvermögen und ihren vor- kommenden Varietäten stehen bleiben, sondern wo wir diese reine Tatsache nur als Grund brauchen, von welchem eine vernünftige Induktion nach gut gewählten heuristischen Maximen ausgeht, um sich zu den allgemeinen Gesetzen unseres inneren Lebens und somit zu einer physikalischen Theorie dieses Lebens rein nach seinen geistigen Verhält- nissen zu erheben“ s). Damit wird also der Induktion eine hervorragende Rolle für die ganze anthropologische Vernunftkritik — denn um diese handelt es sich in der zitierten Stelle — zuge- schrieben. Man hat versucht, diese ganze Stelle auf die D e - duktion zu beziehen, die allerdings einer „durchaus erfah- 1) Metaphysik 169. 2) N. Kr. I, 49. 3) N. Kr. I, 41. 202 Kapitel V. rungsmäßigen Erkenntnisweise angehöre“, nämlich der „ganz subjektiven Untersuchung des Ursprungs gewisser Grund- urteile in der Vernunft“ 1 2). Dabei ist übersehen, daß das De- duktionsverfahren bei Fries keineswegs auf derselben Linie steht, wie die „erfahrungsmäßige Erkenntnisweise“ über- haupt. Die Ableitung aus einer Theorie der Vernunft, die Entwicklung aus anthropologischen Prinzipien erhebt sich über die bloße Erfahrungsseelenlehre als „Theorie des in- neren Lebens“. Eben mit ihr fällt der „philosophischen An- thropologie“ eine Aufgabe zu, welche ihre einfache Iden- tifizierung mit der empirischen Psychologie verbietet*). Fries stellt daher auch die Induktion in direkten Gegensatz zur Deduktion, wenn er sagt: „Wir haben oben gezeigt, wie diese kritisc he Methode allein uns wahrhaft über unsere philosophischen Erkenntnisse aufklären und durch ihre De- duktion deren Prinzipien rechtfertigen könne; wie dagegen die Induktion nur den Erfahrungswissenschaften diene, um empirische Naturgesetze zu erforschen“ s). Allerdings muß 1) L. Nelson a. a. 0., Abhandlungen der Fries’schen Schule. Neue Folge, II. H., S. 274 ff. Die damit verbundene Kritik der Dar- stellung meiner Schrift: „Das Kant-Friesische Problem“ unterschiebt mir, wie dies in den „Abhandlungen“ mehrfach der Fall ist, eine Ansicht, die ich nicht vertrat, und die ein leidlich aufmerksamer Leser auch nicht darin finden kann, um dieselbe dann lebhaft zu bekämpfen. Ich habe die Stelle in der N. Kr. I, 41, welche der In- duktion eine so umfassende Bedeutung für die „philosophische An- thropologie“ zuweist, nicht auf die „Deduktion“ bezogen, sondern eben auf die philosophische Anthropologie. Diese Unterschiebung war überhaupt nur dadurch möglich, daß von meinem Satze: „Die Untersuchung der philosophischen Anthropologie soll nach Fries auf den Standptmkt der empirischen Psychologie oder der inneren Selbstbetrachtung beginnen, erheben“ die hier gesperrten Worte weggelassen und durch die Beziehung auf die Deduktion ersetzt wurden. Die letztere Beziehung ist also aus- schließlich Eigentum Nelsons. Inwieweit sie tatsächlich richtig ist, wird sich aus den obigen Ausführungen ergeben, in welchen der Ver- such gemacht ist, über die für die richtige Auffassung der Friesischen Philosophie so wichtige Lehre von der Induktion eine vollständige fibersicht zu gewinnen. 2) Siehe oben Kap. I. 3) Metapb 184. Die Reflexion. 203 die Deduktion durch Induktionen aus der inneren Erfahrung durch „eine Theorie für die Form der vernünftigen Erkennt- nis“ vorbereitet werden1 2), aber sie selbst hat eine höhere Aufgabe zu erfüllen, welche durch Induktion nicht lösbar ist. Deutlicher wird uns die Rolle, welche nach Fries die Induktion in der Philosophie zu spielen hat, wenn wir ihr Verhältnis zur Spekulation in Betracht ziehen. Unver- kennbar tritt bei Fries die Ansicht hervor, daß die Speku- lation in ihrer Aufgabe einer Aufsuchung der Prin- zipien durch die Induktion unterstützt wird, und es wird von diesem Gesichtspunkte aus die Induktion der Spe- kulation koordiniert. Die Aufgabe der reflektierenden Urteils- kraft, „die Regel über den Fall hinzuzusuchen“, wird nach Fries auf zweierlei Weise erfüllt: „durch Spekulation, wenn die in unserer Erkenntnis schon vorausgesetzte Regel nur für die Reflexion herausgehoben werden durfte, oder durch Induktion, wenn wir die Regel aus gegebenen Fällen erst zu erraten suchen“ ; und beiden, der Spekulation wie der Induk- tion ist gemeinsam die Voraussetzung von Gesetz und Regel überhaupt, sie unterscheiden sich nur „nach einem eigenen Verhältnis zu dieser Regel“ *). Ja, die Induktion tritt ge- radezu da ein, wo die Spekulation nicht ausreicht. „Wir bedienen uns wissenschaftlich der Induktion da, wo die Spekulation nicht mehr imstande ist, uns die philosophischen und mathematischen Gesetze bis zur Unterordnung der ein- zelnen Erfahrungen genau anzugeben, um zu versuchen, ob 1) N. Kr. II, lä. Freilich spricht dies Fries gelegentlich in einer Form aus, welche mit jener Gegenüberstellung der Deduktion und der Induktion nur schwer zu vereinigen ist, wenn es z. B. N. Kr. II, 74 heißt: „Im Streite gegen diese, beiden [einseitigen Empi- rismus und einseitigen Rationalismus] sind wir dann auch eigent- lich genötigt worden, die höchsten Prinzipien unserer Theorie der transzendentalen Apperzeption durch Induktion aus innerer Er- fahrung abzuleiten“. Immerhin ist diese Ableitung selbst noch uicht die eigentliche Deduktion und die Wahl der Induktion als pole- misch bedingt bezeichnet. 2) N. Kr. II, 294 f. vgl. auch N. Kr. II, 311 „Alle Theorie bil- dete sich entweder durch Spekulation oder durch Induktion“. 204 Kapitel V. wir nicht umgekehrt aus den untergeordneten Fällen die übergeordnete Regel erraten können“. Und Fries bestätigt die hieraus sich ergebende Beziehung der Induktion auf die philosophischen und mathematischen Gesetze selbst, indem er den „wahren Berechtigungsgrund“ für dieses Verfahren darin findet, „daß wir im allgemeinen schon wissen : alle historische Erkenntnis steht unter empirischen Gesetzen und Regeln, die wir nur nicht immer für einzelne Fälle bestimmt genug auszusprechen imstande sind“ 1). Wie läßt sich diese von Fries der Induktion zugewie- sene Aufgabe mit den Bemerkungen vereinigen, nach welchen dasselbeVerfahren nur den Erfahrungswissenschaften dienen soll, um empirische Naturgesetze zu erforschen? Die Ant- wort auf diese Frage hängt teilweise von der Stellung ab, welche den „leitenden Maximen“ in der Induktion zu- kommt. 5. Die leitenden Maximen. Die Induktion schließt von der Zusammenstimmung mehrerer Fälle auf die Einheit einer zugrunde liegenden Regel. Die Schlußkraft derselben liegt aber nicht eigentlich in der Anhäufung der einzelnen Fälle, sondern in den lei- tenden Maximen, welche uns schon im voraus vermuten lassen, wo und wie wir eine Zusammenstimmung der Tat- sachen unter Gesetzen zu erwarten haben. Diese Maximen sind verschiedener Art je nach dem Grade ihrer Allgemein- heit. Die allgemeinsten leitenden Maximen für die Ausbil- dung der Wissenschaften überhaupt sind die Maxime der Einheit, welche besagt, daß alle menschliche Erkenntnis unter Gesetz und Regel steht, die Maxime der Mannigfal- tigkeit, nach welcher Gesetz und Regel immer erst an- schauliche Erkenntnis der einzelnen Tatsachen fordern, und die beide verbindende Maxime der Wissenschaft, nach welcher das Allgemeine nie aus dem Besonderen entspringt, 1) N. Kr. I, 401. Digitized by Google Die Reflexion. 205 vielmehr das Besondere stets den allgemeinen Bestimmungen unterliegt. Diese Maximen, welche in ihrer Verbindung die allgemeinen Regeln der Methode für Spekulation und In- duktion geben, sind aber selbst keine Gesetze, die als Prin- zipien eines Systems der Unterordnung angesehen werden dürften, sie sind uns nur behilflich in der Gewinnung all- gemeiner Gesichtspunkte für die Gesetze in einer Wissen- schaft oder auch für die Auffindung neuer Gebiete der An- wendung für schon bekannte Gesetze1 2 3). Eine zwreite Gruppe von Maximen *), und zwar die ge- haltvollsten unter allen, sind die aus den apodiktischen Er. kenntnissen, sowohl den mathematischen, als den metaphy- sischen entlehnten8). Unter den philosophischen und mathe matischen Prinzipien steht jede theoretische Untersuchung. Sie müssen daher durch ein richtiges spekulatives Verfahren schon ermittelt sein, ehe die Induktion beginnen kann4). Die metaphysischen Erkenntnisse spielen im Gange unseres Denkens überhaupt keine andere Rolle als diejenige leiten- der Maximen, da sie keine dogmatische Entwicklung in kon- stitutiven Systemen zulassen. Kriterien dieser Art sind z. B. der metaphysische Grundsatz der Beharrlichkeit, daß allem Wechsel in den Erscheinungen unveränderliche Wesen zu- grunde liegen, und derjenige der „Bewirkung“, daß alle Ver- änderungen nach notwendigen Gesetzen von Ursachen ab- hängen. Nehmen wir in der Natur bestimmte Veränderun- gen wahr, so setzen wir metaphysisch voraus, daß es Eigen- schaften unveränderlicher Wesen und daß sie durch not- wendige Ursachen bestimmt seien. Welches diese Wesen und Ursachen für den bestimmten Fall der Erfahrung aber seien, das bestimmt nicht das metaphysische Gesetz selbst, 1) Metaphysik 120, 164 ff. 2) Eine Einteilung- derselben gibt Fries selbst nicht; sie läßt sich nur aus zerstreuten Bemerkungen zusammenstellen, ermög- licht aber so erst einen Überblick über die Bedeutung derselben für die Induktion und damit über das wenig durchsichtige Verhältnis der Induktion zur Spekulation. 3) Metaphysik 120. 4) Logik 563. 206 Kapitel V. sondern erst mit Hilfe derselben als leitender Maxime „die induktorischo. Ausbildung der Erfahrungen“ l * *). Eben diese Ausbildung der Erfahrungen erfordert aber noch eine dritte Gruppe von Maximen. Neben den allge- meinen leitenden Maximen der Mathematik und Philosophie haben wir auch die Erfahrung selbst noch von dem höch- sten erreichbaren Gesichtspunkt aus zu übersehen, um da- raus „bestimmtere leitende Maximen“ zu bilden. So sind es z. B. die „leitenden Maximen der Mechanik des Him- mels“, welche den gemeinschaftlichen Erklärungsgrund der Planetenbewegungen bestimmen. So gibt uns die philoso- phische Sprachlehre Maximen für geschichtliche Sprach- forschung, und eben solche Maximen leiten alle experimentale Naturbeobachtung überhaupt*). Die Maximen solcher In- duktionen müssen daher für jedes Gebiet der Erfahrung be- sonders erforscht werden 8). 6. Resultate. Nun vermögen wir die Friesische Lehre von der Induk- tion und ihrem Verhältnis zur Philosophie völlig zu über- blicken. Das Resultat ist kein durchaus einheitliches. Die Hauptaufgabe der Induktion ist die Erforschung empirischer Naturgesetze. Sie dient — allerdings nicht als unabhängige Methode, sondern unter der Leitung der auf spekulativem Wege gewonnenen leitenden Maximen- derNaturgeschichte, der Chemie, der Experimentalphysik und Anthropologie, kurz, allen Wissenschaften, die in weitester Bedeutung zur Naturlehre als Erfahrungswissenschaft gehören4). Anderer- seits dient dieselbe Induktion als Ergänzung der Spekulation, 1) Metaphysik 121. 2) N. Kr. II, 295 f. 3) Logik 564, N. Kr. II, 315. Metaphysik 186 f. Die Forderung, daß die Maximen der „rationellen Induktionen“ (der in der Wissen- schaft allein zulässigen) erst für jedes Gebiet der Erfahrung beson- ders erforscht sein müssen, ist Metaph. 186 ungenauer weise von Fries ganz allgemein ausgesprochen, während es doch auch allgemeine leitende Maximen für das Gesamtgebiet der Erfahrung gibt. 4) Metaphysik 176. Die Reflexion. 207 indem wir da, wo das Mannigfaltige der Erscheinungen zu weit von den höchsten philosophisch mathematischen Ge- setzen entfernt steht, um vermittelst dieser konstruiert werden zu können, aus den einzelnen Tatsachen das Gesetz zu erraten suchen. Wir gelangen durch sie nicht bloß zu konstitutiven Gesetzen, sondern wir können uns dabei auch der leitenden Maximen, die, wie sich Fries gerne ausdrückt, „insgeheim“ zugrunde liegen, bewußt werden *), und zwar der „bestimmteren“, für die einzelnen Erfahrungswissen- schaften geltenden Maximen, die wir als dritte Gruppe ken- nengelernt haben, und für welche die Spekulation nicht aus- reicht. Da aber die letzteren nichts anderes sind als an- gewandte Philosophie und Mathematik, so haben wir, in- dem wir diese „erraten“, uns philosophische und mathema- tische Gesetze zum Bewußtsein gebracht. Nun verstehen wir, wie Fries in der Induktion eine Ergänzung der Speku- lation sehen kann. Daß aber die Stellung der Induktion in der Philosophie bei Fries nicht zu völliger Klarheit durch- gebildet ist, zeigt die einfache Gegenüberstellung zwreier Stellen, wie derjenigen, welche der Spekulation und De- duktion die Induktion als Dienerin der Erfahrungswissen- schaften und Mittel zur Erforschung empirischer Natur- gesetze entgegenstellt, und der anderen, wonach Spekula- tion und Induktion als Methoden der „reflektierenden Ur- teilskraft“ sich überhaupt nur nach ihrem Sonderverhältnis zu Gesetz und Regel im allgemeinen, der gemeinsamen Vor- aussetzung beider unterscheiden1 2). Die Grundposition der Friesischen Reflexionstheorie wird jedoch dadurch nicht berührt, die wir in dem Satze finden Können, daß die Spekulation als kritische Me- thode allein und wahrhaft über unsere philoso- phi sehen Erkenntnisse aufklären kann. Die In- 1) Vgl. N. Kr. II, 2%. 2) Metaph. 184, N. Kr. II, 295. Hierher gehört auch die Stelle N. Kr. II, 74, wo im Widerspruch mit der Höherstellung der kriti- schen Methode die Möglichkeit angedeutet wird, die Induktion als „oberste Instanz“ auch in „spekulativen Dingen“ anzusehen. 208 Kapitel V. duktion bleibt stets von ihr und von der Deduktion abhängig, da sie die Giltigkeit der ihr unentbehrlichen, leitenden Ma- ximen, die Giltigkeit der allgemeinen und notwendigen Wahrheiten, niemals von sich aus begründen kann. Fries steht in dieser methodologischen Frage dem Em- pirismus gegenüber gänzlich auf der Seite Kants. Der eng- lischen und französischen Erfahrungsphilosophie fehlt nach Fries das „helle Licht einfacher und fester Prinzipien“, die nicht selbst der Erfahrung zu entnehmen, sondern auf kriti- schem Wege zu gewinnen sind1). 1) Vgl. Metaph. 190. Kapitel VI. Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. Die Reflexion, welche uns bisher beschäftigt hat, ist nur ein „Wiederbewußtsein“; durch sie beobachten wir nur die in unserem Bewußtsein vorhandenen Erkenntnisse. Wo- her aber stammen diese Erkenntnisse selbst? Den ersten Inhalt der Erkenntnis von der äußeren und inneren Welt liefert die Sinnesanschauung. Der hierin gegebene Stoff wird durch die mathematische Anschauung in Raum und Zeit verbunden und durch das Denken zu empirischer und mathematischer Wissenschaft erhoben. Was aber der lo- gische Gedankenlauf hier leistet, ist nur die Zusammenord- nung von Teilen, der Inhalt liegt teils in der sinnlichen An- schauung der Erfahrung, teils in der reinen Anschauung. Aber es gibt neben der empirischen und mathematischen auch eine philosophische Wissenschaft, deren eigentümlicher Inhalt in den philosophischen Prinzipien besteht und in solchen ursprünglichen Erkenntnissen unserer Ver- nunft liegen muß, deren wir uns nicht unmittelbar in der An- schauung, sondern nur mittelbar im Denken bewußt wer- den. Eine genaue Beobachtung des eigentümlichen Inhaltes des logischen Gedankenlaufes muß uns also auf diese ur- sprüngliche unmittelbareErkenntnis der Vernunft führen, die den nächsten Gegenstand unserer Untersuchung zu bilden hat. Diese unmittelbare Vernunfterkenntnis ist, als Wissen- schaft dargestellt, die Metaphysik. Aus dem Bisherigen ergibt sich, daß es sich dabei um Erkenntnisse handelt, Elsenhans, J. F. Fries and die Kautlsche Erkenntnistheorie. 14 Digitized by Google 310 Kapitel VI. welche uns nur durch Denken bewußt werden, und, da wirk- lich neuer Inhalt durch das Denken gewonnen werden soll, um synthetische Urteile, so daß hier „Metaphysik“ völlig im Kantischen Sinne gebraucht wird: „Metaphysik ist die Wis- senschaft in synthetischen Urteilen a priori aus bloßen Be- griffen.“ Die hieraus resultierende Aufgabe ließe sich zunächst in 3 Fragen teilen: „1. welche Behauptungen finden in un- seren Urteilen statt, ohne daß die Behauptung auf Anschau- ung gegründet würde? 2. welche Prinzipien setzen wir bei diesen Beurteilungsweisen voraus? 3. wie entspringen diese Prinzipien in unserem Geiste ?“ Die Beantwortung der bei- den ersten Fragen fällt der Grundlegung und dem System der Metaphysik zu. Nur die letzte gehört im eigentlichen Sinne der erkenntnistheoretischen Untersuchung, der Kritik der Vernunft an. Es ist charakteristisch für die ganze Friesische Philo- sophie, daß in der Antwort auf die Frage: „Wie entsprin- gen diese Prinzipien in unserem Geiste?“ zugleich die Antwort auf die Frage nach ihrer Giltigkeit liegt. Wir können diese Prinzipien nicht erst machen, sondern nur als vorhandene aufwreisen, wir können auch ihre Giltigkeit nicht erst durch unsere wissenschaftlichen Hilfsmittel herbeiführen, sondern nur die schon vorhandene Überzeugung von ihrer Giltigkeit in wissenschaftliche For- men fassen, und dadurch allerdings aus ihr selbst heraus berichtigen. Eine wissenschaftliche Theorie der Vernunft und eine Deduktion der metaphysischen Prinzipien, wrelche jene Aufgabe zu lösen sucht, setzt also voraus, daß die in diesen Prinzipien zum Ausdruck kommende unmittelbare Erkenntnis der Vernunft sich als etwas unmittelbar Ge- wisses schon im gemeinen Menschenverstände ankündigt. Das psychologische Medium, durch welches dies geschieht, ist das Wahrheitsgefühl. Digitized by Google Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 211 A. Die Auffassung der unmittelbaren Erkenntnis im Gefühl. I. Das „Wahrheitsgefühl“ als Tatsache. Wir verwenden die Begriffe des Verstandes, indem wir schließen. Im Schlüsse aber wird stets eine Behauptung aus gegebenen Voraussetzungen abgeleitet. Es muß daher zuletzt erste Voraussetzungen geben, die selbst nicht wieder ableitbar sind. Woher erhalten wir diese? Nicht indem wir sie begreifen, sondern indem wir unmittelbar ihre Wahr- heit fühlen. Das Verständliche als Begreifliches führt zuletzt auf ein Unbegreifliches, dessen Wahrheit der Mensch nur fühlt. Es ist daher ein völlig unerfüllbares Ver- langen. alles „begreifen“ zu wollen. Wissenschaftliche Er- kenntnis kann vielmehr überhaupt nur vermittelst ihrer durchs „Gefühl der reinen Vernunft“ gegebenen ersten Vor- aussetzungen bestehen, und die Schlüsse in ihr wiederholen eigentlich nur die in den Voraussetzungen enthaltene im Gefühl gegebene Gewißheit1). Daß Gefühle bei unseren Beurteilungen der Wahrheit mitwirken, bestätigt ja auch die tägliche Erfahrung. Man sagt z. B. : ich fühle wohl, daß du recht haben magst, aber ich sehe es noch nicht klar ein. Oder man antwortet einem, der für ein Geschäft guten Rat sucht: nähere Regeln lassen sich da nicht vorschreiben, dein Gefühl wird dir schon sa- gen, was du zu tun hast. Ebenso setzen wir ein allgemeines Wahrheitsgefühl, ein moralisches Gefühl, Gewissen genannt, voraus, welches über den sittlichen Wert der Handlungen entscheidet, und ein Gefühl der Lust und Unlust, welches dem Geschmack angehört und als ästhetisches Gefühl dazu dient, das Schöne und Erhabene zu beurteilen *). In allen diesen Fällen tritt dem Erschließen einer Wahrheit die un- mittelbare Behauptung derselben im Urteil durch Gefühl gegenüber. 1) Ps. Anthrop. I, 178; II, Vorr. XV; Motaph. HO. 2) Logik 352, N. Kr. I, 406. 212 Kapitel VI. II. Die Arten des Wahrheitsgefühls. Genauer lassen sieh drei Arten des Wahrheitsgefühls unterscheiden. Die erste Art derselben beruht nur auf dem Grade, wie weit ich mir eben jetzt der Gründe eines Urteils bewußt bin. Jedes Urteil nur nach bestimmten Begriffen und ab- gemessenen Schlüssen aussprechen zu wollen, ist der Fehler der Pedanterie. Gesunde, lebendige Urteilskraft muß sich im Leben oft dem Gefühl anvertrauen. Insbesondere ist dies der Fall in allen verwickelten Verhältnissen, in welchen schnelle Entscheidung gefordert wird. Hierher gehört teils der praktische Takt des Geschäftsmanns, des Advokaten, der in der verwickeltsten Prozeßsache nach einer kurzen Übersicht eine Entscheidung trifft, des Arztes, der nach we- nigen Fragen den Zustand eines Kranken genau zu beur- teilen weiß; teils das sittliche Gefühl, wobei das Ge- wissen unmittelbar ohne Vergegenwärtigung aller Prämissen des Urteils den Wert einer Handlung abmißt. In allen die sen Fällen wirken die Bestimm ungsgründe des Urteils, wenn auch nur in dunkler Vorstellung, mit, und wir geben auch zu, daß, wenn wir uns nachträglich ausführlich überlegen wollen, was unser Urteil bestimmt hat, das Gefühl sich in bestimmte Begriffe und Schlüsse müsse auflösen lassen. Wo es daher auf wissenschaftliche Untersuchung ankommt, gilt die Berufung auf diese Gefühle gar nichts, sie gelten nur etwas, sofern sie sich ganz in logisch deutliche Schlußreihen auflösen lassen. Wo diese Kontrolle fehlt, wird das Gefühl der Schutz aller Vorurteile. Hingegen lassen die beiden anderen Arten der Gefühle keine solche Auflösung in Rai- sonnement zu. Bei der zweiten Art handelt es sich um die unmittel- bare Tätigkeit der subsumierenden Urteilskraft. Ich kann zwar zu einer gegebenen Regel stets wieder eine neue hinzufügen, welche mich lehrt, wie die erste anzuwenden sei. Soll ich aber überhaupt zu wirklichem Denken kom- men, so muß ich doch einmal eine Regel unmittelbar selbst Digitized by Google Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 213 anwenden, einem Begriff unmittelbar etwas uuterordnen. Dies geschieht aber nicht wiederum durch vermittelnde Be- griffe des Verstandes, sondern durch die unmittelbare Tätig- keit der Urteilskraft im Gefühl. Die dritte Art der Gefühle zeigt sich als Tätigkeit der reflektierenden Urteilskraft bei jedem Urteil, das wir un- mittelbar der Anschauung entnehmen, und bei jedem philo- sophischen Grundurteil, welches der ursprünglichen Belbst- tätigkeit der Vernunft entspringt, z. B. bei dem Ich bin des Selbstbewußtseins, besonders aber auch da, wo die Ur- teilskraft ihren eigenen für den Verstand nicht erreich- baren Prinzipien folgt, in den Urteilen über Schönheit. Diese letzte Klasse von Gefühlen ist es also, welche der Auffassung der unmittelbaren Erkenntnis dient. Auch diese sind, wie die der zweiten Art, im Gegensatz zu der ersten, welche sich in Schlußreihen entwickeln läßt, un- auflöslich *). Bei der großen Bedeutung, welche Fries der letzt- genannten Art des Wahrheitsgefühls für die philosophische Erkenntnis überhaupt zuschreibt, und bei der zentralen Stel- lung, welche ihm in seinem System zukommt, ist eine ge- naue Abgrenzung derselben anderen verwandten Begriffen gegenüber erforderlich. III. Das „Wahrheitsgefühl“ in seinem Verhältnis zum „Glauben“. Ist das „Wahrheitsgefühl“, von welchem Fries redet, nicht einfach dem „Glauben“ gleichzusetzen? Zur gegen- seitigen Abgrenzung beider Begriffe ist es nötig, auf den Friesischen Glaubensbegriff etwas näher einzugehen. 1. Glaube in logischer und in metaphysischer Bedeutung. Zunächst sind drei Arten des logischen Fürwahrhaltens zu unterscheiden: Wissen, Glaube und Meinung. Wissen 1) Logik 363 ff. N. Kr. I, 407 ff. Digitized by Google 214 Kapitel VI. bedeutet Fürwahrhalten mit vollständiger Gewißheit. Mei- nung dagegen heißt nur Fürwahrhalten mit Wahrschein- lichkeit, die Annahme eines vorläufigen Urteils. Wir wür- den aber gar keine Veranlassung haben, ein solches nur wahrscheinliches Urteil auszusprechen, wenn wir nicht ein Interesse an dieser Annahme hätten. Eben dadurch ent- steht aber der Glaube in der gewöhnlichsten Bedeutung des Wortes. Glaube nach logischer Bedeutung des Wor- tes ist die Annahme einer Meinung, nur weil mich ein In- teresse treibt, in Rücksicht ihrer mein Urteil zu bestimmen. Nun kommen aber dieselben Worte, Wissen und Glau- ben, auch in den hiervon ganz zu unterscheidenden Über- zeugungsweisen der Vernunft in anderer Bedeutung vor. Während es sich in der erstgenannten bloß logischen Be- deutung der Worte nur um Verhältnisse zur Reflexion han- delt, betreffen hier Wissen, Glaube und Ahndung die tran- szendentale Bestimmung der unmittelbaren Erkenntnis selbst. Wissen heißt hier nicht die vollständige Gewißheit, sondern alle Überzeugung aus der Anschauung, Glaube die Überzeugung ohne Beihilfe der Anschauung, und die dritte hier in Betracht kommende Art, die „Ahndung“, heißt die Überzeugung nur aus Gefühlen ohne „bestimmten Begriff“. Glaube als reiner Vernunftglaube ist daher nach Fries die Überzeugung, welche dem Menschen nur im reinen Denken durch Ideen klar wird. In diesem Sinne „glauben“ wir „an die ewige Wahrheit und ein ewiges Wesen der Dinge an sich, welches unabhängig von Raum, Zeit und Zahl, unab- hängig von Natur und Schicksal stattfindet“ 1). Beides, die logische und die metaphysische Bestimmung dieser Wortbedeutungen, darf nicht verwechselt werden. Fries meint diese Verwechslung in Kants Glaubensbegriff zu finden. 1) Logik 423. N. Kr. I. 397 ff. Metaph. 4«5 ff. Prakt. Philo- sophie II, 27 ff. Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 215 2. Kants Glaubensbegriff. Kants ältere Bestimmungen des Glaubens bezogen sich auf den historischen Glauben, der nur eine Art des Glau- bens im logischen Sinne ist. Stets handelt es sich dabei um ein Fürwahrhalten auf das Zeugnis eines anderen hin. In Erfahrungssachen, in Geschichte und Beschreibung sind wir meistens darauf angewiesen. Auch Vernunfterkennt- nisse, philosophische und mathematische lassen sich so über- tragen. Der gemeine Mann glaubt die Religionslehre seinem Katechismus. Selbst Gelehrte müssen viele mathematische, Wahrheiten z. B. beim Gebrauch trigonometrischer Tafeln, auf Zeugnis annehmen. Aber dieser „historische Glaube“ be- ruht stets auf einem Wahrscheinlichkeitsschluß, welcher be- stimmt, ob der Zeuge die Wahrheit gesagt habe, oder nicht. Dieser „Glaube“ kann daher nicht die Überzeugung mit sich führen, welche dem Glauben an die ewige Wahrheit in der Regel zugeschrieben wird, darf also nicht mit dem meta- physischen Glauben vermengt werden. In der Kritik der reinen Vernunft1) hat dann Kant den Glauben genau definiert als ein Fürwahrhalten aus objektiv unzureichenden, subjektiv aber zureichenden Gründen. Aber Fries wendet ein, es käme nun darauf an, noch weiter zu er- klären, was dies „subjektiv zureichend“ bedeute, diese nähere Bestimmung fehle bei Kant, und wenn wir sie suchen, so finde sich, daß er die logische und metaphysische Bedeutung des Glaubens miteinander vermengt habe*). Bei genauer Lektüre der Kantischen Ausführungen wird man diese Kritik kaum berechtigt finden. Die von Fries vermißte Erörterung dessen, was unter dem „subjektiv zureichend“ zu verstehen sei, wird von Kant tatsächlich gegeben. Das theoretisch un- zureichende Fürwahrhalten kann nach Kant eigentlich bloß in praktischer Beziehung Glaube genannt werden, und zwar ist diese praktische Absicht entweder die der Gesehicklich- 1) Im dritten Abschnitt des „Kanons der reinen Vernunft“ Kr. d. r. V. 622 f. 2) Logik 424 f., 525 f. N. Kr. I, 399 f. 216 Kapitel VI. keit oder der Sittlichkeit. Im ersteren Falle ist die Voraus- setzung und das Fürwahrhalten gewisser Bedingungen z. B. der Glaube des Arztes, die von ihm nicht sicher festzustel- lende Krankheit sei Schwindsucht, ein zufälliger Glaube, oder da er dem wirklichen Gebrauche der Mittel zu gewissen Handlungen zugrunde liegt, ein pragmatischer Glaube. Ein „Analogon“ dieses praktischen ist derjenige Glaube, der sich auf ein Objekt bezieht, hinsichtlich dessen wir zwar nichts unternehmen, aber doch eine Unternehmung uns wenigstens denken können. Kant nennt dies den „dok- trinalen Glauben“ und rechnet hierzu z. B. den Glauben, daß es auch Bewrohner anderer Welten gebe, aber auch die Lehre vom Dasein Gottes, da die zweckmässige Einheit der Natur als vollendet gedacht, mich nötigt, einen wreisen Welt- urheber vorauszusetzen. Diesem pragmatischen und diesem doktrinalen Glau ben, der nach Kant etwas Wankendes an sich hat, da Schwierigkeiten der Spekulation ihn häufig zurückdrängen, ohne ihn jedoch beseitigen zu können, steht gegenüber der moralische Glaube, der ein notwendiger ist, da er auf schlechthin notwendige Zwecke, nämlich das Handeln nach dem Sittengesetz, sich bezieht und daher auch die einzige Bedingung, unter welcher dieser Zw'eck mit allen übrigen Zwecken zusammenhängt und dadurch praktische Giltigkeit erhält, nämlich daß es einen Gott und eine künftige Welt gibt, als notwendigen Glauben miteinschließt. Fries meint nun aber, selbst derKantische sogenannte moralische Glaube beruhe nur auf einer Mißdeutung des rei- nen Vernunftglaubens oder der Überzeugung ohne Anschau- ung infolge einer Vermengung mit dem logischen Begriff des Glaubens1), und er sucht dies in seinem „Handbuch der prak- tischen Philosophie“ näher zu zeigen. Wer von der Not- wendigkeit der sittlichen Gebote überzeugt sei und Unsterb- lichkeit und Gottheit als die Bedingungen ihrer Giltigkeit anerkenne, müsse allerdings auch von der Wahrheit der letzteren überzeugt sein, aber man könne das doch nicht als 1) N. Kr. I, 399 f. Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 217 das letzte Wort in dieser Untersuchung anerkennen. „In der Erklärung“ , fährt Fries fort, „daß Glaube ein nur subjek- tiv begründetes Fürwahrhalten sei, hat sich Kant doch wohl von dem logischen Begriff der Annahme einer wahrschein- lichen Meinung, welche nur subjektiv bestimmt werden kann, leiten lassen; und allerdings wird auch so, wenn wir irgend etwas als Bedingung der Möglichkeit der notwendig aner- kannten sittlichen Gesetze zu bestimmen vermögen, ein, wenn schon subjektives, doch n o t wen d i ges Fürwahrhalten aus einem Bedürfnis der reinen praktischen Vernunft be- stimmt sein. Allein wie könnten wir denn etwas als Bedin- gung der Möglichkeit derSittengesetze bestimmen, wenn uns nur wissenschaftliche und keine ewige Wahrheit zu Gebote steht? Die religiöse Überzeugung, der wahre Glaube kann durch keinen Beweis, auch nicht durch Kants moralischen Beweis im eigentlichen Sinne begründet werden. Jeder an- scheinende Beweis enthält hier ein verdecktes ütmpov trpö- T€pov, denn „das Vertrauen auf Gott, die Grundüberzeugung von dem heiligen Urgrund aller Dinge ist die erste Glau- benswahrheit, von der irgend eine andere nur abgeleitet werden kann“ l). Nun hat aber Kant keinen Zweifel darüber gelassen, daß es sich bei seinem moralischen Glauben nicht um Wissen, nicht um logische Gewißheit, sondern um moralische Ge- wißheit handelt. Da diese Gewißheit „auf subjektiven Grün- den (der moralischen Gesinnung) beruht, so muß ich nicht einmal sagen: es ist moralisch gewiß, daß ein Gott sei etc., sondern ich bin moralisch gewiß etc. . . . das heißt: der Glaube an einen Gott und eine andere Welt ist mit meiner moralischen Gesinnung so verwebt, daß, so wenig ich Ge- fahr laufe, die zweite einzubüßen, ebensowenig besorgeich, daß mir der crstere jemals entrissen werden könne“ 2). Die einzige Voraussetzung, auf welche dieser Vernunftglaube sich gründet, ist die moralische Gesinnung. Sehen wir da- 1) Prakt. Philos. II, 85 f. 2) Kr. d. r. V. 626, vgl. auch Kritik der prakt. Vernunft 151, 174, 162. 218 Kapitel VI. von ab und denken uns „einen, der in Ansehung sittlicher Gesetze gänzlich gleichgiltig wäre, so wird die Frage, welche die Vernunft aufwirft, bloß eine Aufgabe für die Spekulation und kann alsdann zwar noc h mit starken Gründen aus der Analogie, aber nicht mit solchen, denen sich die hart- näckigste Zwei felsucht ergeben müßte, unterstützt werden“1). Damit tritt der Unterschied, welchen Kant zwischen dem theoretischen Fürwahrhalten und dem Vernunftglauben macht, in voller Schärfe hervor Der Kern der Friesischen Kritik ist aber eigentlich gegen die Beziehung gerichtet, welche bei Kant zwischen der moralischen Gesinnung und dem Inhalt des moralischen Glaubens, zwischen der prak- tischen Vernunft und den „übersinnlichen Gegenständen“ besteht. Er sieht darin einen, wenn auch nicht theoretischen, so doch moralischen Beweis, der die Giltigkeit einer ewigen Wahrheit eigentlich schon voraussetze. Darin läge der Vor- wurf eines Zirkels in der Beweisführung, eine methodolo- gische Frage, die uns, im Zusammenhang mit der allge- meinen Voraussetzung des Erkennens überhaupt, später zu beschäftigen haben wird. Im bisherigen haben wir zunächst die Grundlage ge- wonnen, um das Wahrheitsgefühl dem Glauben gegenüber abzugrenzen. Das, was Fries Glauben in logischer Bedeu- tung nennt, ist schon dadurch, daß es nur zu Wahrscheinlich- keiten führt, von dem Wahrheitsgefühl völlig verschieden. Kants reiner praktischer Vernunftglaube stimmt wenigstens hinsichtlich der unmittelbaren, nicht erst durch Reflexion vermittelten Überzeugung von der Giltigkeit des Sittenge- setzes mit dem Friesischen Wahrheitsgefühl überein, be- zieht sich aber auf ein engeres Gebiet als dieses auf die philosophischen Grundwahrheiten überhaupt bezügliche „Be- wußtsein einer notwendigen rein vernünftigen Erkenntnis“. 3. Fries und Jakobi. Diese zu enge Bedeutung des Glaubensbegriffes ist auch der erste der Gründe, welche Fries veranlassen, trotz so 1) Kr. d. r. V. 627. Digitized by Google Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 219 mancher Berührungspunkte dem Glaubensbegriff Jako bis sein „Wahrheitsgefühl“ gegenüberzustellen. Wenn Jakobi die Überzeugung mit unmittelbarer Gewißheit Glaube oder auch Offenbarung nannte, so wählte er mit Offenbarung einen zu künstlichen, mit Glauben einen dem deutschen Sprachgebrauch nicht allgemein entsprechenden Ausdruck. Denn abgesehen davon, daß Glaube als „historischer Glaube“ in vielen Fällen gar keine unmittelbare Gewißheit gewährt, sondern das Urteil nur auf mündliche oder schriftliche Zeug- nisse gründet, gibt es außer den Religionswahrheiten, auf welche der Glaube sich bezieht, noch mancherlei Fälle, in denen wir Urteile mit unmittelbarer Gewißheit behaupten, Urteile über Wahrgenommenes auf Grund von Sinnes- anschauungen, Behauptung mathematischer Grundsätze aus reiner Anschauung, Voraussetzung philosophischer Grund- wahrheiten. Wer wird z. B. sagen, er glaube daran, daß jede Veränderung eine Ursache habe oder daß in allen Gegen- wirkungen der Körperwelt die Masse weder vermehrt noch vermindert werden könne, und doch setzt der gemeine Men- schenverstand in den gewöhnlichen Beurteilungen des täg- lichen Lebens diese Wahrheiten voraus. „Nur bei den Reli- gionswahrheiten, z. B. bei der Überzeugung, daß die Seele unsterblich, daß ein heiliger Wille der Urheber aller Dinge sei, ist das Wahrheitsgefühl zugleich reiner Glaube, eine Überzeugung des sittlichen Selbstvertrauens“1). Fries trifft damit denjenigen Punkt, welcher Jakobis Glaubensphilosophie die meisten Angriffe eingetragen hat. 1) Metaph. 73 f., vgl. auch N. Kr. I, 338: „Jakobi appellierte da- gegen an den Glauben und die Offenbarung, ohne die uns nicht einmal die einfachste Überzeugung um eine Farbe und einen Schall wird; seine Sätze aber blieben zu undeutlich, er behielt nur mit der Negative recht. Was hilft es uns, gegen Zweifel und Unglauben an den Glauben zu appellieren ? Die den Glauben haben, sind wohl geschützt, die Kunst ist nur, die Ungläubigen von uns abzuhalten. Gegen diese ist aber das Lobpreisen des Glaubens nur gewalttätiges Partei- machen, um nicht allein zu stehen, sondern sich mit seinen Freun- den als den Auserwählten und Eingeweihten in Ansehen zu er- halten.“ 220 Kapitel VI. Die weitere Bedeutung des „Glaubens“, die Ausdehnung dieses Begriffes auf Objekte, auf welche er gewöhnlich nicht angewandt wird, bildet einen der Hauptgegenstände der Ja- kobischen Schrift: „David Hume über den Glauben“1), und und der Gedankengang dieser Schrift bestätigt das Recht der kritisc hen Vorsicht, mir welcher Fries für die ihm mit Jakobi gemeinsame „Überzeugung mit unmittelbarer Gewiß- heit“ die Bezeichnung „Wahrheitsgefühl“ derjenigen des „Glaubens“ vorzog. Schon der Eingang des Gesprächs be- leuchtet die Begriffsverwirrung: „Ich: . . . Sehen sie den Band an! — Humes Essays! Er: Also wider den Glauben? Ich: Für den Glauben! Haben sie den Hume kürzlich ge- lesen?“ und Jakobi — Ich verteidigt sich dann gegen den Vorwurf, einen „blinden Glauben“ zu lehren, durch den Hin- weis auf die eines strengen Beweises nicht fähige und darum auch nur zu glaubende unmittelbare Gewißheit der äußeren Gegenstände und — wras für uns von besonderem Interesse ist— auf die Autorität Humes und seinen Begriff des belief. „Alle die bitteren Vorwürfe“, heißt es da, „die ich eben ab- gelesen habe, die muß alle hier mein guter David Hume auf- laden. Er mag sehen, wie er sich mit der Logik und dem Menschenverstände vergleicht, und zu den ersten Regeln des Vernunftgebrauchs den Rückwreg findet; er mag sehen, wie er die Vorwürfe von KevoboHa, von Wortspielerei, Wind- macherei, blauem oder leerem Dunst, vornehmlich aber den Verdacht von sich abtreibe: er wolle unvermerkt alles auf Glauben an positive Sätze der Religion zurück- bringen. Denn es ist auch nicht Einer von diesen Aus- fällen, der ihm nicht gerade auf den Leib ginge, da er sich des Wortes Glaube nicht allein in demselbigen Verstände, worin es von mir gebraucht worden ist, bedient, sondern auch bei demselben mit Bedacht sich aufhält, um zu er- härten, daß es das eigentliche Wort für die Sache sei; das Einzige, dessen man sich dabei mit F ug bedienen könne“ *). 1) F. H. Jakobis Werke II, 127 ff.: David Hume über den Glauben, oder Idealismus und Realismus, ein Gespräch. 2) ka. a. 0. 149 f. Digitized by Google Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 221 Aber Jakobi kann sich in dieser Form auf die Autori- tät Humes nur deshalb berufen, weil er das Wort belief mit Glauben übersetzt, und dieses deutsche Wort auch das mit- umfaßt, was Hume als faith bezeichnet. Gerade derjenige Unterschied, dessen Nichtbeachtung den Gegnern Jakobis so anstößig war, ist bei Hume vorhanden. Während Jakobi die unmittelbare Überzeugung vom Dasein der sinnlichen Objekte mit derjenigen vom Übersinnlichen in dem einen Worte Glauben zusammenfasst, gebraucht Hume für den religiösen Glauben die Sonderbezeichnung faith und ver- steht unter belief die aus einer gewohnheitsmäßigen Ver- knüpfung der Vorstellungen entspringende Überzeugung von der Existenz eines Gegenstandes oder seiner Beziehung zu anderen Objekten, die sich von der Einbildung nur durch ein eigenartiges Gefühl unterscheidet1). Bei Jakobis Gewährsmann Hume findet sich also ge- rade derjenige Unterschied, den Fries bei Jakobi vermißt, die Unterscheidung zwischen dem religiösen Glauben und der Überzeugung mit unmittelbarer Gewißheit überhaupt. 1) Man vergleiche folgende Stellen bei Hume: „It follows, therefore, that the difference between fiction and belief lies in some Sentiment or feeling, whieh is aunexed to the latter, not to the forrner, and whieh depends not on the will, nor can be comman- ded at pleatmre.“ „I sav then, that belief is nothing but a more vi- vid, lively, forcible, firm, steadv conception of an object, than what the irnaginaüon alone is ever able to attain.“ An Enquiry concerning Human Understaudlng, Se.et. V, Part II. Ausgabe von Green and Grose Vol. II, S. 134; und die andern: a. a. O. Sect. XII, Part. III: „Divinity or Theology, as it proves the existente of a Deity, and the immortality of souls, is eomposed partlv of reasonings concerning particular, partly concerning general facts. It has a foundation in reason, so far as it is supported by experienee. But it best and most solid foundation is faith aud divine revelation“; endlich in den Dialogues concerning Natural Religion (A Treatise of Human Na- ture and Dialogues coucerning Natural Religion. Ausg. Green and Grose, Vol. II, 382): „You propose then, Philo, said Cleanthes, to erect religious faith on philosophical scepticism; and vou think, that if certainety or evidence be expelled from every other subject of en- quiry, it will all retire to these theological doctrines, and there ac- quire a superior force and authority.“ 222 Kapitel VI. Übersetzt man das Humesehe belief mit Glauben *), so wird der ganze Unterschied wieder verwischt, und allen den Mißverständnissen, welche die glücklichere Formulierung dieser Überzeugungsweise im Friesischen „Wahrheitsge- fühl“ zu vermeiden wußte, ist wieder Tür und Tor geöffnet. Wird so von Fries der religiöse Glaube nur zu einer besonderen Art des Wahrheitsgefühls in Beziehung gebracht und dadurch von dem Wahrheitsgefühl überhaupt unter- schieden, so handelt es sich nun weiter darum, dasselbe der Sinnesanschauung gegenüber abzugrenzen. IV. Das Verhältnis des „Wahrheitsgefühls“ zum „Sinn“. Fries liegt besonders daran, eine Vermischung seines „Wahrheitsgefühls“ mit dem „Sinn“ oder mit der Anschau- ung zu verhindern. Diese Vermischung hat nach Fries teils der Mystizis- mus, teils die englische Psychologie verschuldet. 1. Fries und der Mystizismus. Der Lehre von Wahrheitsgefühl ist vorgeworfen wor- den, die Berufung auf das Gefühl sei mystisch und be- günstige die Schwärmerei. Aber dieser Vorwurf ist nur da- durch möglich, daß das Wahrheitsgefühl mit „Sinn“ ver- wechselt wurde. Mystizismus besteht keineswegs darin, daß der Mensch seinem Wahrheitsgefühl folgt, sondern darin, daß er sich auf keine wissenschaftliche Rechtfertigung der Aussprüche seines Gefühls einlassen will, in der Einbildung des Schwärmers, daß er eines nur ihm eigenen inneren 1) Am meisten dürfte sich noch der Ausdruck „Überzeugung“ empfehlen. Die Übersetzung mit „Gewißheit“, die z. B. Riehl (Der philosophische Kritizismus I, 65, neben „Überzeugung“ und in miß- verständlicher Weise damit abwechselnd) gebraucht, wird wohl des- halb besser vermieden, weil Hume selbst das entsprechende eng- lische Wort certainety (z. B. Enquirv a. a. O. II, 22) für die durch Demonstration nachweisbaren Wahrheiten der Mathematik anwendet. Digitized by Google Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. m „Sinnes“, einer geheimnisvollen inneren Anschauungsweise teilhaftig worden sei, oder — so ist es bei den großen wissen- schaftlichen Vertretern des Mystizismus — in der Verwechs- lung der gedachten Erkenntnis mit der anschaulichen. So beurteilt Pythagoras die abstrakten rein mathematischen Formen, Platon die abstrakten logischen Formen in der- selben Weise, wie wir die Gegenstände der Sinnesanschau- ung zu beurteilen pflegen. Was also den Mystikern gemein- sam ist, ist eigentlich die Voraussetzungeines höheren An- schauungsvermögens, während die Anschauung beim Menschen doch nur als Sinnesanschauung möglich ist. Dieser mystische Grundzug ist es auch, der nach Fries der Philosophie seines Freundes Jakobi eigen ist. und durch die er sich von ihm geschieden weiß. Er spricht sich darüber am deutlichsten in seiner Geschichte der Philosophie aus1). Jakobi erkannte mit durchgreifendem Scharfsinn die Schwä- che des logischen Dogmatismus, die darin liegt, daß jeder Beweis wieder Voraussetzungen fordert, alle erweisliche Wahrheit daher auf unmittelbaren ersten Wahrheiten ruhen muss. Daraus hätte sich für ihn die Aufgabe ergeben müs- sen, das System dieser unmittelbaren und unerweislichen not- wendigen Wahrheiten aufzusuchen und nachzuweisen. Aber eine solche schulmäßige Aufgabe stellte er sich nicht, son- dern er gefiel sich nur darin, philosophische Herzens- angelegenheiten rednerisch auszuschmücken, rednerisch zu verteidigen, und so wandte er seine Lehre vom Glauben be- sonders zur Verteidigung des Glaubens an eine höhere gött- liche Wahrheit an. Damit verwickelte er sich, obwohl ent- schiedener Feind alles Mystizismus, doch in eine mystische Art zu philosophieren und „befreundete sich mit jener an- geblich geistreichen Dunkelsprecherei, wofür die Leute den Hamann loben, und welche in der liebenswürdigeren Weise z. B. des Claudius und Herder in humoristische Dichtung übergeht, aber auch so dem festen wissenschaftlichen Denker 1) Fries, Geschichte der Philosophie II, 1840, S. 645 ff., vgl. auch Fries, Von deutscher Philosophie, Art und Kunst, den Abschnitt: „Jakobis Gabe und seine Fehler®, 38 ff. 224 Kapitel VI. nur lästig wird mit ihren Sprüchen, die, wenn sie philoso- phisch gemeint sein sollen, weder wahr noch falsch sind“. Von hier aus ist auch Jakobis Streit mit Kant zu beurteilen. Jakobi hat vollkommen recht gegen Kant in den Einwen- dungen, welche er gegen Kants Lehre vom transzenden- talen Idealismus macht. Es weist ganz richtig darauf hin, wie Kant in seinen scharfen Sätzen von der gänzlichen Un- erkennbarkeit der Dinge an sich seinem eigenen transzenden- talen Idealismus und dann seiner Lehre widerstreite, daß der Gegenstand in der Sinnesanschauung den Sinn zu seiner Er- kenntnis affiziere. Allein Jakobi gibt dem ganzen Streit da- durch eine falsche Wendung, daß er die eigentliche Bedeutung des transzendentalen Idealismus nie verstand und gegen Kant für einen Realismus streitet, den Kant nie verworfen hatte, sondern in seiner ganzen intelligibeln Weltansicht voraus- setzte. So trifft seine Gegenrede eigentlich immer nur den Fichteschen Idealismus, niemals aber wahrhaft den Kanti- schen. Doch diese ganze Polemik der Einwendungen taugt nie zur Bestreitung eines großen philosophischen Werkes. So ist Jakobi hier an einem untergeordneten Fehler Kants hängen geblieben und hat daneben nicht gesehen, daß Kants großes Werk ja gerade die große Aufgabe löst, auf die er selbst hinwies, ohne sie zu lösen. „Das ganze große Werk des transzendentalen Leitfadens und des kategorischen Gebotes, sowie die richtige Behandlung des transzendentalen Idealis- mus in der Lehre von den Antinomien hat er gar nicht be- achtet, wiewohl mit dieser Nachweisung der synthetischen Urteile a priori gerade alle jene philosophischen Grund- wahrheiten nachgewiesen worden sind, welche Jakobi dem Glauben oder dem Gefühl fordert.“ Der spätere Jakobi hat wenigstens den Unterschied zwischen der „Sinnes e m p f i n d u n g“ und dem die „ Erkenntnis des Übersinnlichen vermittelnden Geistesgefühl“ stark be- tont und durch die enge Beziehung, in welche er nun das letztere zur „Vernunft“ setzt, eine Annäherung an die Frie- sische Gefühlstheorie vollzogen. Er beklagt es jetzt, daß er dreißig Jahre vorher in dein Gespräch „David Hume über Digitized by Google Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 225 den Glauben“ mit allen ihm gleichzeitigen Philosophen Ver- nunft nannte, was nicht Vernunft ist: nämlich das über der Sinnlichkeit schwebende Vermögen der Begriffe, Urteile und Schlüsse, das doch unmittelbar aus sich schlechterdings nichts offenbaren kann, daß er dagegen das, was die Ver- nunft wirklich und wahrhaft ist „das Vermögen der Voraus- setzung des an sich Wahren, Guten und Schönen, mit der vollen Zuversicht zu der objektiven Giltigkeit dieser Vor- aussetzung“ unter dem Namen Glaubenskraft über die Ver- nunft stellte — eine Quelle arger Mißverständnisse und un- überwindlicher Schwierigkeiten des Ausdrucks und der Darstellung seiner wahren Meinung 1). Jetzt aber ist ihm das „Vermögen der Gefühle“, dasjenige, welches den Men- schen allein „von dem Tiere spezifisch unterscheidet, ihn der Art, nicht bloß der Stufe nach, d. i. unvergleichbar Über dasselbe erhebt“, „mit der Vernunft eins und dasselbe“ ; oder anders ausgedrückt: „Es gehet uns das, was wir Ver- nunft nennen, und über den bloßen, der Natur allein zuge- wandten Verstand erheben, aus dem Vermögen der Gefühle einzig und allein hervor. Wie die Sinne dem Verstände in der Empfindung weisen, so weiset ihm die Vernunft im Ge- fühle.“ „Wo Vernunft nicht ist, da sind auch keine objektive, etwas außer ihnen selbst dem Bewußtsein unmittelbar dar- stellende Gefühle; wo solche Gefühle sind, da ist unfehlbar auch Vernunft; da offenbaren sich und treten tätig hervor Freiheit, Tugend, Gotteserkenntnis, Weisheit und Kunst.“ Jakobi beruft sich auch auf die Friesische Theorie des Ge- fühls und erklärt sich mit ihm einverstanden, wenn er die objektiven oder reinen Gefühle für unmittelbar aus der Ver- nunft entspringende Urteile erklärt und sie Gr und urteile der Vernunft nennt. Aber er weicht von Fries immer noch darin ab, daß er neben der Anschauung durch den Sinn eine rationale Anschauung durch die Vernunft annimmt, die uns die 1) Jakobi, Vorrede (zu der Schrift David Hume über den Glauben) zugleich Einleitung1 in des Verfassers sämtliche philo- sophische Schriften. Jakobis Werke II. Bd. 10 f., 60. £lsenhana, J. F. Fries and die Kantische Erkenntnistheorie. 15 236 Kapitel VI. Natur jenseitiger Gegenstände zu erkennen gibt, d. h. ihre Wirklichkeit und Wahrheit uns gewiß macht. Die Sprache besitze keinen anderen Ausdruck, um die Art und Weise an- zudeuten, „wie dem Verstände das den Sinnen unerreichbare, in überschwenglichen Gefühlen allein, und doch als ein wahrhaft Objektives — das er keineswegs bloß erdachte — zu erkennen gegeben wird“ l). Gerade diese Voraussetzung eines höheren Anschau- ungsvermügens ist es ja, welche Fries nichtgelten lassen will. 2. Fries und die Engländer. Aber stimmt diese Lehre vom Wahrheitsgefühl nicht mit der von den Gegnern Humes, besonders Reid, vertretenen Lehre vom common sense und den Aussprüchen des common sense, vom „gesunden Menschenverstand“, wie man das Wort übersetzt hat, überein, deren Seichtigkeit doch von Kant und seinen Anhängern hinlänglich nachgewiesen wor- den ist? „Der Absicht nach“, meint Fries, kommt diese Lehre vom Wahrheitsgefühl ja mit der ganzen Aufgabe der Kritik der Vernunft überein. Aber Reid mit seinen Anhän- gern teilt den allgemeinen Felder aller neuern englischen Philosophen, von denen vielleicht nur Richard Price auszu- nehmen ist, daß sie die philosophische Erkenntnis durch einen eigenen Sinn, in unserem Falle durch einen „Gemein- sinn der Menschen“ erklären wollten. Ihre Untersuchung konnte daher nicht die rechte Tiefe erhalten *). Es ist bemerkenswert, mit welcher Schärfe hier Fries, der angebliche „Psychologist“, die Begründung seines „Wahr- heitsgefühls“ durch die empirische Psychologie der Englän- der ablehnt. Irgendwelcher „Sinn“, wie ihn die Englän- der als Quelle höherer Erkenntnis annehmen, ist ihm als Medium der Erkenntnis der philosophischen Wahrheiten un- zureichend. Für ihn ist das „Gefühlsvermögen eine unmittel- bare Selbsttätigkeit“, nämlich die „unmittelbare Selbsttätig- 1) a. a. O. S. 01 f., 109, 59. 2) Metaphysik 75. Digitized by Google Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. . 227 keit der Urteilskraft“, und indem er diese Auffassung auch Kant gegenüber verteidigt, gibt er seiner Theorie des Wahr- heitsgefühls die letzte Zuspitzung. V. Die Stellung des „Gefühls Vermögens“ bei Pries. Kant hat nach Fries das Verdienst, zuerst die Bedeu- tung der Worte Empfindung und Gefühl strenger auseinander- gelialten zu haben. Aber er schränkte den Begriff des Ge- fühls dann allzusehr ein. Wenn er unter Gefühl das ganz Subjektive in der Vorstellung versteht, das keine Erkennt- nis des Gegenstandes vermittelt, unter Empfindung dagegen das Objektive, so daß die grüne Farbe der Wiese zur Em- pfindung, die Annehmlichkeit derselben fürs Auge zum Lust- gefühl gehört, so ist diese Erklärung eigentlich nur für die Lust am Angenehmen richtig, und doch hat das Gefühl noch so manchen anderen Gegenstand als die Lust. Im Grunde versteht Kant unter Gefühl immer „den äußeren Sinn des Gemeingefühls“, sofern dieser auf Lust und Unlust einwirkt. In der Kritik der praktischen Vernunft setzt Kant bei der Lehre von Neigung und Achtung das Gefühl der Lust und Unlust den verständigen Bestimmungsgründen des Willens entgegen, und auf ähnliche Weise erklärt er die Lust am Schönen in der Kritik der Urteilskraft *)• Seine ganze Theorie der Lustgefühle läuft darauf hinaus, dieses Gefühl der Lust als ein eigenes, ursprüngliches, von keinem andern abzulei- tendes Element in der Organisation der Vernunft anzu- nehmen, und in Anlehnung an ihn hat man überhaupt zwi- schen das Erkenntnisvermögen und die praktischen Ver- mögen unseres Geistes ein eigenes Gefühlsvermögen in die Mitte legen wollen; die einen unter Berufung auf die „dunkle- ren Anfänge unserer Geistestätigkeiten, gleichviel ob sie der Erkenntnis der Lust oder der Bestrebungen angehören, die anderen mit dem Hinweis auf den Sprachgebrauch des ge- meinen Lebens, der mit den Ausdrücken gefühlvoll und ge- fühllos die leichtere Anregbarkeit zu den zarteren Gemüts - 1) Metaphysik 77 f., Anmerkung. N. Kr. I, 410, 412. 228 Kapitel VI. bewegungen der Liebe, des Wohlwollens der Teilnahme usw. bezeichnet und schließlich dazu führt, „das nur kontempla- tive Gebiet unseres inneren Lebens in Lust, Liebe und Wünschen“, das Reich des Geschmackes und der Unterhal- tung im Gegensatz gegen das tätige Leben der Begierden, Bestrebungen und des Willens mit Gefühl zu benennen. Diesen Ansichten gegenüber behauptet Fries, daß ein solches Gefühlsvermögen „gar kein eeigeneGrundlage unseres Geistes“ sei. Jene dunkleren Anfänge der gei- stigen Lebenserregung seien demselben Vermögen der Er- kenntnis, Lust oder Bestrebung zuzuschreiben, welchem die klarere Entwicklung zukommt, und, was die zweite An- sicht betreffe, so werden offenbar Begierde, Wille und Be- strebung von denselben Anregungen des Gemütes in Lust und Liebe belebt, welche auch das kontemplative Leben in Sachen des Genusses, des Geschmackes und der Wünsche ausbilden. Fries hält daher das Wort Gefühl in diesen Gebieten für entbehrlich. Allerdings wird der gewöhnliche Sprach- gebrauch stets dazu führen, daß das Wort auch zur Bezeich- nung des nur Gemütlichen im Geistesleben im Gegensatz gegen Tat und Willenskraft gebraucht wird ; und Fries selbst bekennt — was zum vollen Verständnis seiner Gefühlslehre stets im Auge behalten werden muß — , daß er selbst, dem Kantischen Sprachgebrauch gemäß, es nicht immer vermie- den habe, das Wort in dieser Bedeutung anzuwenden. Aber seine Einteilung der Grundvermögen verzichtet auf diesen Ausdruck1) und stellt der „Erkenntnis“ und der „Tatkraft“ zur Bezeichnung dessen, was man gewöhnlich Gefühl nennt, das „Gemütoder Herz“ zur Seite. Dagegen scheint es Fries ein dringendes Bedürfnis für die philosophisch-anthropologische Sprache, „mit einem bestimmten Ausdruck den unmittel- baren willkürlichen Akt des Be wußtseins im Denken, mit dem wir unmittelbar jedes Ist als Kopula im Urteil aus- sprechen, einerseits von der Empfindung und dem unwill- 1) Vgl. oben S. 15 ff. die Darstellung der Grundvermögen und der Ausbildungsstufen. Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 229 kürlich sinnlichen Bewußtsein, andererseits von dem er- mittelten Denken in Begriffserklärungen und Schlüssen zu unterscheiden, und er findet dafür keinen anderen Aus- druck als „Wahrheitsgefühl“, dasGefühl, „in“ welchem dem Menschen alle philosophischen Grundbehauptungen, alle re- ligiösen Beurteilungen „gelten“ 1). Was Fries Wahrheitsgefühl nennt, darf also nicht unter den herkömmlichen Begriff des Gefühls subsumiert werden. Es ist ja die „unmittelbare Tätigkeit der Urteilskraft“ selbst, es erhält nie durch Lust und Unlust seine Bestimmungen, sondern ist ein „Akt der Denkkraft“ 8). Von den beiden Beziehungen, durch welche Kant die Kritik der Urteilskraft als ein Verbindungsmittel der theore- tischen und der praktischen Philosophie charakterisiert, der Mittelstellung der Urteilskraft zwischen Verstand und Ver- nunft, und der Mittelstellung des Gefühls der Lust und Un- lust zwischen Erkenntnis- und Begehrungsvermögen betont Fries fast ausschließlich die erstere und sieht daher auch im „Wahrheitsgefühl“ eine unmittelbare Selbsttätigkeit der Urteilskraft. Auch von Kant sagt er: „Hätte er bemerkt, daß man statt Gefühl der Lust ganz im allgemeinen auch Beurteilung der Zweckmäßigkeit sagen kann, so würde die- ser ganze Teil seiner anthropologischen Theorie [die Theorie des Gefühls] anders ausgefallen sein.“ Fries dagegen glaubt gezeigt zu haben — indem er dabei zugleich einem moder- nen Begriff eine Stelle in seiner Philosophie an weist — , daß dieses Gefühl der Lust „nichts als Urteilskraft ist, welche nach der Regel des Wertes entscheidet“* 3). Die Friesische Philosophie reiht sich damit in die Gruppe der Systeme ein, welche das Gefühl in irgend einem Sinne zum Grundprinzip machen. Unter den nachkantisehen Phi- losophen steht ihm darin am nächsten Schleiermacher. Die Rolle, welche hier dem Gefühl zufällt, ist allerdings eine etwas andere. Nach der systematischen Begründung, welche Schleiermacher seiner Gefühlslehre in der Dialektik gegeben TTn. Kr. I, 410, 412 ff. 2) N. Kr. I, 410, 415. Logik 352. 3) N. Kr. I, 410 f. Digitized by Google 380 Kapitel VI. hat, sind in jedem wirklichen bestimmten Denken zwei Ele- mente, die organische und die intellektuelle Funktion, je- doch in verschiedenem Verhältnis, und „so teilt sich alles Denken in drei Gebiete, das eigentliche Denken mit über- wiegender Vernunfttätigkeit und anhangender organischer, das Wahrnehmen mit überwiegender organischer und an- hangender rationaler und das Anschauen mit dem Gleich- gewicht beider“1)* Dieser Mittelstellung des Anschauens zwischen Wahrnehmen und Denken entspricht diejenige des Gefühls zwischen Denken und Wollen. Nur in der relativen Identität des Denkens und Wollens, nämlich im Gefühl, „haben“ wir den transzendentalen Grund, welcher für beides, das Denken wie das Wollen, uns erst Gewißheit gibt2). So hat Fries mit Schleiermacher, der wie er selbst ein Schüler der Herrnhuter war3), die zentrale Stellung des Gefühls gemein; aber er unterscheidet sich von ihm einerseits durch seine Ablehnung einer Verbindung der Anschauung mit dem Gefühl, die für Schleiermacher, bei allem Schwanken über das Verhältnis beider im einzelnen4), feststeht, und an- dererseits durch die Ausschaltung des auch in Schleier- machers Gefühlslehre enthaltenen mystischen Elements. Fries, in dessen innerer Entwicklung schon im theologischen Seminar zu Niesky Kant und die Herrnhuter zusammen- trafen5), macht zum Medium seiner „unmittelbaren Erkennt- nis“ das Wahrheitsgefühl, aber der Geist Kants läßt ihn in jeder sinnlich anschauungsmäßigen oder mystischen Modi- 1) Schleiermacher, Dialektik, herausg. von Jonas 1839, § 115 S. 61 f. 2) a. a. 0. § 214 u. 215, S. 150 ff. 3) Merkwürdig ist, daß es weder in Niesky, wo Schleiermacher noch gleichzeitig mit Fries im Pädagogium war, noch später zu per- sönlichen Berührungen zwischen ihnen kam, während doch auf die. Entwicklung beider so viel Gleiches, zum Teil mit gleichen Erfolgen eingewirkt hat Vgl. E. L. Th. Henke, Jakob Friedrich Fries, Aus seinem handschriftlichen Nachlasse dargestellt. Leipzig, 1867, S. 9. 4) So in den verschiedenen Ausgaben der „Reden über Religion“ ; vgl. O. Pfleiderer, Religionsphilosophie auf geschichtlicher Grund- lage, 1878, S. 98 f. 5) Vgl. Henke a. a. 0. S. 23 ff. Digilized by Google Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 231 fikation desselben eine Gefährdung der allgemeingiltigen und notwendigen Vernunfterkenntnis erblicken. Das Gefühl ist ihm allerdings ein unmittelbares Innewerden der Wahr- heit; „aber keineswegs wird dadurch der gebildete Geist auf eine mystische, nur schwärmerisch anzuerkennende Quelle der Wahrheit verwiesen, sondern es wird ihm zur wissenschaftlichen Aufgabe gemacht: in der Kritik der Ver- nunft die Aussprüche dieser Wahrheitsgefühle richtig dar- zustellen und durch die Theorie der erkennenden Vernunft zu rechtfertigen“ *). Der Zögling der Brüdergemeinde in ihm erhebt die Gefühle zur Quelle der wahren Erkenntnis, der Schüler Kants macht aus dem Gefühl die „unmittelbare Selbst- tätigkeit der Urteilskraft“ und fordert eine Rechtfertigung des Gefühlten durch Deduktion. B. Systematische Übersicht der in der unmittelbaren Erkenntnis der Vernunft vorhandenen Formen. Einer Theorie der unmittelbaren Erkenntnis fällt zu- nächst die Aufgabe zu, die im Wahrheitsgefühl uns zum Be- wußtsein kommenden Erkenntnisse vollständig darzustellen, dann aber sie durch Deduktion zu rechtfertigen. I. Die allgemeinen Formprinzipien der Vernunfterkenntnie. Die Form der vernünftigen Erkenntnis überhaupt ist Einheit und Notwendigkeit. 1. Die Notwendigkeit. Der Unterschied der Begriffe des Wirklichen, Mög- lichen und Notwendigen bezieht sich unmittelbar nur auf 9 1) N. Kr. I, 414. W. L. M. de Wette, der bedeutendste An- hänger der Friesischen Philosophie unter den Theologen sagt daher in seinem Fries gewidmeten Nachruf (E. L. Th. Henke a. a. O., S. 288): „Mit Schleiermacher teilt Fries das Verdienst der Entdeckung und Verbreitung des Grundsatzes, daß die Religion ihren unmittelbaren 232 Kapitel VI. den denkenden Verstand d. h. die Ref 1 exion, ist also sub- jektiver Art. Ein jedes Ding ist mit Notwendigkeit so, wie es ist. Sage ich also von etwas aus: das ist wohl möglich, das kann wohl sein, so bedeutet dies nur: ich kann nicht beur- teilen, ob es ist, oder ob es nicht ist. Die „Sphäre des Mög- lichen ist daher für das Wesen der Dinge nicht größer und nicht kleiner als die des Wirklichen und Notwendigen“. Unsere Anschauung für sich ist an den Augenblick der Wahrnehmung gebunden, sie gilt nur für einen bestimmten Augenblick in derZeit und für eine bestimmte Stelle im Raum, führt also je für sich allein nur zu einer assertorischen Er- kenntnis. Erst mit Hilfe der allgemeinen Vorstellungen, welche als solche der Sphäre des Möglichen angehören, ver- mögen wir uns der notwendigen Bestimmungen selbst be- wußt zu werden, die allein das Gesetz für unsere vollendete Erkenntnis darstellen. Erst dadurch wird das Bewußtsein zu einem „Bewußtsein überhaupt“, das schlechthin eine Wahr- heit behauptet und mit seiner Giltigkeit nicht an die be- stimmte Stelle in Raum und Zeit gebunden ist, in der es ausgesprochen wird. Die Reflexion also steigert das asser- torische Bewußtsein durch problematische allgemeine Vor- stellungen zu einem apodiktischen, „welches für die Ver- nunft in dem ganzen Ablauf ihres Erkennens überhaupt gilt, indem die einzelnen inneren Wahrnehmungen über das Er- kennen zu einem Ganzen der inneren Erfahrung erhoben werden“ l). Nun muß aber doch auch in der unmittelbaren Er- kenntnis unserer Vernunft selbst ein Grund liegen, weshalb die Reflexion nur in der dreifachen Abstufung des Wirklichen, Möglichen und Notwendigen ihre Beobachtung vollenden kann. Dieser Grund, der sich aus dem Bisherigen ergibt, liegt darin, daß unsere unmittelbare Erkenntnis ihren Inhalt nur durch die sinnliche Anregung empfängt, welche in jedem der wechselnden Geisteszustände eine andere, nur Lebenspimkt im Gefühle hat; doch ist bei ihm der Nachweis viel sicherer und wissenschaftlicher als bei jenem.* 1) N. Kr. II, 17. Metaph. 202 f, 227, 295. Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 233 momentan, daher assertorisch ist, während der Selbsttätig- keitderVernunft eine Form der Erregbarkeit eigen ist, welche das Dauernde, in ihrer ganzen Entwicklung sich Gleich- bleibende darstellt. Die letztere trägt aber damit apodik- tischen Charakter, und wir können sie nur dadurch er- fassen, daß wir uns ihrer bloßen Form, unter welche aller einzelne Inhalt fallen muß, mit Hilfe der problematischen allgemeinen Vorstellungen durch Abstraktion bemächtigen. So findet auch von dieser Seite her der Satz seine Be- stätigung, daß der Unterschied des Wirklichen und Notwen- digen sich durchaus innerhalb der subjektiven Geschichte unseres Erkennens bewegt. Ein Übersehen dieser Wahrheit führt entweder zu einseitigem Empirismus, der das an- schauungsmäßig Erkannte erst durch Demonstration objek- tiv zu begründen meint, oder zu einseitigem Rationalismus, der glaubt, zum subjektiven Spiel der Vorstellungen erst die objektive Giltigkeit der Erkenntnis hinzubringen zu müssen, um zur Notwendigkeit zu gelangen. Beide sind daher nicht imstande, die Frage nach der notwendigen Erkenntnis und ihrem Ursprung in der Vernunft, die eigentlich das ganze Rätsel in der Philosophie bildet, zu lösen 1 ). 2. Die Einheit. Der Fortschritt vom Momentanen unserer Erkenntnis zum „ganzen Leben unsrer Vernunft“, dessen Form die Not- wendigkeit ist, ist nur dadurch möglich, daß die auseinander- liegenden einzelnen Momente in Beziehung gebracht werden, daß also in uusrer Erkenntnis Einheit und Verbindung zu- stande kommt. Verbindung ist nämlich nichts anderes, als „Vor- stellung einer synthetischen Einheit“. Wir kennen bereits eine solche Einheit, nämlich die „fi- gürliche synthetische Einheit“ der produktiven Einbildungs- kraft, jene anschauliche Verbindung eines gleichartigen 1) N. Kr. II, 18 f. Digitized by Google 234 Kapitel VI. Mannigfaltigen in Raum und Zeit Es gibt aber neben dieser Verbindung noch eine andere, deren wir uns nur in Urteilen bewußt werden, und die wir deshalb die „Vorstellung der intellektuellen synthetischen Einheit, der nur denkbaren Verbindung1* nennen. „Ob ein Ding rot, warm oder hart ist, das ist unmittel' bar in der Anschauung desselben enthalten, so auch ob es vierseitig, rund oder eckig ist, das erstere unmittelbar bei der Empfindung, das andere durch die anschauliche synthe- tische Einheit der Einbildungskraft. Ob hingegen ein Ding Substanz oder ob Dinge im Verhältnis der Ursache und Wir- kung sind, das läßt sich nicht anschauen. Diese Begriffe enthalten aber ebenfalls Formen einer synthetischen Ein- heit. Wir denken die Existenz der Wirkung verbunden mit der der Ursache, wir denken mehrere Inhärenzen verbun- den in einer Substanz.“ Der darin gedachten synthetischen Einheit werden wir uns aber in synthetischen Urteilen bewußt. Da nun kein Urteil ohne Begriff, d. h. ohne Perzeption einer analytischen Einheit möglich ist, so fordert eine solche synthetische Ein- heit immer eine vorhergehende analytische, durch die sie «allein begriffen werden kann. Fries gelangt daher zur ab- schließenden Formulierung seiner Theorie der Einheit in dem Satz: „Wir werden uns der intellektuellen Ver- bindung bewußt, wiefern wir in synthetischen Ur- teilen, mit Hilfe der analytischen Einheit die innere Wahrnehmung denkend zur inneren Erfahrung er- heben“ *). II. Das System der synthetischen Formen. 1. Der Leitfaden zur Auffindung der syn- thetischen Formen. Aus dem letztgenannten Satz des vorigen Abschnittes ergibt sich uns sogleich derjenige Gesichtspunkt, welcher 1) N. Kr. II, 21 ff. Digitized by Google Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 286 • « es ermöglicht, die Formen der synthetischen Einheit in syste- matischer Vollständigkeit aufzufinden. Die Entdeckung eines solchen Leitfadens ist das große Verdienst Kants, der es erst möglich gemacht hat, das ganze System der Me- taphysik nach Prinzipien mit wissenschaftlicher Sicherheit und Vollständigkeit zu ordnen. Indem er erkannte, daß den logischen Formen der Urteile, Schlüsse und Systeme außer der zunächst in ihnen aufgefaßten analytischen Einheit auch „die Verbindung“, eine Synthesis zugrunde liegt, fand er einen Weg, die Tafel der Kategorien und das System der Ideen der Vernunft als die Formen der intellektuellen Syn- thesis aufzustellen1). Doch ist nach Fries diese Lehre Kants nach einer Richtung unzulänglich. Kant hat zwar die Analogie zwischen den Formen der analytischen und der synthetischen Einheit richtig erkannt; aber er stellte sich nie die Frage, wodurch denn in der menschlichen Erkenntnis diese Analogie be- wirkt werde. Für Fries ergibt sich die Antwort hierauf aus seiner Lehre vom Verhältnis der Reflexion zur unmittelbaren Erkenntnis. Die logischen Formen der analytischen Einheit, die Denkformen sind ja die Hilfsmittel des denkenden Ver- standes, „durch welche er sich der metaphysischen in der unmittelbaren Erkenntnis der Vernunft vor- handenen Formen bewußt wird“2) Daraus ergibt es sich von selbst, daß der menschliche Verstand sich keiner an- deren metaphysischen Grundbegriffe bewußt werden kann, als derjenigen, die er durch die logischen Formen der Ur- teile denkt3). So macht Fries von einer Grundposition seines Systems aus den beachtenswerten Versuch, die Anlehnung des Ka- tegoriensystems an die Tafel der Urteile, durch welche Kant, der Überwinder der formalen Logik, in der ganzen Archi- tektonik seiner Vernunftkritik von einem Bestandstück die- ser selben traditionellen Logik abhängig wird, prinzipiell zu rechtfertigen. 1) N. Kr. II, 24 f. 2) N. Kr. II, 25. 3) Metaphysik 196 f. 236 Kapitel VI. 2. Das System der Kategorien, Grundsätze und Ideen. a) Das System der Kategorien und der Grundsätze. Das System der metaphysischen Grundbegriffe ist nach Fries nichts anderes als das System der Begriffe, die wir durch die logischen Urteilsformen denken. Darnach wird auch die Kategorie definiert als „der Begriff von der Bestimmung eines Gegenstandes, wiefern die Erkenntnis desselben durch eine bestimmte Urteilsform gedacht wer- den muß“ *). Fries schließt sich daher mit seiner Tafel der Kate- gorien völlig an Kant an. Es ergeben sich darnach mit kleinen Abänderungen und Umstellungen der Kantischen Tafel die bekannten vier Klassen, die er, darin von Kant etwas abweichend*), Momente nennt, mit ihren Unter- abteilungen : Urteilsform: Moment: Kategorie: " 1) Größe: singuläres besonderes allgemeines 2) Beschaffenheit: bejahendes verneinendes unendliches 1) Metaph. 197. 2) Kant spricht zwar von der „transzendentalen Tafel aller Momente des Denkens in Urteilen“ (Kr. d. r. V. 91), bezeichnet dann aber doch speziell die drei Funktionen der Modalität als ebenso viele „Momente des Denkens“, weil hier „alles sich gradweise dem Verstände einverleibt, so daß man zuvor etwas problematisch urteilt, darauf auch wohl es assertorisch als wahr annimmt, endlich als un- zertrennlich mit dem Verstände verbunden d. i. als notwendig und apodiktisch behauptet“. Kr. d. r. V. 93. Einheit. Vielheit. Allheit. Realität. Verneintheit. Beschränktheit. Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 237 3) Verhältnis: kategorisches hypothetisches divisives Wesen und Eigenschaft. Ursache und Wirkung. Gemeinschaft der Teile im Ganzen. 4) Modalität. problematisches assertorisches apodiktisches möglich und unmöglich. Dasein und Nichtsein, notwendig und zufällig. Fries modifiziert aber die Kantische Lehre an zwei Punkten, erstens indem er die Lehre vom Schematismus so- fort anschließt, und zweitens indem er das Verfahren der Ableitung sogleich auch über das Gebiet der Ideen ausdehnt. An die Aufstellung des Systems der Kategorien knüpft sich sogleich die Frage: Wie können diese Begriffe in un- serer Erkenntnis Bedeutung gewinnen? Da sie selbst uns nur mittelbar im Denken bewußt werden, unmittelbar klar aber nur die Anschauung ist, so können sie der Erkenntnis bestimmter Gegenstände nur dann dienen, wenn sie in der unmittelbaren Erkenntnis der Vernunft mit anschau- lichen, unmittelbar klaren Bestimmungen der er- kannten Gegenstände notwendig verbunden sind. Dies geschieht dadurch, daß „sich aus reiner Vernunft unserem Gefühl gewisse Grundsätze als unmittelbar sich von selbst verstehende Wahrheiten geltend machen, in de- nen anschauliche Beschaffenheiten die Bedingungen der Regeln sind und die Kategorien das Prädikat der Regel selbst. Diese Grundsätze sind die der menschlichen Urteils- kraft unerweislichen Voraussetzungen aller BeurteilungenU1). Da wir z. B. die Verhältnisse der Bewirkung und der Wech- selwirkung nur denken und nicht anschaulich vorstellen können, so kann die hierbei in Betracht kommende hypothe- tische Urteilsform nur so auf die Bestimmung anschaulicher 1) Metaph. 229, vgl. N. Kr. II, 30 ff. Wir folgen hier der Dar- stellung der Metaphysik, da die Anwendung des Schematismus so- wohl auf die reinen Naturbegriffe als auf die Ideen hier gleich- mäßiger durchgeführt ist, als in der „Neuen Kritik“. Digitlzed by Google 288 Kapitel VI. Gegenstände Anwendung finden, daß wir dabei durch die anschaulich erkennbaren Verhältnisse, welche wir bei allen unseren Beurteilungen unvermeidlich voraussetzen, nämlich jede Veränderung sei bewirkt, und was zugleich sei, sei in Wechselwirkung, uns leiten lassen. Solche aus der Anschauung erhaltene Begriffe, welche in notwendiger Verbindung mit einer Kategorie gefunden werden, nennen wir mit Kant die Schemate der Katego- rien, und die letzteren, sofern sie in dieser Verbindung ste- hen, schematisierte Kategorien. So ist z. B. Veränderung das Schema der Kategorie der Ursache, und der Begriff von der Ursache einer bestimmten Art von Veränderungen enthält die schematisierte Kategorie der Ursache. In Beziehung auf diesen Schematismus haben wir nun zwei Tafeln der metaphysischen Grundbegriffe auseinander- zuhalten. Die erste Tafel ist die bereits aufgcstellte der Kategorien, die wir in Rücksicht auf ihren Schematismus die reinen Naturbegriffe nennen. Die zweite Tafel ist die der Ideen. Was zunächst das System der reinen Naturbegriffe be- trifft, so werden sich unter allen anschaulichen Bestim- mungen der Gegenstände diejenigen am meisten zur Ver- bindung mit diesen Grundbegriffen eignen, welche am ab- straktesten sind. Dies sind aber die mathematischen Be- schaffenheiten der Gegenstände und unter den mathemati- schen wieder die bloßen reinen Zeitbestimmungen, da wir ja jeden anschaulichen Gegenstand unter den Bedingungen der Zeitlichkeit erkennen. Wir erhalten daher das System der Grundsätze der Metaphysik der Natur, indem wir durch Selbstbeobachtung zu jeder Kategorie ihre Zeitbestimmung suchen und diese „transzendentalen Schemate“ dann mit der Kategorie im Grundsatz notwendig verbunden denken. Solche Zeitbestimmungen als Schemate sind: Der Quantität nach die Zahl, der Qualität nach der Grad, der Relation nach das Zugleichsein und Nacheinandersein (wo- bei das letztere teils ein beharrliches, teils ein wechselndes ist), endlich der Modalität nach teils eine bestimmte Zeit, Digitized by Google Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 239 teils ins unbestimmte irgend eine Zeit, teils die Zeit über- haupt. Daraus ergibt sich dann die „Tafel der metaphy- sischen Grundsätze der Naturlehre“, die sich abge- sehen von unwesentlichen Änderungen und Zusätzen völlig an Kant anschließt : „1. Axiome aus reiner Anschauung unter dem Prinzip: Jede Erscheinung, das heißt, jeder Gegenstand einer gegebenen anschaulichen Erkenntnis, ist eine aus gedehnte, stetige Größe, welche nach Zahlen stetig ge- messen werden kann. 2. Antizipationen der Wahrnehmung unter dem Prinzip: Alle anschaulich erkannten Beschaffenheiten der Erscheinungen sind stetige intensive Größen, welche nach Graden meßbar sind. 3. Analogien der Erfahrung unter dem Prinzip: Alle Einheit in der Existenz der Erscheinungen ist die Ge- meinschaft der Wesen durch die Wechselwirkung ihrer Kräfte in der Zeit; welches das Grundgesetz der physi- schen V erknüpfung ist. Erstens: Grundsatz der Beharrlichkeit der Wesen: Allem Wechsel der Erscheinungen liegen Wesen zugrunde, welche schlechthin beharrlich sind. Zweitens: Grundsatz der Bewirkung: Aller Wechsel der Erscheinungen geschieht nach dem Gesetz der Verknüpfung von Ursache und Wirkung. D ritte ns: Grundsatz der Wechsel Wirkung: Alle Erscheinungen, insofern sie zugleich sind, sind in Wechsel- wirkung. 4. Postulate des empirischen Denkens über- haupt, unter dem Prinzip: Alles Dasein der Erscheinungen hat seine notwendige Bestimmung unter allgemeinen Ge- setzen; welches das Grundgesetz der metaphysischen Verknüpfung ist. Erstens: Möglich ist die Existenz einer Erscheinung, wenn sie zu irgend einer Zeit ist. 340 Kapitel VI. Zweitens: Dasein ist die Existenz einer Erscheinung zu einer bestimmten Zeit. Drittens: Das Dasein jeder gegebenen Erscheinung ist mit Notwendigkeit gegen die Zeit überhaupt bestimmt“ *). b) Das System der Ideen. Nun ist aber die Reihe der in diesem anschaulichen Schematismus wirksamen Bedingungen, von welchen un- sere ganze wissenschaftliche Erkenntnis der Dinge ab- hängig ist, die Zeit und mit ihr Raum und Zahl unausdenk- bar, und das Gesetz für sich allein betrachtet leer und we- senlos und kann deshalb keinen selbständigen Grund der Verbindung der Dinge abgeben. Aus diesem Unbefriedigen- den der Naturerkenntnis entsteht für unser Gefühl der Ge- danke einer höheren Wahrheit, welche nur durch die reinen Kategorien unbeschränkt von ihren an- schaulichen Schematen, bestimmt sein soll. Da wir aber keinen anderen Gehalt der Erkenntnis, als den der Anschauung haben, so können wir jene höhere Begriffe, nämlich die Ideen2) nur durch Entgegensetzung gegen die Schranken der anschaulichen Erkenntnis ge- winnen. Die Ideen entstehen demnach durch doppelte Ver- neinung, nämlich durch Verneinung der Schranken des an- schaulichen Schematismus. Damit treten für Fries beim Übergang von den Kate- gorien zu den Ideen in eigentümlicher Weise die Kategorien der Qualität in den Vordergrund. Von den drei Kategorien der Qualität: Realität, Verneintheit und Beschränktheit setzen sich nämlich die zwei letzten (eben in der Verneinung der Schranken) zusammen zum Begriff des Unbeschränkten, des Absoluten und geben so die Idee der vollendeten Re- alität. Auch die andern Ideen lassen sich ähnlich auf dem Wege einer doppelten Verneinung bilden, nämlich aus den Kategorien der Grösse der Begriff des Einfachen als der 1) N. Kr. II, 32 f. 2) Über den Begriff der Idee siehe unten. Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 241 Einheit, welche keine Vielheit in sich hat, der Begriff der vollendeten Allheit (Totalität) als der Allheit, die nicht wieder Teil in einem größeren Ganzen sein kann und endlich durch Verneinung des in der Kategorie der All- heit als Summe von einzelnen Gegenständen der Anschauung liegenden Schematismus der Zahl der Begriff des vollstän- digen Ganzen einer Art von Dingen (aller Menschen, aller Sterne). Innerhalb der Kategorien der Relation ergibt sich durch Verneinung der Naturnotwendigkeit als höchste Idee die der Freiheit, und als Inbegriff aller Realitäten aus dem Gegensatz zur bloßen Zusammenfassung aller ein- zelnen Dinge die Idee des Weltalls, aus dem Gegensatz zur materiellen Welt die intelligible Welt des Lebendigen, die Seele, und als der Begriff einer über die Weit er- habenen Ursache der Welt die Idee der Gottheit. Unter den Kategorien der Modalität führt die Verneinung der Schranken zur Idee der Ewigkeit, innerhalb welcher dem absolut Zufälligen der Erscheinung die absolute Notwen- digkeit als das Wesen der Dinge an sich selbst ent- gegentritt. Über die durch die sinnliche Erkenntnis gegebene Weltansicht, die menschliche Ansicht des Wissens und der Wissenschaft, erheben wir uns also durch Verneinung der am unvollendbaren Schematismus der Kategorien haftenden Schranken zu den Ideen des Glaubens an die ewige Wahr- heit !). Indem dadurch die Ideenlehre unter der Form des 1) N. Kr. II, 34 f., 181 f., Metaph. 231 ff., 434. ff. Die Tafel der Ideen findet sich bei Fries in verschiedenen Formen, die nicht völlig untereinander in Einklang gebracht sind. Nach der N. Kr. ergeben sich aus der Verneinung der Schranken zunächst die höchsten Ideen (auch „Formen der Ideen“ genannt, N. Kr. II, 205) des Absoluten, der Totalität, der Freiheit und der Ewigkeit, denen dann je 3 Ideen (die jedoch nicht alle mit gleichem Hecht Ideen heißen) untergeordnet werden. In der Metaphysik (S. 231) finden wir aber z. B. folgende Tafel der Ideen des Absoluten: 1) Größe: 2) Beschaffenheit: Vollendete Einheit. Absolutes. Elaenbans, J. F. Fries und die Kantiache Erkenntnistheorie. 16 242 Kapitel VI. transzendentalen Idealismus, der Lehre, daß die durch die sinnliche Erkenntnis gegebene Weltansicht der Erschei- nungen nur eine menschliche Ansicht von den Dingen, nicht das Wesen der Dinge selbst zeige, ihre Ausbildung findet, während andererseits doch auch die ideale Erkenntnis auf nichts anderes als auf das Ganze der Erfahrung sich be- ziehen kann, sind zwei Grundsätze wirksam, „der Grund- satz des Selbstvertrauens der Vernunft“ und „der Grundsatz der Vollendung“ l). Der höchste subjektive Grundsatz aller menschlichen Beurteilungen ist der Grundsatz des Selbstvertrauens der menschlichen Vernunft“: „jeder Mensch hat das Vertrauen zu seinem Geiste, daß er der Wahrheit empfäng- • • lieh und teilhaftig sei“. In allen Behauptungen und Über- zeugungen des Menschen findet sich die unvermeidliche Vor- aussetzung, seine Urteilskraft habe das Vermögen, Wahrheit und Irrtum zu unterscheiden und Wahrheit zu erkennen. Auch der Skeptiker entgeht dieser Voraussetzung nicht, denn wenn er sagt, er zweifle, oder etwa auch, er zweifle, ob er zweifle, so behauptet er doch immer die Wahrheit, daß er zweifle. Doch gibt auch die auf die sinnliche Erkenntnis im allgemeinen vertrauende unbefangene Menschen Vernunft zu, daß unsere Sinne uns nur eine beschränkte Vorstellung vom wahren Sein der Dinge geben. Aber durch die diese Schran- ken verneinenden Ideen erheben wir uns zu der Vorstellung des wahren Seins der Dinge selbst. Dies geschieht nach dem zweiten Grundsatz, demjeni- gen der Vollendung: „Das Wesen der Dinge selbst ist 4) Moda lität: Ewigkeit Erseheinung 3) Verhältnis: Freiheit Welt Gottheit. Sein au sich. Fries wechselt zwischen der Identifikation der höchsten Ideen mit einer der ihr untergeordneten und einer selbständigen Trieho- tomie als Unterordnung unter die ersteren. Wir werden übrigens in der Deduktion der Ideen an die obige Skizze der Ideentafel wieder anzuknüpfen habeii. 1) Metaph. 43G ff. N. Kr. II, 35 ff. Digitized by Google Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 243 unbeschränkt (absolut) und hat vollendete Ein- heit.“ Nun ist aber die nach diesen Grundsätzen aufgebaute Ideenlehre zunächst nur durch Negation durch Verneinung der Schranken der anschaulichen Erkenntnis entstanden. Sollen sie auf die Erkenntnis angewendet werden, so be- dürfen auch sie eines vermittelnden Schematismus, welcher die reale Verbindung mit der Erscheinungswelt her- stellt. An die Stelle der Zeitbestimmung, die als Schema für die reinen Naturbegriffe galt, tritt hier der auf der inneren an- schaulichen Selbsterkenntnis beruhende sittliche Schema- tismus. Auch die Ideen können auf kein anderes Wesen der Dinge als auf das Ganze der Erfahrung sich beziehen. Die ideale Erkenntnis kann also nur eine andere höhere Ansicht von denselben Dingen sein, die wir auch unter Naturgesetzen kennen lernen. Wir werden also jene ewigen Wahrheiten nur anwenden können, indem wir in der ästhetischen Be- urteilung der sinnlich erscheinenden Welt die ewige Bedeu- tung des Erscheinenden „ahnden“. So verbinden sich mit den logischen die ästhetischen Ideen, in deren Formen wir uns der Unterordung der Erscheinung unter die Grund- gedanken der ewigen Wahrheit bewußt werden, und das bloße spekulative System der Ideen, das für sich allein nur eine doppelt verneinende Hinweisung auf die Geheimnisse der ewigen Wahrheit enthalten würde, wird durch den höheren sittlichen Schematismus „belebt“ „zu den Ideen von der selbständigen Geisteswelt unter Gottes heiligem Wil- len“1). Erst durch die Ideen eines notwendigen Wertes, durch die persönliche Würde des selbständigen Geistes, wobei die Ideenlehre durch eine Zwecklehre vollendet wird, ist eine Anwendung der Ideen möglich gemacht*). So erhebt sich über der „natürlichen Ansicht der Dinge“, welche Sache des Wissens ist und der die reinen Naturbegriffe dienen, die „ideale Ansicht der Dinge“, 1) N. Kr. II, 36. Metaph. 435 f., 453, 480 ff.; zu den „ästheti- schen Ideen“ vgl. auch prakt. Philos. § 43, II, 160 ff. N. Kr. § 226, HI, 276 ff. 2) Metaph. 436, 481. 244 Kapitel VI. welche dem Glauben gehört, und welcher die reinen speku- lativen Ideen dienen, über der „niederen Metaphysik“ als der Lehre vom Wissen die „höhere Metaphysik als spekula- tive Ideenlehre, als Lehre vom Glauben und von der Ahn- dung einer ewigen Ordnung der Dinge“ *). Einer Kritik der Vernunft aber fällt die Aufgabe zu, für alle diese, wie für die notwendigen Einheitsformen der menschlichen Erkenntuis überhaupt nicht bloß den Leit- faden ihrer Auffindung, sondern die Rechtfertigung, die Deduktion zu liefern. C. Die Deduktion der notwendigen Einheitsformen der Erkenntnis*). Da die Deduktion, wie sich aus der Erörterung ihres Begriffes ergeben hat, nur auf eine Theorie der Vernunft sich gründen kann, so läßt sich ihre Aufgabe in folgende Fragen fassen: 1) „Welches ist die Beschaffenheit der menschlichen Vernunft, vermöge deren die notwendige Einheit in ihren Erkenntnissen stattfindet?“ Die Antwort darauf gibt die „Grunduntersuchung des Ganzen“. 2) „Welche Modifikationen müssen diese Einheits Vor- stellungen vermöge der besonderen Natur der menschlichen Erkenntniskraft erhalten?“ Die Beantwortung dieser Frage geschieht in der „Ausführung der Lehre“, indem sie aus der Natur der menschlichen erkennenden Vernunft alle speku- lativen Formen der Kategorien und Ideen ableitet. 3) Eine dritte Aufgabe ist nach Fries die Ableitung des sittlichen Schematismus, die sich auf die Natur der handeln- den menschlichen Vernunft gründet. Diese Aufgabe, die Fries im dritten Teil seiner „Neuen Kritik der Vernunft“ behandelt, fällt aber nicht mehr in den Rahmen unserer Untersuchung1 2 3j. 1) Metaph. 48 f. 2) Vergleiche hierzu die oben gegebene eingehende Darstel- lung der Methode der Deduktion, insbesondere in ihrem Verhältnis zum Beweis. 3) N. Kr. 11, 42. Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 246 I. Die aller Synthesis zugrunde liegenden Vernunft- beschaffenheit. Daß unsere Vernunft notwendige oder apodiktische Erkenntnisse besitzt, steht nach dem Bisherigen fest. Es fragt sich also, welche Beschaffenheit in einer solchen Er- kenntniskraft vorausgesetzt werden muß, damit sie solche Erkenntnisse besitzen könne. 1. Die Einheit der erkennenden Vernunft. Als charakteristisches Merkmal der apodiktischen Er- kenntnis hat sich ergeben, daß sie nicht nur für einen be- stimmten Lebenszustand, sondern für die Vernunft überhaupt in der ganzen Geschichte ihres Erkennens gilt. Die sinnliche Erkenntnis für sich allein ist eine immer veränderte, täglich neue, in der die Anschauungen beständig wechseln, ohne daß die eine irgend auf die andere bezogen wäre, und ohne daß sie eine Folge über ihre eigene Dauer hinaus hätte. Ein Erkenntnisvermögen dieser Art gliche nur der hellen Spiegel- fläche, an der immer veränderte Bilder in stetem Wechsel vorüberziehen, entstanden durch eine fremde, äußere Kraft, die sich an der Fläche bricht, ohne eine Spur an ihr zu- rückzulassen. Soll es also apodiktische Bestimmungen in unseren Erkenntnissen, soll es überhaupt einen Begriff der Notwendigkeit in unseren Vorstellungen geben, so muß der erkennenden Vernunft eine ursprüngliche, dauernde Tätig- keit zukommen, durch welche alle ihre Erkenntnis als die Wirkung einer Kraft bestimmt wird. Unsere Erkenntnis erhält also erst in der Abhängigkeit von dieser einen Erkenntniskraft ihren notwendigen Wert. Andererseits aber ist auch diese ursprüngliche Selbsttätigkeit sich nicht selbst genug. Sie ist keine selbständige Sponta neität, welche ihre Erkenntnis unmittelbar hervorbrächte, wie die Materie ihre Anziehungen und Abstoßungen, son- dern sie bedarf, wie der Organismus in seinen Lebensäuße- rungen, der Anregung durch den Sinn. Eben dadurch unter- 246 Kapitel VI. scheidet sich unsere Vernunft als eine erregbare Sponta- neität, als endliche Vernunft von einer absoluten Vernunft, von einem Vermögen der intellektuellen Anschauung, wel- ches nicht bloß wie die unsrige eine Form zu der Erkenntnis, sondern die vollständige Erkenntnis selbst mit unmittelbarer Apodiktizität und Notwendigkeit besäße. 2. Die Arten der Apperzeption. Die nähere Bestimmung der aus dieser Apodiktizität der Erkenntnis abzuleitenden Vernunftbeschaffenheit ergibt sich aus den tatsächlich vorkommenden Verhältnissen der Erkenntnisbestandteile. a) Die transzendentale Apperzeption. Zunächst sind es die Tatsachen der analytischen und synthetischen Einheit, mit denen wir uns abzufinden haben. Es ist die Frage, was für eine Beschaffenheit der Vernunft wir voraussetzen müssen, um den Besitz dieser Einheiten möglich zu machen. Nicht bloß die synthetische, sondern auch die analyti- sche Einheit kommt hier in Betracht. Da zur Analysis die Reflexion sich selbst genug ist, Synthesis dagegen sich nicht selbst geben kann, so läßt sich allerdings mit Kant das Rätsel der Spekulation in der Formel aussprechen: wie ist Synthesis a priori möglich? Aber die analytische Einheit als Einheit muß doch selbst durch eine Theorie der Einheit begründet werden1). Durch jede Vorstellung der analytischen Einheit eines Begriffes wird ja die ganze Sphäre meines Er- kennens als bestimmbar erkannt. Diese Sphäre muß also als Ein Ganzes ursprünglich bestimmt sein. Es muß daher alles mein Bewußtsein sich in einem identischen Bewußt- sein der Selbsterkenntnis vereinigen, damit meiner Vernunft eine solche Bestimmung von allem durch jedes möglich wrerde. Diese Einheit der Reflexion ist aber selbst 1) N. Kr. II, 70. Digitized by Google Die unmittelbare Krkenntnis der Vernunft. 247 nicht möglich ohne eine zugrunde liegende Einheit der un- mittelbaren Erkenntnis. Ich kann z. B. im Satze des Wider- spruchs nur dann behaupten. Widersprechendes lasse sich nicht verbinden, wenn für meine Vernunft alle verschiedenen Sphären einzelner Begriffe zuletzt in einer obersten ent- halten sind, wenn es in meiner Vernunft nur ein System der Wahrheit gibt. Sonst könnte ja im einen der Satz, im andern der Gegensatz gelten, ähnlich wie die Begebenheiten des heutigen Tages von denen des gestrigen verschieden sind, wie heute geschieht, was gestern nicht geschah. Diese Beschaffenheit der Vernunft, vermöge welcher das Ganze alles ihres Erkennens mit Notwendigkeit zusammengehört, nennt Fries die transzendentale Apperzeption. Die Notwendigkeit, eine solche Vernunftbeschaffenheit vorauszusetzen, wird noch einleuchtender von der synthe- tischen Einheit aus. Objektive synthetische Einheit ent- steht noch nicht dadurch, daß mannigfaltige Vorstellungen in demselben Subjekte, in derselben Vernunft zusammen- gehören. Denn ich könnte mir meine Erkenntnis ja auch als ein vielfarbiges Gemenge von einzelnen Wahrnehmungen ohne alle Verbindung denken. Auch können verschiedene Vorstellungen in zufälliger subjektiver Verbindung stehen, wie dies bei Vorstellungsassoziationen, z. B. zwischen Wort und Gedanke in der Sprache, der Fall ist. Beide sind für mein Bewußtsein zwar immer verbunden, aber ohne irgend in eine Vorstellung zusammenzugellen, ohne zu einer iden- tischen Apperzeption vereinigt zu werden. Objektive Ver- bindung ist es dagegen, wenn ich die verschiedenen Anlagen, die Gebüsche, Rasenplätze usw. eines Gartens betrachte und nun in die ganze Vorstellung des Gartens zusammen- fasse. Eine solche objektive synthetische Einheit ist endlich auch damit noch nicht gegeben, daß ich mir in einer inneren Wahrnehmung bewußt bin, alle meine Vorstellungen seien, eben als die meinigen, Vorstellungen desselben Subjekts. Denn die objektive synthetische Einheit „fordert über die Einheit des Subjektes, dem z. B. alle diese einzelnen An- schauungen als seine Erkenntnistätigkeiten zukommen, und 248 Kapitel VI. außer der Einheit der Reflexion oder der Selbstbeobachtung, in der ich mir aller dieser verschiedenen Anschauungen neben einander als der meinigen bewußt bin, noch Einheit des Erkennens selbst, so daß jede einzelne nur Teil einer ganzen Erkenntnistätigkeit ist, welche durch die Verbin- dung vorgestellt wird“ *). Das Erkennen unserer Vernunft ist also in jedem Au- genblick ein Ganzes der unmittelbaren Erkenntnis, das wir die transzendentale Apperzeption nennen. Bei dem sinn- lichen Wesen unserer Vernunft ist es allerdings nicht mög- lich, daß wir uns dieses Ganzen der unmittelbaren Erkennt- nis je bewußt werden. Nur einzelne Teile derselben faßt der innere Sinn unmittelbar als Anschauung auf und wenigstens die Form des Ganzen vermag die abstrahierende Reflexion zu beobachten. Nur in diesen verschiedenen Möglichkeiten der Auffassung und Kombination des Aufgefaßten liegt ja auch der Unterschied des Anschauens und Denkens und die Möglichkeit des Dichtens als eines vom Gesetze der Wahr- heit unabhängigen freien Spiels mit Vorstellungen. b) Die ursprüngliche formale Apperzeption. Auf eine andere, aber mit der transzendentalen eng zu- sammenhängende Art der Apperzeption führtuns das Verhält- nis des Materialen und Formalen in unserer Erkenntnis. In jedem Ganzen der Erkenntnis haben wir nämlich den dreifachen Unterschied zu machen zwischen dem Gan- zen selbst, der vereinigenden Form desselben und der in ihm vereinigten Materie. Ist z. B. die An- schauung eines einzelnen Baumes ein solches Ganzes, so macht seine Gestalt, der Begriff der bestimmten Baumart, zu der er gehört usw. die Form derselben, das Aggregat seines Stammes und seiner Zweige, so wie sie sich wirklich in diesem einzelnen vorfinden, die Materie. Oder ist das Ganze der Erkenntnis der Umlauf des Mondes um die Erde, so machen Bewegung und eine bestimmte Wechselwirkung 1) N. Kr. II, 60, § 91, 8. 47 ff. Digilized by Google Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 349 bewegender Kräfte die Form dieser Begebenheit, Erde und Mond die Materie. Oder es sei die Erkenntnis der allge- meinen Regel gegeben: alle Körper sind schwer, so bleibt diese eine leere Form, wenn die Anschauung nicht wirklich einzelne Körper als Materie zur Anwendung gibt, so daß das Ganze der Erkenntnis das System aller Körper unter dieser Regel wird. Stets ist hier das Formale dasjenige, wodurch Einheit in das Ganze unserer Erkenntnis kommt, und das- jenige, wodurch wir uns der Einheit desselben als Baum, als Begebenheit einer Wechselwirkung, als allgemeines Ge- setz bewußt werden. Dieses Formale konstituiert also einerseits Einheit und Verbindung in der Erkenntnis, andrer- seits ist es das Mittel, wodurch wir Einheit und Verbindung durch Reflexion beobachten. Diese Beobachtung durch die Reflexion bezieht sich aber stets nur auf das einzelne Formale. Die Einheit im Ganzen der Erkenntnis soll aber ebenfalls nur durch eine formale Vorstellung in ihm ent- springen. Es muß daher eine alles umfassende ursprüngliche formale Grundtätigkeit der Vernunft geben, von welcher dann das von der Reflexion aufgefaßte einzelne Formale nur ein Teil ist. Diese allgemeine und ursprüngliche for- male Apperzeption, wie Fries sie nennt, ist Quell aller Einheit und damit die Bedingung alles allgemeingiltigen Wertes unserer Erkenntnis. Die ganze transzendentale Apperzeption wird daher durch sie erst möglich. In dieser ursprünglichen formalen Apperzeption haben wir also das oberste Prinzip der Vernunftkritik zu sehen. „Diese formale Vorstellung der Einheit und Notwendigkeit aller meiner Erkenntnis“, heißt es bei Fries, „ist das Resul- tat der Form der Erregbarkeit unserer Vernunft, welches in aller unserer Erkenntnis das eine und gleiche ist, uns aber nur in den zerbrochenen einzelnen Formen von analytischer und synthetischer Einheit zum Bewußtsein kommen kann. Es ist dasjenige, was die Vernunft als solche charakterisiert, was sie für sich zur Erkenntnis gibt, nichts als das Gesetz : jede Erkenntnis unserer Vernunft kann nur Modifika- tion ihrer reinen Erkenntnistätigkeit sein. Dies ist das sub- Digitized by Google 260 Kapitel VI. jektive Prinzip ihrer Einheit und Notwendigkeit, ihre ur- sprüngliche formale Apperzeption. Die Annahme einer sol- chen ursprünglichen formalen Apperzeption ist der oberste Punkt einer Theorie der Spontaneität der Erkenntniskraft, und somit das höchste Prinzip der Anthropologie, von dem die Theorie der Vernunft ausgehen muß“ 1 2 3). c) Die materiale Apperzeption. Fries unterscheidet nun aber noch eine dritte Art der Apperzeption, die materiale. Ohne sie in den grundlegen- den Ausführungen über die „höchsten Gründe einer Theorie der Selbsttätigkeit im Erkennen“ *) besonders zu nennen, beginnt er doch den unmittelbar darauf folgenden Anhang mit dem Satz: „Das oberste Verhältnis einer Theorie unserer Vernunft ist das hier aufgewiesene einer formalen, materi- alen und transzendentalen Apperzeption“ s). Hierzu kommt die weitere Schwierigkeit, daß er im Verlaufe der folgenden Ausführungen als dritte neben der transzendentalen und der ursprünglichen formalen Apperzeption nicht die materiale, sondern die „re ineApperzeption“ einfülirt, d. h. „das reine Seibstbewußtsein, welches durch die Reflexion: Ich bin, oder ich denke, ausgesprochen wird, die Form des inneren Sinnes ist, und jeder inneren Anschauung das Ich als den einen und gleichen denkenden Gegenstand bestimmt“ 4). Die tatsächliche Grundlage der ganzen Deduktion ist aber die Gliederung in formale, materiale und transzenden- tale Apperzeption*). Wie läßt sich dies zusammenreimen ? Zunächst ist die Benennung „reine Apperzeption“ im Anschluß an Kant und in der Auseinandersetzung mit ihm gewählt. Sie dient der später von uns zu berücksichtigen- den Abgrenzung seines Apperzeptionsbegriffes dem Kanti- 1) N. Kr. II, 60. 2) N. Kr. § 90-92. Wir finden nur die Überschriften: a) Ein- heit der vernünftigen Erkenntniskraft; b) die transzendentale Apper- zeption; c) die ursprüngliche. 3) N. Kr. H, 62. 4) N. Kr. II, 64 f. 6) Vgl. N. Kr. II, 62, 82, 90, 102. Digitized by Google Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 251 sehen gegenüber. Das, was Fries mit diesem Ausdruck be- zeichnet, steht aber in engem Zusammenhang mit seiner „materialen Apperzeption“. Material heißt nach Fries eine Vorstellung, sofern sie ein Objekt hat, formal, sofern sie nur in der Rücksicht be- trachtet wird, daß anderes in oder unter ihr enthalten ist. Auch die oberste Einheitsform, die ursprüngliche formale Apperzeption ist als reine Form leer, sie bedarf der Ergän- zung durch materiale Erkenntnisse, die „ihren Gehalt“ bil- den, und sie ist, eben sofern sie Objekte hat, als „Erfül- lung der Form“ materiale Apperzeption im Verhältnis zur formalen Apperzeption als der reinen Form und zur tran- szendentalen Apperzeption als der erfüllten Form 1 j. Nun ent- hält unsere Erkenntnis aber drei Arten Gehaltbestimmungen der formalen Apperzeption: Erstens „die in ihrer Art einzige unmittelbare Gehaltbestimmung der transzendentalen Apper- zeption im reinen Selbstbewußtsein“; zweitens „die vie- len empirischen Gehaltbestimmungen durch den Sinn in der Empfindung, die Sinnesanschauungen einzelner Gegen- stände“; drittens „ursprüngliche Gehaltbestimmungen der formalen Apperzeption aus dem Wesen der Vernunft, so- wohl spekulativ durch die Natur ihrer Sinnlichkeit, als prak- tisch durch die handelnde Vernunft, die Erkenntnis a priori“2). Die einzelnen materialen Gehaltbestimmungen durch den Sinn traten uns bereits als unerläßliche Vorbedingung für die Entwicklung der Erkenntnis mehrfach entgegen. Die Erkenntnis a priori ist es, welche im folgenden deduziert werden soll. Beiden gegenüber nimmt das „reine Selbstbe- wußtsein“, d. h. die „reine Apperzeption“ eine Sonderstellung ein. Sie ist die „in ihrer Art einzige unmittelbare Gehalt- bestimmung der transzendentalen Apperzeption“, sofern sie unmittelbar jeder inneren Anschauung das Ich als den einen und gleichen denkenden Gegenstand bestimmt. Nun verstehen wir, wie Fries gelegentlich die „reine“ 1) N. Kr. II, 102, 62, 66. 2) N. Kr. II, 82. Digitized by Google 262 Kapitel VI. Apperzeption an Stelle der „materialen“ neben die tran- szendentale und die ursprüngliche formale stellen kann. Ist sie ja doch die bedeutsamste unmittelbare materiale Be- stimmung beider. Für die systematische Grundlegung der Vernunfttheorie aber kommt ausschließlich der umfassen- dere Begriff der materialen Apperzeption in Betracht, wäh- rend die „reine Apperzeption“ dann nur als „reines Selbst- bewußtsein“ eine der materialen Bestimmungen derselben vertritt. 3. Der Friesische Apperzeptionsbegriff in seinem Verhältnis zum Kantischen. Der Zcntralbegriff der Kantischen Erkenntnistheorie, derjenige der Apperzeption erfährt bei Fries eine eigentüm- liche Modifikation. Nach Fries leistet die Kantische Apper- zeptionstheorie nicht, was sie leisten sollte. Sie ist nicht im- stande, die wirklich vorkommenden Verbindungsformen unserer Erkenntnis aus der Theorie abzuleiten. Warf man Kant vor, daß er nicht imstande sei, anzugeben, warum wir gerade diese Formen der Kategorie und Idee besitzen, so antwortete er nur, daß dies kein unentbehrliches Bedürfnis der Kritik sei, was allerdings, meint Fries, „so wie er sich die Aufgabe gestellt hatte, nicht unrichtig, für die Evi- denz des ganzen Systems aber doch ein bedeutender Mangel war“1)- Diese Bemerkung von Fries gibt nun allerdings den Kantischen Standpunkt nur sehr ungenau wieder. Auf das Ansinnen, zu erklären, warum wir gerade diese Formen der Kategorien besitzen, hat Kant eine viel deutlicher ablehnende Antwort gegeben. Nach Kant läßt sich „von der Eigentüm- lichkeit unseres Verstandes“, „nur vermittelst der Kate- gorien und nur gerade durch diese Art und Zahl derselben Einheit der Apperzeption a priori zustande zu bringen“, „ebensowrenig ferner ein Grund angeben, als warum wir ge- rade diese und keine andere Funktionen zu Urteilen haben, 1) N. Kr. II, 63. Digilized by Google Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 258 oder warum Zeit und Raum die einzigen Formen unserer möglichen Anschauung sind“1). Mit der angeblichen Beant- wortung jener Frage aber: „daß dies kein unentbehrliches Bedürfnis seiner Kritik sei“, ist wohl an die auch in der Ab- handlung „Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie“ zitierten Ausführungen Kants gedacht, mit welchen er in den „Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft“8) auf Ulrichs Rezension in der Allgem. Zeitung Nr. 295 eingeht. Den Hauptpunkt bildet hier aber nicht die Begründung, warum wir gerade diese Kategorien besitzen, sondern die Behauptung, daß „ohne eine ganz klare und genugtuende Deduktion der Kategorien das System der Kritik der reinen Vernunft in seinem Fundament wanke“. Kant sucht dem gegenüber zu zeigen, daß es genüge, wenn bewiesen werden kann, „daß die Kategorien, deren sich die Vernunft in allem ihrem Erkenntnis bedienen muß, gar keinen anderen Gebrauch als bloß in Beziehung auf Gegen- stände der Erfahrung haben können, (dadurch daß sie in dieser bloß die Form des Denkens möglich machen)“ ; die Beantwortung der Frage, wie sie solche möglich machen, sei dann zwar wichtig genug, um die Deduktion zu vollen- den, aber in Beziehung auf den Hauptzweck des Systems, nämlich die Grenzbestimmung der reinen Vernunft, „keines- wegs notwendig, sondern bloß verdienstlich“. Und er setzt bei seiner Beweisführung bereits als „zugestanden“ voraus, daß die Tafel der Kategorien alle reinen Verstandes- begriffe und alle formalen Verstandesliandlungen in Urteilen vollständig enthalten4). Ist aber auch die Kritik, welche Fries an Kant übt, an dieser Stelle zu berichtigen, so berührt er damit doch einen der anerkannt schwachen Punkte des Kantischen Systems, und er sucht diese „Unvollstäudigkeit der Kan ti- schen Ansicht“ von seiner Grundposition aus zu erklä- ren und von seiner Apperzeptionslehre aus zu ergänzen. Da Kant den denkenden Verstand als Reflexionsver- 1) Kr. d. r. V. 66«. 2) S. W. VI, 38«. 3) S. W. V, 313 ff. 4; a. a. Ü., S. 315. Digitized by Google 2&4 Kapitel VI. mögen mit der unmittelbaren Vernunft verwechselte und das nur wiederholende Wesen der Reflexion nicht kannte, geschah es, daß er das, was wir transzendentale Apper- zeption oder das Ganze der unmittelbaren Erkenntnis un- serer Vernunft nennen, gar nicht bemerkte, indem er es von dem objektiven Dasein der Dinge nicht unterschied, daß er ferner in dem, was er „reine Apperzeption“, und „durch- gängige Identität aller Apperzeption“ nennt, unsere „ur- sprüngliche formale Apperzeption“ mit dem reinen Selbst- bewußtsein vermengte. Er beruft sich dabei auf die Apodik- tizität, welche in dem Ist als Kopula jedes Urteils liege *). Aber diese hat nichts mit dem reinen Selbstbewußtsein zu tun, sondern sie ist nur ein Abdruck der ursprünglichen formalen Apperzeption im Urteil der Reflexion1 2), deren einzelne £]in- heitsformen doch selbst erst durch jene ursprüngliche for- male Apperzeption möglich gemacht werden. Kants Fehler ist, daß er die Einheit der Reflexion, die Zusammenfassung aller Erkenntnisse in eine Einheit der Selbstbeobach- tung mit der unmittelbaren Einheit alles Erkennens ver- wechselte, und nun meinte, mit der ersten, die doch nur Eigentum der Reflexion ist, schon eine Theorie der Verbin- dung versuchen zu können. Wir dürfen die den Quell aller einzelnen Einheitsformen bildende Apperzeption nicht mit Kant durch das „Ich bin“ bezeichnen, denn auch dies ist nur eine einzelne materiale Bestimmung derselben. Wir müssen sie vielmehr mit Formen vergleichen, wie z. B. die Anschau- ung des unendlichen Raumes in abstracto, wie die Geometrie ihn voraussetzt, oder die alles in einem Ganzen zusammen- fassenden Formen Welt, Weltordnung oder auch wiederSatz: Jedem Dinge kommt entweder ein Begriff oder sein Gegen- teil zu, als Form der Bestimmbarkeit von allem durch jedes. 1) Fries nimmt wie überall, so auch hier auf die zweite Auf- lage der Kr. d. r. V. Bezug, in deren Fassung der transzendentalen Deduktion das Urteil als die Art, gegebene Erkenntnisse zur ob- jektiven Einheit der Apperzeption zu bringen, fiir die Beweisführung verwertet wird. Vgl. Kr. d. r. V., S. 666 f. 2) N. Kr. II, 61. Digitized by Google Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 255 In Wirklichkeit sind dies alles freilich nur Abdrücke der reinen formalen Apperzeption vor der Reflexion, sie selbst nennen wir am besten die „Grund vorstellung der Einheit und Notwendigkeit“ 1 2). , Nach Fries erscheint also die Rantische Synthesis, so wie er sie in ihren einzelnen Formen aufstellt und in den Grundsätzen des Verstandes entwickelt, nur als ein Akt des Reflexionsvermögens, als „eine Wiederholung, deren Ori- ginal er nicht kennt“, während sich doch durch eine solche Synthesis niemals das werde als objektive synthetische Ein- heit der Erkenntnis vorstellen lassen, was in der unmittel- baren Erkenntnis unserer Vernunft nicht schon verbunden sei. Er trifft damit allerdings den Kern des Kantisohen Apperzeptionsbegriffes nicht, und die Beweise, welche er dafür aus Kant selbst anführen zu können glaubt, reichen, wenn man die Stellen richtig versteht, nicht aus. Wenn Fries sagt, Kants Fehler in dieser ganzen Ansicht unserer Vernunft lasse sich auch dadurch charakterisieren: „Selbst- tätigkeit der Erkenntniskraft sei ihm immer Willkürlich- keit derselben d. h. Reflexion“, so lesen wir an der von ihm zitierten Belegstelle*), daß Kant die Verbindung des Mannig- faltigen Synthesis nennen will, „um dadurch zugleich be- merklich zu machen, daß wir uns nichts, als im Objekt ver- bunden, vorstellen können, ohne es vorher selbst verbunden zu haben, und unter allen Vorstellungen die Verbindung die einzige ist, die nicht durch Objekte gegeben, sondern nur vom Subjekte selbst verrichtet werden kann, weil sie ein Actus seiner Selbsttätigkeit ist“. Eine Willkürlichkeit spielt hier nicht herein, ist vielmehr durch die Gesetzmäßig- keit des ganzen Vorganges ausgeschlossen. Wenn Fries ferner sich darauf beruft, Synthesis sei nach Kant die Hand- lung des Verstandes, eine Vorstellung zu der andern hinzu- zusetzen und beide in einem Bewußtsein zu vereinigen, was 1) N. Kr. II, 65. 2) Nach Fries: Kr. d. r. V. 130, also in der 2. Aufl. (bei Kehr- baeh 658) wohl der oben angeführte Satz. Digitized by Google 256 Kapitel VI. nur die Reflexion tue, so lesen wir bei Kant1 2): „diese Bezie- hung [auf die Identität des Subjekts] geschieht also dadurch noch nicht, daß ich jede Vorstellung mit Bewußtsein be- gleite, sondern daß ich eine zu der andern hinzusetze, und mir der Synthesis derselben bewußt bin. Also nur da- durch, daß ich ein Mannigfaltiges gegebener Vorstellungen in einem Bewußtsein verbinden kann, ist es möglich, daß ich mir die Identität des Bewußtseins in diesen Vor- stellungen selbst vorstelle, d. i. die analytische Einheit der Apperzeption ist nur unter der Voraussetzung irgend einer synthetischen möglich“. Daraus geht deutlich her- vor, daß auch nach Kant die für die Reflexion charakteristi- sche Form der analytischen Einheit die synthetische Einheit bereits voraussetzt. Diese synthetische Einheit selbst aber ist nicht ein Erzeugnis der Reflexion, sondern sie entstammt — wenigstens nach derjenigen Theorie, welche in der endgil- tigen Redaktion der „Kritik der reinen Vernunft“ beider Auflagen uns vorliegt — zuletzt der schöpferischen Fähig- keit der produktiven Einbildungskraft3), die damit gewisser- maßen das ersetzt, was bei Fries die „unmittelbare Er- kenntnis“ leistete. Daß es nicht zulässig ist, die Kantische Synthesis als einen Akt des Reflexionsvermögens zu bezeichnen, geht aber auch daraus hervor, daß der „innere Sinn“, zu welchem nach Fries die Reflexion als eine Art wissenschaftlicher Fort- setzung und Vollendung desselben in der engsten Beziehung steht, bei Kant aufs schärfste von der Synthesis der Apper- zeption getrennt wird. Die transzendentale Einheit der Apper- zeption ist nach Kant „diejenige, durch welche alles in einer Anschauung gegebene Mannigfaltige in einen Begriff vom Objekt vereinigt wird. Sie heißt darum objektiv und muß von der subjektiven Einheit des Bewußtseins unter- schieden werden, die eine Bestimmung des inneren Sinnes ist, dadurch jenes Mannigfaltige der Anschauung zu 1) Nach Fries N. Kr. II, 66: Kr. d. r. V., 133, bei Kehrbach 660. 2) Kr. d. r. V., 129, 272 vgl. oben S. 52 ff. Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 257 einer solchen Verbindung empirisch gegeben wird“ *). Er be- zeichnet auch den innern Sinn als die empirische im Unter- schied von der transzendentalen Apperzeption1 2). Die letz- tere aber ist bei Kant die ursprüngliche und transzendentale Bedingung, welche alles Empirische und damit auch alle innerhalb der Erfahrung liegende Tätigkeit des inneren Sinnes und der Reflexion 3) erst möglich macht. 4. Die methodologische Bedeutung des Friesischen Apperzeptionsbegriffs. Jedenfalls hat Fries durch seine Unterscheidung dreier verschiedener Seiten des Apperzeptionsbegriffes nicht bloß die Grundlage für seine Deduktion, sondern auch die Mög- lichkeitgewonnen, seinen Standpunkt anderen Auffassungen gegenüber scharf abzugrenzen und zu behaupten. Mit seiner „materialen Apperzeption“ nimmt er das in den Apperzep- tionsbegriff herein, was bei Kant als „transzendentaler Ge- genstand“ 4) gleichsam das objektive Korrelat der transzen- dentalen Apperzeption bildet, präzisiert den formalen Charak- ter der Kantischen Apperzeption in seiner „ursprünglichen formalen Apperzeption“, und faßt alles in dem Begriff der transzendentalen Apperzeption als dem „unmittelbaren Gan- zen der Erkenntnis“ zusammen. Dem Empirismus und Rationalismus gegenüber weiß er seine Entwicklung der Theorie der Vernunft aus an- thropologischen Prinzipien geschickt zu vertreten. Als „phy- sikalische Theorie“, die sich auf Erfahrung und innere An- schauung gründet, läßt sie weit festere Beurteilungen zu, als die höchsten Abstraktionen der Spekulationen selbst. 1) Kr. d. r. V., 664, vgl. auch 673: „Daher man auch lieber den inneren Sinn mit dem Vermögen der Apperzeption (welche wir sorgfältig unterscheiden) in den Systemen der Psychologie für einerlei auszugeben pflegt.“ 2) Kr. d. r. V. 121. 3) Diesen Begriff hier stets im Friesischen, nicht iin Kantischen Sinne genommen. 4) Vgl. Kr. d. r. V. 122 f. Eisenbaus, J. F. Fries und die Kultische Erkenntnistheorie. 17 258 Kapitel VI. „Überhaupt ist die Behandlung der höchsten Abstraktionen so unbestimmt und schwankend, daß fast kein Philosoph zu einem bestimmten System anders gelangt, als daß er (oft sich selbst unbewußt) eine psychologische Hypothese über die Theorie der Vernunft voraussetzt, nach der er die Wahrheit in spekulativen Dingen in oberster Instanz prüft und abur- teilt.“ So liegt allem Empirismus in der Philosophie zu- letzt die anthropologische Hypothese zugrunde, daß der Mensch eine nur sinnliche Erkenntniskraft besitze. Dem- gegenüber läßt sich, eben auf dem bezeichnetcn anthropolo- gischen Wege, aus dem tatsächlichen Vorkommen der Vor- stellungen und ihrer Verknüpfungen in unserem Geiste zei- gen, daß nicht nur die in Anspruch genommene Notwendig- keit in der Anwendung, sondern selbst der leere Begriff der Notwendigkeit, der leere Gedanke des Ist als der Kopula in dem Urteil A ist A von einer solchen Hypothese aus unver- ständlich wird. Hume glaubte allerdings beweisen zu können, alle unsere Anwendung allgemeiner Gesetze werde durch Induktion nur aus der Erfahrung entlehnt; man könne also alle Voraussetzung der Notwendigkeit, wie sie in unserem Geiste vorkommt, ebensogut nur durch Gewohnheit erklären. Psychologisch ausgedrückt würde das heißen: „Was ihr mit eurer Theorie der Vernunft zu erklären sucht, das läßt sich ebensogut durch bloße Einbildungskraft erklären, die doch bekanntlich ein nur sinnliches Vermögen ist . .u Bei richtigerer Beobachtung hätte Hume bemerken müssen, daß „seine von Impressionen belebte Einbildungskraft ent- weder nicht einmal Einbildungskraft (intensive Einheit ihrer Tätigkeit) oder zugleich auch Vernunft als Quell der Not- wendigkeit (extensive Einheit ihrer Tätigkeit) besitzen müsse“ *). Dagegen liegt der anderen einseitigen Richtung in der Philosophie, dem Rationalismus, zuletzt die anthropolo- gische Hypothese zugrunde, daß der Mensch eine vom Sinn zu befreiende Erkenntnis durch die bloße Vernunft besitze. 1) N. Kr. II. 74 f. Digitized by Google Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 259 Es gibt allerdings Erkenntnisse aus bloßer Vernunft, näm- lich die Erkenntnisse a priori, die Quellen der Allgemeinheit und Notwendigkeit, aber diese für sich allein sind bloße Formen an einem Ganzen der Erkenntnis, dessen Material vom Sinn entlehnt ist, Formen, die nur mit Hilfe der Ab- straktion von diesem Ganzen gelöst und für sich betrachtet werden können. Die ursprüngliche formale und die mate- riale Apperzeption gehören zusammen. Unsere Erkenntnis verhält sich hier wie das organische Leben unseres Körpers. Die Organisation desselben bestimmt die Form der Lebens- funktionen, den Kreislauf der Säfte, die Respiration, Assimi- lation, Nutrition. Aber es muß ihm beständig neuer Stoff an Speise und Luft zugeführt werden-, sonst müßte, wenn auch die Organisation weiter bestände, die Lebensäußerung aufhören. So bestimmen in der Erkenntnis Organisation und Vernunft die Formen der Äußerung, diese selbst aber ist bedingt durch eine für sie zufällige äußere Einwirkung, eine Anregung durch reizende Potenzen oder „Sinn“. Der Rationalismus übersieht diese Bedingung und fordert im Widerspruch mit der wirklichen Beschaffenheit der mensch- lichen Erkenntnis die intellektuelle Anschauung einer ab- soluten Vernunft, die sich selbst den Gehalt ihrer Erkennt- nis schafft. Die Methode, welche Fries hier, wie in dieser gan- zen Grundlegung der Deduktion anwendet, ist die anthro- pologische. Der psychologische Einschlag, welcher in Kants transzendentaler Deduktion der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft nicht zu verkennen ist, ist hier zum be- herrschenden Moment geworden. Die Kritik der Vernunft wird für Fries — das tritt besonders an diesem Zentral- punkte hervor — zu einer „auf Selbstbeobachtung ruhenden Erfahrungswissenschaft“. Das Eigenartige der philosophi- schen Stellung des Friesischen Systems besteht nun aber darin, daß von seiner Theorie der unmittelbaren Erkenntnis aus gerade der Hauptgrund, der für Kant jede Einmischung der Erfahrung in das wichtigste Geschäft der Vernunftkritik verbietet, seine Beweiskraft verliert. Die Methode und die 260 Kapitel VI. Formen, deren sich jene Erfahrungswissenschaft bedient, sind nur Eigentum der Reflexion. Die wesentlichen Mo- mente aller wahren Erkenntnis, Allgemeinheit und Notwendigkeit hängen nicht an ihnen, son- dern sie sind der „unmittelbaren Erkenntnis“, sie sind vor allem dem einen Ganzen der unmittel- baren Erkenntnis, das er transzendentale Apper- zeption nennt, von Hause aus eigen. Die Rechtfertigung der Erkenntnisprinzipien durch diese anthropologische Untersuchung kann deshalb auch, wie unsere Besprechung der Methode der Deduktion schon gezeigt hat und ein Überblick über diese selbst noch zeigen wird, kein Beweis sein, sondern nur eine Ableitung dessen aus einer Theorie der Vernunft, was seiner allgemeinen und notwendigen Giltigkeit nach an und für sich schon feststeht. Die Lehre von der „unmittelbaren Erkenntnis“ bildet so ein Gegengewicht gegen den empiri- schen Charakter der anthropologischen Methode. Von diesem seinem Standpunkt aus verwahrt sich daher Fries mit Recht dagegen, daß dieses Eigentümliche seiner Forderung der Deduktionen und die Berufung auf psychi- sche Anthropologie, um diese Deduktionen zu geben, wieder- holt auch von scharfsinnigen Männern mißverstanden und sein Philosophem darum widerrechtlich zu den empirischen gerechnet worden sei *). II. Die Bestimmung des Gegenstandes durch Erkenntnis a priori. Haben wir mit der Feststellung der aller Synthesis zu- grunde liegenden Vernunftbeschaffenheit und ihrer ver- schiedenen Arten die subjektive Seite des Deduktions- problems erörtert, so tritt uns in der Frage nach der Be- stimmung des Gegenstandes durch die Erkenntnis a priori die objektive Seite desselben entgegen. Die Frage der Beziehung der Vorstellung auf den Gegenstand war es ja, 1) Metaphysik 117. Digitized by Google Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 261 welche in dem Geiste des Schöpfers der Vernunftkritik, in Kant selbst die Idee seines Werkes zur Reife brachte. Erst in dem Augenblick glaubte er, wie er in dem Briefe an Herz vom 22. Februar 1772 schreibt, „den Schlüssel zu dem gan- zen Geheimnisse der bis dahin sich selbst noch verborgenen Metaphysik“ in Händen zu haben, als er sich selbst die Frage stellte: „Auf welchem Grunde beruht die Beziehung desjenigen, was man in uns Vorstellung nennt, auf den Ge- genstand“ ; und so ist auch die ganze Fragestellung seiner transzendentalen Deduktion durch die Beziehung auf den Gegenstand bedingt. Bei der subjektiv-anthropologischen Position, welche Fries einnimmt, werden wir im voraus erwarten dürfen, daß gerade hier eine der Hauptdifferenzen zwischen ihm und seinem Lehrer Kant liegen wird. Zur Klärung des Sachverhaltes haben wir uns zuerst über den Wahrheitsbegriff bei Fries zu orientieren. 1. Empirische und transzendentale Wahrheit. Begründung einer Erkenntnis ist uichts anderes, als das Aufweisen ihrer Wahrheit und Giltigkeit. Dabei ma- chen sich aber zweierlei Wahrheitsbegriffe geltend. Nach der gewöhnlichen logischen Erklärung ist Wahrheit die Übereinstimmung einer Erkenntnis mit ihrem Gegenstände. Fries nennt diese Wahrheit transzendentale Wahrheit oder Wahrheit der Vernunft. Daneben macht sich aber noch ein anderer Begriff der Wahrheit geltend, indem wir eine Erkenntnis wahr nennen, wenn wir uns bewußt sind, sie in unserer Vernunft zu haben, falsch, wenn wir uns be- wußt sind, ihr Gegenteil zu haben. Diese Wahrheit, welche nur nach dem Vorhandensein im Geiste fragt, bezeichnet Fries als empirische WTahr heit oder Wahrheit des Ver- standes. Im ersteren Fall handelt es sich um objektive Be- gründung, da hier die Realität des Gegenstandes als Grund der Wahrheit einer Erkenntnis vorausgesetzt wird, im zwei- ten Fall um subjektive Begründung, da hier nur aus der 262 Kapitel VI. Geschichte der Vernunft erklärt wird, wie sic zu dieser oder jener Erkenntnis gelangt1). In der Regel setzen wir nun voraus, solange wir nicht durch künstliche Spekulation zu einer anderen Ansicht ge- langen, es handle sich bei der Begründung unserer Erkennt- nisse um die Wahrheit im erstgenannten Sinne, um die Übereinstimmung der Vorstellung mit dem Gegenstände. Dies ist aber keineswegs immer der Fall. Ob ein gefälltes Urteil wahr oder falsch, ob eine gehabte Anschauung Traum oder Wirklichkeit sei, bestimmen wir sehr oft, ohne nach der Übereinstimmung der Vorstellung mit dem Gegenstände zu fragen. In der Tat kann uns diese Übereinstimmung auch zu gar nichts helfen; denn wir können ja nicht aus unserer Erkenntnis des Gegenstandes heraustreten, um ihn selbst mit dieser zu vergleichen, sondern jeder Gegenstand wird uns, eben indem wir ihn vergleichen, Gegenstand einer Erkenntnis. „Selbst in der Aussage, Ich bin, hilft uns die Identität des Aussagenden mit dem Gegenstände der Aussage zu nichts, um dieser Vergleichung näher zu kom- men, denn auch ich selbst werde mir zum Gegenstände erst vermittelst dieser Aussage und kann nicht Aussage und Gegenstand gleichsam zur Vergleichung nebeneinander stellen“ 2). Worauf beruht dann aber hier das Urteil über Wahr- heit oder Falschheit? Die Antwort lautet verschieden für die mittelbare und für die unmittelbare Erkenntnis. Für die mittelbare Erkenntnis liegt die Wahrheit • • in ihrer Übereinstimmung mit der unmittelbaren Erkenntnis. Irrtum oder Täuschung, von denen wir im gemeinen Leben sprechen, beziehen sich immer nur auf eine mittelbare Erkenntnis, welche der willkürlich tätige Verstand nicht richtig auf das unmittelbar Gewisse bezogen hat. Es ängstigt uns z. B. ein Traum wie bange Wirklich- keit; erst im Erwachen sehen wir, daß seine schwankenden 1) N. Kr. I, § 71, S. 344 ff. 2) N. Kr. I, 347. Digitized by Google Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 263 • Bilder dem festen Gang der wirklichen Anschauung nicht entsprachen, und nun erklären wir ihn für Täuschung, da wir einsehen, daß wir irrig eine mittelbare Vorstellung der Einbildungskraft als eine unmittelbare Anschauungserkennt- nis beurteilt hatten. Anders bei der unmittelbaren Erkenntnis selbst. Hier beruht die Wahrheit auf dem bloßen Dasein der Erkennt- nis im Geiste. So liegt die Evidenz der unmittelbaren anschaulichen Erkenntnis eines gegebenen Gegenstandes durchaus nicht in einem Kausal Verhältnis zu dem Gegen- stände, der als Ursache der Affektion die Empfindung her- vorbrächte, sondern nur darin, daß der Gegenstand als ge- geben vorgestellt wird. So beruht die Wahrheit der apriori- schen Erkenntnis, des unmittelbaren Notwendigen und All- gemeingiltigen, dessen wir uns durch Reflexion bewußt werden können, ausschließlich auf ihrem Vorhandensein im Geiste. Sobald wir also die Frage stellen: Welche Erkennt- nisse sind wirklich in unserer Vernunft vorhanden?, so han- delt es sich um eine Aufgabe des mittelbaren Wieder- beobachtungsvermögens, des denkenden Verstandes, und die Wahrheit besteht dann nur in der Übereinstimmung meiner Selbstbeobachtung mit den wirklich in meiner Ver- nunft gegebenen Erkenntnissen. Es ist also empirische Wahrheit, um die wir uns hierbei bemühen. Transzendentale Wahrheit hat unsere Erkenntnis oder hat sie nicht, ohne daß wir selbst etwas dafür oder dawider tun können 1). Die Frage, inwieweit das System unserer Er- kenntnisse mit dem Gegenstände fyi sich übereinstimmt, in- wieweit ihm also transzendentale Wahrheit zukommt, wird uns später zu beschäftigen haben. Wir müssen erst alle Regeln der empirischen Wahrheit kennen, ehe sich über die transzendentale Wahrheit ein Urteil gewinnen läßt*). Jedenfalls bewegen wir uns bei dem Versuch einer wissen- schaftlichen Begründung unserer Erkenntnis stets inner- halb der subjektiven Geschichte unseres Erkennens. T) N. Kr. I, 351. 2) N. Kr. II, 101. Digitized by Google 2f>4 Kapitel VI. Dieser Gesichtspunkt muß nun auch für die prinzipielle Vorfrage der Deduktion, für die Frage der objektiven Giltig- keit geltend gemacht werden. 2. Der Begriff der objektiven Giltigkeit bei Fries und Kant. Kant geht in seiner transzendentalen Deduktion von dem Satze aus : „Es sind nur zwei Fälle möglich, unter de- nen synthetische Vorstellung und ihre Gegenstände Zu- sammentreffen *) können. Entweder wenn der Gegenstand die Vorstellung oder diese den Gegenstand allein möglich macht. Ist das erstere, so ist diese Beziehung nur empirisch u.s.w.“ Es trete hier, meint Fries, deutlich hervor, daß Kant die Objektivität der Sinnesanschauung durch ein Kausalver- hältnis des Affizierenden erklären wolle, daß er überhaupt auf dasjenige ausgehe, was wir objektive Begründung unserer Er- kenntnisse nennen. „Er setzt die objektive Giltigkeit oder em- pirische Realität der Gegenstände der Sinnesanschauung als unbezweifelt voraus und meint nun, nur die gleichen Rechte des a priori Gegebenen beweisen zu müssen. Zum Beweis zeigte er dann, daß wir ohne die Kategorien die objektive Giltigkeit jener Anschauungen gar nicht zu erkennen ver- möchten, daß wir z. B. nur darin Abfolge der Dinge und nicht bloße Folge unserer Vorstellungen erkennen, daß das Eine durch das Andere ist, nach der Kategorie der Kausa- lität, daß wir nur dann Dinge zugleich nennen können, wenn sie mit einander sind durch Wechselwirkung. So richtig nun das letztere ist, so ist doch die Absicht der gan- zen Darstellung fehlerhaft durch den Mißverstand dessen, was objektiv gütig sei. Objektive Giltigkeit ist nicht etwas, was wir erst mittelbar in der Geschichte unseres Vorstellens zu dieser hinzubringen, sondern sie liegt unmittelbar bei 1) In dem Friesischen Zitat N. Kr. I, 354 sind nach dem Wort „Zusammentreffen“ die folgenden Worte des Kantischen Textes (Kr. d. r. V. 109) weggelassen: „ . . . sich auf einander notwendiger Weise beziehen, und gleichsam einander begegnen Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 265 jeder Erkenntnistätigkeit. Jene Abstufungen der Giltig- keit, zu denen der Verstand erst die Notwendigkeit hinzu- bringt, gehören hingegen nur der subjektiven Giltigkeit, sie sind Stufen der Wiederbeobachtung, welche in der Notwen- digkeit der Reflexion so weit vollendet ist, als wir sie zu vollenden vermögen“1). Die objektive Giltigkeit gehört also weder den einzel- nen Sinnesanschauungen noch den einzelnen Denk formen für sich, die sich nur nach subjektiven Verhältnissen unter- scheiden, sondern jedem nur nach seinem Verhältnis zum vollständigen Ganzen unserer Erkenntnis, so wie es unmittelbar in der Vernunft ist, d. h. zum geschlosse- nen Ganzen der transzendentalen Apperzeption. In unseren Erkenntnissen gibt es allerdings gewisse Bestimmungen des Gegenstandes a priori durch analytische Einheit, andere durch synthetische Einheit; aber in dieser Zerteilung dürfen wir die Giltigkeit der Erkenntnis nicht auf den Gegenstand beziehen. Wir müssen uns erst durch alle Bruchstücke des Empfindens, Phantasierens, Dichtens und Denkens durchgefunden haben, um die innere Einheit unseres Erkennens verstehen zu lernen. Nur diese macht eigentlich unsere Erkenntnis selbst, nur sie „hat das Objekt“. In der letztgenannten Fassung: nur das geschlossene Ganze der transzendentalen Apperzeption hat das Objekt, fand die Ansicht, welche Fries von der objektiven Giltig- keit hat, ihren prägnantesten Ausdruck. Auch die Diffe- renz von Kant glaubt er damit am schärfsten zum Ausdruck zu bringen. Nach Kant hat ja nicht, meint Fries, die tran- szendentale Apperzeption das Objekt, sondern er setzt die objektive Giltigkeit oder empirische Realität der Gegen- stände der Sinnesauschauung als unbezweifelt voraus und meint nun, nur die gleichen Rechte des a priori Gegebenen beweisen zu müssen. Diese Auffassung trifft jedoch nur inso- weit zu, als der Kantische Begriff der objektiven Giltigkeit, wie dies bei Fries ja auch geschieht, auf das „Kausalverhält- 1) N. Kr. II, 97 f. Digitized by Google 266 Kapitel VI. nis des Gegenstandes als das Af fixierende zur Empfindung“ bezogen wird. Wenn aber Kant in jenem vielbesprochenen und so verschieden gedeuteten ersten Paragraphen der tran- szendentalen Ästhetik sagt: „Die Fähigkeit (Rezeptivität), Vorstellungen durch die Art, wie wir von Gegenständen af fixiert werden, zu bekommen, heißt Sinnlichkeit“, und: „die Wirkung eines Gegenstandes auf die Vorstellungsfähig- keit, sofern wir von derselben affiziert werden, ist Empfin- dung“, so ist hier jedenfalls der Begriff „Gegenstand“ nicht in demselben Sinne gebraucht, wie innerhalb des Gedan- kengauges der transzendentalen Deduktion. Die Affektion durch den ersteren liefert nur die an sich ungeordnete Mannigfaltigkeit des Empfindungsmaterials. Innerhalb der „transzendentalen Deduktion“ aber handelt es sich um den „Gegenstand Überhaupt“, um den „reinen Begriff von dem transzendentalen Gegenstände“, der „bei allen unseren Er- kenntnissen immer einerlei = X ist“ *). Er ist es, der allen unseren empirischen Begriffen überhaupt Beziehung auf einen Gegenstand d. i. objektive Realität oder objektive Giltigkeit verschaffen kann. Kant spricht allerdings schon in der transzendentalen Ästhetik von der „empirischen Re- alität d. i. der objektiven Giltigkeit“ des Raumes und der Zeit2) „in Ansehung aller Gegenstände, die jemals un- seren Sinnen gegeben werden mögen“. Es gehört dies aber neben der Vieldeutigkeit des Gegenstandsbegriffes zu den Unebenheiten, welche mit der Entstehungsweise der Ver- nunftkritik Zusammenhängen. Der Begriff der syntheti- schen Einheit tritt in der Entwicklung Kants nur allmählich als der allbeherrschende hervor, und er schafft dann erst den echten Begriff der objektiven Giltigkeit, auf dessen Er- weis die ganze transzendentale Deduktion gerichtet ist. Diese Fassung des Begriffs aber ist von der Friesischen nicht so weit entfernt, als es nach Fries eigenen Äuße- rungen scheinen könnte. Die Beziehung auf den Gegen- stand, welche die objektive Giltigkeit ausmacht, ist auch 1) Kr. d. r. V. 122. 2) lvr. d. r. V. 55 f. Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 267 nach Kant nichts anderes „als die notwendige Einheit des Bewußtseins, mithin auch der Synthesis des Mannigfaltigen durch gemeinschaftliche Funktion des Gemüts, es in einer Vorstellung zu verbinden“ l). Auch für Kant ist es nur eine Erfahrung, in welcher alle Wahrnehmungen als im durch- gängigen und gesetzmäßigen Zusammenhänge vorgestellt werden, und „wenn man von verschiedenen Erfahrungen spricht, so sind es nur so viel Wahrnehmungen, sofern solche zu einer und derselben allgemeinen Erfahrung ge- hören“2). Und die Differenz scheint vollends zusammen- zuschwinden, wenn Kant von der „formalen Einheit der Natur“ redet, deren Quelle der Verstand ist, oder wenn er sagt: „Bedenkt man aber, daß diese Natur an sich nichts als ein Inbegriff von Erscheinungen, mithin kein Ding an sich, sondern bloß eine Menge von Vorstellungen des Ge müts sei, so wird man sich nicht wundern, sie bloß in dem Radikalvermögen aller unserer Erkenntnis, nämlich der transzendentalen Apperzeption, in derjenigen Einheit zu sehen, um derentwillen allein sie Objekt aller möglichen Erfahrung d. i. Natur heißen kann“3). Können wir nicht von hier aus auch mit Kant sagen: Nur die Einheit der Apperzeption hat das Objekt? Allerdings soll nach Fries die objektive Giltigkeit nicht etwas sein, was wir erst mittelbar in der Geschichte unseres Vorstellens zu dieser hinzubringen, sondern sie soll unmittelbar „bei jeder Erkenntnistätigkeit liegen“. Aber auch nach Kant „geht die Art, wie das Man- nigfaltige der sinnlichen Vorstellung (Anschauung) zu einem Bewußtsein gehört, vor aller Erkenntnis des Gegenstandes, als die intellektuelle Form derselben, vorher und macht selbst eine formale Erkenntnis aller Gegenstände a priori überhaupt aus, sofern sie gedacht werden“, und „die Syn- thesis derselben durch die reine Einbildungskraft, die Ein- heit aller Vorstellungen in Beziehung auf die ursprüngliche Apperzeption gehen aller empirischen Erkenntnis vor“'1). 1) Kr. d. r. V. 122. 2) Kr. d. r. V. 123. 3) Kr. d. r. V. 126. 4) Kr. d. r. V. 137. ♦ Digilized by Google 268 Kapitel VI. Die objektive Giltigkeit besteht also für Kant wie für Fries nicht in der Übereinstimmung der Vorstellung mit einem davon unabhängigen Objekt, sondern in einer Einheit schaffenden Funktion des Erkenntnisvermögens. Die — allerdings bedeutsamen — Unterschiede beider liegen nur darin, daß Fries das Bewußtwerden dieser Funktion als ein Moment der Reflexion scharf von der Funktion selbst als einem Moment der unmittelbaren Erkenntnis geschieden wissen will, und daß er die Deduktion als eine Aufgabe der Anthropologie betrachtet, während sie nach Kant der von aller empirisch- anthropologischen Betrachtungsweise völlig zu scheidenden transzendentalen Logik angehört. Beide Differenzen hängen übrigens aufs engste zusammen. Denn das Interesse, die objektive Giltigkeit der Erkenntnisprin- zipien zu sichern, welches Kant bei seiner Betonung des zweiten Punktes leitet, wird bei Fries dadurch befriedigt, daß diese objektive Giltigkeit selbst schon der unmittelbaren Erkenntnis beigelegt und dadurch aller wissenschaftlichen Beweisführung und ebendamit auch der Abhängigkeit von der Psychologie entzogen wird. Nun haben wir aber der Deduktion der einzelnen For- men selbst näher zu treten. III. Die Deduktion selbst. Wir haben die aller notwendigen Einheit in unserer Er- kenntnis zugrunde liegende Vernunftbeschaffenheit auf- gewiesen und festgestellt, in welchem Sinne von einer ob- jektiven Giltigkeit einer solchen Einheit die Rede sein kann. Nun kommt aber in unserer wirklichen Erkenntnis nicht nur diese Einheit und Notwendigkeit in abstracto vor, sondern sie zeigt sich in diesen bestimmten Formen der An- schauung von Raum und Zeit, in diesen bestimmten Kate- gorien u. s. w. Es erhebt sich daher die Frage: Wie kommt es, daß sich in unsrer Vernunft gerade diese bestimmten Formen der notwendigen Einheit ausbilden? Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 269 1. Gesamtübersicht der Deduktion der Prinzipien a priori überhaupt. Das oberste Verhältnis in unserer erkennenden Ver- nunft, das der ursprünglichen formalen, materialen und transzendentalen Apperzeption entspricht den Formen des Vernunftschlusses. Die ursprüngliche formale Apperzep- tion steht als „reine Form“ an der Stelle des Obersatzes, der allgemeinen Bedingung, unter der für die Urteilskraft jedes Bedingte des Sinnes steht. Die materiale Apperzep- tion, welche als „Erfüllung der Form“1 2) die Stelle des Untersatzes vertritt, verschafft der Erkenntnis erst einen Gegenstand, sie liefert das Bedingte für die allgemeine Be- dingung. Und die transzendentale Apperzeption, das not- wendige Ganze der Erkenntnis steht als „erfüllte Form“ an der Stelle des Schlußsatzes, indem wir den assertorischen Gehalt der Erkenntnis dem apodiktischen Wert der — für sich allein betrachtet aus problematischen Vorstellungen bestehenden — allgemeinen und notwendigen Gesetze unter- ordnen. Alle Wissenschaft aus reiner Vernunft muß sich diesen Formen anschließen; wir haben daher in dieser Überein- stimmung der Form des Vernun ftschlusses mit der ersten und obersten Organisation unserer Vernunft ein wich- tiges Regulativ für alle Spekulation zu sehen*). Wir gewinnen von hier aus zunächst eine Gesamtüber- sicht über die Deduktion der Prinzipien a priori überhaupt. Die Deduktion aller Prinzipien a priori ist durch eine Theorie der Vernunft zu liefern, welche nachweist, wie ihre Erkenntnisse a priori aus den subjektiven Verhältnissen ihrer Organisation entspringen. Was in diesen Erkennt- nissen die Vernünftigkeit konstituiert, das ist die ursprüng- liche formale Apperzeption der Grundvorstellung der Ein- 1) So fällt z. B. die Materie in Kaum und Zeit, oder der Fall unter die Regel. 2) N. Kr. II, § 99 S. 89 ff.; § 103 S. 102 f. 270 Kapitel VI. heit und Notwendigkeit. Wirkliche Erkenntnis a priori und ihr Prinzip kann jedoch nur in durchgängigen materialen Bestimmungen dieser formalen Grundvorstellung be- stehen, die sich nach der Besonderheit der inneren Vernunft- organisation differenzieren. In der Art aber, wie sich diese materialen Bestimmungen in der Vernunft bilden, wieder- holt sich der Unterschied der drei Sätze im Vernunftschluß. Zunächst gibt es eine unabhängige Erkenntnis a priori, in der unsdieGrundvorstellungderEinheitundNotwendigkeit als formale Bedingung aller durch den Sinn gegebenen und zu gebenden materialen Erkenntnis zum Bewußtsein kommt. Zu dieser nur durch die formale Apperzeption bestimmten Erkenntnis a priori, die wenn wir die Kantische Unter- scheidung zwischen logischem und transzendentalem Den- ken anwenden, dem transzendentalen Verstände zu- zurechnen ist, müssen also alle Formen der mathematischen anschaulichen, der analytischen logischen und der synthe- tischen Einheit in Kategorie und Idee gehören. Die Auf- gabe der Deduktion ist es dann, aus dem Verhältnis des sinnlichen Materials zur formalen Grundvorstellung in der Einheit der transzendentalen Apperzeption alle jene For- men abzuleiten. Die materiale Apperzeption, welche den Untersatz ver- tritt, schließt die Forderung in sich, daß jede materiale Er- kenntnis zur Einheit und Gesetzmäßigkeit der Vernunft zu- sammenstimmt, da sie nur Modifikation ihrer einen Grund- tätigkeit ist. Nun fällt aber der einzelne Gehalt der sinn- lichen Erkenntnis nicht nach den Verhältnissen dieser Ein- heit und Gesetzmäßigkeit, sondern als ein zufälliger und vereinzelter in die Wahrnehmung; und so läßt sich — gleichsam in Unterordnung unter einen unaussprechlichen Obersatz — die Zusammenstimmung des zufällig Gegebenen mit dem Gesetze der Einheit nur auf eine freie Weise be- urteilen, nämlich nach Maximen der Urteilskraft, welche daun in ihrer höchsten Unabhängigkeit die ästhetischen Ideen des Schönen und Erhabenen ergaben. Endlich wird die Vernunft selbst als transzendentale Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 271 Apperzeption, als ein Vermögen des Ganzen der unmittel- baren Erkenntnis da, wo sie ohne die Beschränkungen des Sinnes aus dem Wesen der Vernunft selbst ursprüngliche Bestimmungen gewinnen will, an die höchste Realität in un- serem Wesen, unabhängig von den Schranken des Sinnes, Ansprüche machen müssen. Dieser Art ist die Bestimmung der Prinzipien a priori durch die „Idee des absoluten Wer- tes, welche aus dem Wesen der Vernunft, als einem Ver- mögen sich zu interessieren, entspringt“. Demnach muß alle Erkenntnis a priori entweder unter die Idee der notwendigen Gesetzmäßigkeit im Dasein der Dinge, oder unter die Idee der Schönheit, oder unter die Idee des höchsten Gutes gehören1). So wird von Fries, entsprechend seiner Auffassung von der Methode der Deduktion, die wir kennen gelernt ha- ben, die Aufgabe der Deduktion von Anfang an auf das Gesamtgebiet der Prinzipien a priori ausgedehnt. War für Kant der die Deduktion beherrschende Gedanke des Be- weises aus der Möglichkeit der Erfahrung nur auf das theo- retische Gebiet anwendbar, so daß das Deduktionsverfahren im Gebiete der praktischen Vernunft und der Urteilskraft nur eine nebensächliche Rolle spielen kann, so liegt in dem Friesischen Deduktionsbegriff einer Ableitung der apriori- schen Prinzipien aus den subjektiven Verhältnissen der Vernunftorganisation an sich selbst schon ein dem ethischen und ästhetischen Gebiet mit dem theoretischen gemein- sames Verfahren. Dabei liegt derjenige Begriff der Vernunft zu- grunde, der auch für Kant maßgebend wird, wo er, wie in der Einleitung zu seiner Kritik der Urteilskraft die Gesamt- gliederung seines Systems im Auge hat. Dem Verstand, dessen Gesetzgebung durch Naturbegriffe geschieht und theoretisch ist, steht gegenüber die Vernunft, deren Gesetz- gebung durch den Freiheitsbegriff geschieht und praktisch ist, und in der Mitte zwischen beiden steht die Urteilskraft. 1) N. Kr. 11, § 100 S. 91 ff. Digitized by Google 272 Kapitol VI. Daneben laufen freilich bei Fries, wie bei Kant, verschie- dene andere Bedeutungen des Begriffes „Vernunft“ her. Die grundlegende Bedeutung ist bei Fries diejenige der „ur- sprünglichen Selbsttätigkeit“ im Gegensatz zum „Sinn“, ein Sprachgebrauch, durch welchen sich Fries von Kants Fas- sung der Vernunft als „Vermögen der mittelbaren Schlüsse“ an einem wichtigen Punkte geschieden weiß 1). In der Tat wird ja bei Fries die Form des Schlußverfahrens nicht für die das Erfahrungsgebiet überfliegende Vernunft, nicht für die transzendentale Ideenlehre reserviert, sondern bildet die typische Form für das oberste Verhältnis in unserer Er- kenntnis überhaupt, das der formalen, materialen und tran- szendentalen Apperzeption. Die Deduktion der Ideen tritt völlig neben diejenige der Kategorien, da auf beide sein sub- jektives Verfahren gleichmäßige Anwendung finden kann. Während aber Vernunft in diesem allgemeinsten Sinne der ursprünglichen Selbsttätigkeit sowohl das Erkennen, als das Lustfühlen und Begehren umfaßt, umgrenzt eine engere Bedeutung die Vernunft als die Selbsttätigkeit im Erkennen, und wird endlich das Wort auch in einem Sinne gebraucht, in welchem es neben dieser letzteren als der unmittelbaren Erkenntnis auch noch die mittelbare Er- kenntnis des inneren Sinns und der Reflexion umfaßt. Als solche wird sie „spekulative Vernunft“2) genannt und deckt sich dann mit dem, was in jener systematischen Gesamt- übersicht der Deduktion (transzendentaler) „Verstand“ hieß, obwohl unter diesen Begriff dann wieder als zweiter Be- standteil die Reflexion fällt, die ebenfalls Verstand (im engeren Sinne) genannt wird. Eben diese „spekulative Vernunft“ ist es nun, welche unserem erkenntnistheoretischen Interesse entsprechend als erstes Glied jener Trichotomie der Deduktion nach Verstand, Urteilskraft, Vernunft uns beschäftigen wird. Die Mehr- deutigkeit der Begriffe, die bei Fries wie bei Kant das Ver- 1) Vgl. N. Kr. I, 81 f. und in Kap. I das über die „Grundver- mögen“ und die „Ausbildungsstufen“ Gesagte. 2) N. Kr. II, 104. Di> unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 273 ständnis allerdings erschwert, erfährt ja doch durch den Zusammenhang stets die notwendige Einschränkung. 2. Die vier spekulativen Momente der Erkenntnis. Der Philosoph ist nicht imstande, Wahrheiten neu zu schaffen, sondern er vermag nur die in der menschlichen Vernunft jederzeit vorhandenen aufzuweisen. So hat es auch eine Theorie der Vernunft nur damit zu tun, deduzie- rend zu zeigen, wie die wirklich in uns vorhande- nen Erkenntnisformen in unserem Geiste entsprin- gen. Sind die obersten Elemente einmal gefunden, so ist die Entwickelung „eigentlich ein kombinatorisches Kunst- stück, welches gleichsam als Rechenprobe der vorher- gehenden Analyse folgt“. Wir gewinnen die abgeleiteten Formen durch Zusammensetzung der ersten Elemente, und das Kriterium dieser Ergebnisse besteht darin, „daß die Kombination keine bedeutungslosen leeren Fächer gibt, und doch alle Momente, welche sich in der inneren Erfahrung zeigen, auch vollständig darstellt“ *). Für die Deduktion im ganzen wie in ihren einzelnen Teilen ist das oberste Verhältnis in der Erkennt- nis, das der ursprünglichen formalen, materialen und tran- szendentalen Apperzeption maßgebend. Eine systematische Deduktion der Prinzipien a priori des Verstandes hat die Aufgabe, aus dem wechselseitigen Verhältnis der formalen und der materialen Apperzeption, wie sie in der transzendentalen Apperzeption vereinigt sind d. h. aus dem Verhältnis des sinnlichen Materials zur formalen Grundvorstellung die Einheitsformen der Erkenntnis ab- zuleiten. Dazu kommt der Unterschied der unmittelbaren Erkenntnis und der mittelbaren Erkenntnis oder des „Be- wußtseins“. So ergeben sich zunächst folgende Elemente für die Kombination : 1) N~ Kr. I, 104. Klsenhans, J. K. Kries und die Kantische Erkenntnistheorie. IS 274 Kapitel VI. 1 ) Für die unmittelbare Erkenntnis : a) Gehalt der Erkenntnis; b) Ursprüngliche Form der Einheit. 2) Für das Bewußtsein: a) Bewußtsein durch den inneren Sinn, Anschauung; b) Bewußtsein durch Reflexion, Denken. Daraus gewinnen wir sodann durch Kombination die sogenannten vier spekulativen Momente der Er- kenntnis. Was zuerst die unmittelbare Erkenntnis betrifft, so wird der Gehalt der Erkenntnis durch die Anregungen der Sinne bestimmt. Wir erhalten daher als erstes Moment die Sinnesanschauung, sofern sie anschauliche Erkenntnis des Gehaltes ist. Aller sinnliche Gehalt fällt aber unmittel- bar in die ursprüngliche Einheit der Vernunfttätigkeit. Diese formale Bestimmung des angeschauten Gehaltes im Sinne einer notwendigen Einheit ist die reine Anschau- ung als das zweite Moment. Für das denkende Bewußtsein erhalten wir aus dem durch den inneren Sinn Dargebotenen durch qualitative Abstrak- tion den Gehalt der Erkenntnis als materiale Bestimmung der ursprünglichen formalen Apperzeption — - das Moment der analytischen Einheit. Diese selbst dient uns aber zugleich dazu, uns denkend der formalen Bestimmungen alles Gehaltes in der transzendentalen Apperzeption bewußt zu werden. Darin haben wir das Moment der „nur denk- baren synthetischen Einheit“. Die Selbstbeobachtung bedarf aber zu ihrer Voll- endung des wissenschaftlichen Denkens, und das letztere unterwirft sich zu diesem Zwecke auch die anschauliche Erkenntnis, um ihr die Einheit der ursprünglichen Form zu geben, und so wird in der gedachten Erkenntnis das Mo- ment der Sinnesanschauung überhaupt Moment der empi- rischen Erkenntnis und Wissenschaft und das Mo- ment der reinen Anschauung Moment der Mathematik. Das Moment der analytischen Einheit wird in der wissen- schaftlichen Ausbildung der Erkenntnis zum Moment der Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 275 Logik, das Moment der nur gedachten synthetischen Einheit zum Moment der spekulativen Metaphysik oder der im Denken vollendeten unmittelbaren Erkenntnis. Daher die empirische, mathematische und philosophische (logische und metaphysische) Form des wissenschaftlichen Systems. Da sich in aller spekulativen Abstraktion mit dieser Vierteilig- keit die Dreiteiligkeit der leeren Form, der Erfüllung der Form und der erfüllten Form (der formalen, materialen und transzendentalen Apperzeption) verbinden muß, so wird, wo diese wissenschaftliche Vollendung der Selbstbeobachtung gelingt, das ganze System als zwölfteilig sich darstellen 1). 3. Die Deduktion der einzelnen notwendigen Einheitsformen. Bei der Deduktion selbst, wTelche nach jenen vier Mo- menten: Sinnesanschauung, reine Anschauung, analytische Einheit, synthetische Einheit sich differenzieren muß, haben wir stets im Auge zu behalten, daß nach Fries die objektive Giltigkeit, die „Bestimmung des Gegenstandes“ in der De- duktion nicht in der Beziehung auf einen von der Erkennt- nis unabhängigen Gegenstand besteht, sondern ausschließ- lich dem unmittelbaren Ganzen unserer Erkenntnis, der transzendentalen Apperzeption angehört. Die einzelnen Be- standteile unserer Erkenntnis müssen also, sofern sie objek- tive Giltigkeit haben sollen, als Modifikationen dieser tran- szendentalen Apperzeption nachgewiesen werden. a) Die Sinnesanschauung. Die menschliche Vernunft empfängt den Gehalt ihrer Erkenntnis, dasjenige, was als materiale Apperzeption in das Ganze der unmittelbaren Erkenntnis eingeht, durch den Sinn. Wir besitzen aber zwei ganz verschieden organi- sierte Vermögen nebeneinander, den inneren und den äußeren Sinn. Während die äußere Empfindung eine 1) N. Kr. II, § 103 S. 104 ff. Digitized by Google 276 Kapitel VI. Sinnesanschauung liefert, welche unmittelbar in die formale Apperzeption fällt und dadurch neben dem reinen Selbst- bewußtsein die transzendentale Apperzeption modifiziert, beruht auf der inneren Empfindung eine Sinnesanschauung, welche zunächst in das reine Selbstbewußtsein fällt und nur mittelbar durch dieses die transzendentale Apperzep- tion modifiziert. Daher fällt auch die formale Bestimmung der äußeren Sinnesanschauung, der Raum, gleich mit in die Anschauung; die formale Bestimmung der inneren Sinnes- anschauung dagegen, das reine Selbstbewußtsein kann nur durch die Reflexion aufgefaßt werden. Die Gegenstände der menschlichen Erkenntnis erscheinen uns daher teils im Dasein körperlicher Dinge außer uns, teils im Dasein des eigenen Geistes. Diese Trennung der beiden Seiten unserer Sinnlichkeit gilt aber nur, solange wir sie isoliert betrachten. Da das ursprüngliche Eigentum des einzelnen Geistes die Selbst- erkenntnis und aller Gehalt der Erkenntnis in der ursprüng- lichen, notwendigen, vernünftigen Einheit verbunden ist, so erkennen wir durch äußeren und inneren Sinn nicht zweier- lei Welten, sondern nur zweierlei Ansichten derselben Welt, wobei aber in der Vollendung unserer Vernunft- erkenntnis durch die Ideen die geistige Ansicht die höhere und herrschende bleiben soll. Auch die Deduktion der Sinnesanschauung wird daher erst eine vollständige, wenn wir sie, wie im weiteren Ver- laufe des Deduktionsverfahrens geschieht, als Bestandteil der gedachten Erkenntnis betrachten. b) Die reine Anschauung. In der Sinnesanschauung für sich allein ist nur der Gehalt der Erkenntnis gegeben, der erst auf eine Form wartet. Diese formale Bestimmung des gegebenen Gehalts muß sich auch schon im Gebiete der Sinnlichkeit d. h. als reine Anschauung zu zeigen anfangen. Die reine Anschauung enthält also die anschauliche formale Bestimmung alles Materialen der Erkenntnis. Dar- Digitized by Google Di« unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 277 aus ergibt sich für die Bestimmung des Gegenstandes in ihr das Folgende: Die reine Anschauung muß uns eine Form der Ordnung der Dinge schaffen, worin die Dinge „mit einander ohne durch einander“ gegeben wer- den, und die wir Reihe nennen. Diese Formen müssen stetig sein, weil nur so der Forderung durchgängiger Einheit des durchgängig Mannigfaltigen Genüge getan ist, und un- endlich, weil bei der subjektiven Zufälligkeit der einzel- nen materialen Erkenntnis das Ganze derselben unvollend- bar ist. Auf die Frage aber, warum wir gerade die drei Reihen des Größeren und Kleineren, der Zeit und des Raumes be- sitzen, ist zunächst zu erwidern, daß der Unterschied des Größeren und Kleineren erst durch die Aufgabe des Mes- sens entsteht, d. h. die Aufgabe, Größen zu denken, und deshalb später zu behandeln ist. Bildlich für die unmittel- bare Anschauung besitzen wir also nur Zeit und Raum. Zeit ist die Bestimmung des Gegenstandes durch das in die Anschauung fallende Verhältnis jedes Gehaltes der Erkennt- nis zur formalen Apperzeption. Da dieses für jede mate- teriale Erkenntnis gleiche Verhältnis zur Einheit der for- malen Apperzeption ein einfaches Gesetz der Anordnung in ihr bestimmt, so daß der Fortschritt von einem Augenblick zum andern nur durch diese bestimmte Zwischendauer möglich ist, so hat die Zeit nur eine Dimension. Auch kommt im Gegensatz zur Vergangenheit und Zukunft nur dem einfachen Augenblick der Gegenwart Realität zu, weil jede andere Existenz als die der Gegenwart zunächst mit dem „Ich bin“ zusammengesetzt werden muß, dieses aber selbst mir nur in unendlich mannigfaltigen Zuständen erscheint. Der Raum dagegen ist die Bestimmung des Ge- genstandes durch das Zusammenfallen alles gegebenen Mannigfaltigen der äußeren Sinnesanschauung in der for- malen Apperzeption. Er verbindet also unmittelbar das Ge- gebene der Gegenstände, gehört nur dem äußeren Sinne und kann im Gebiete des inneren Sinnes kein Analogon haben, da hier das mannigfaltige Gegebene nicht unmittelbar in 278 Kapitel VI. der formalen Apperzeption, sondern zunächst im reinen Selbstbewußtsein zusammenfällt. Da sonach die Ordnung der Dinge im Raum nicht durch das einfache Verhältnis zur Form, sondern durch die ins Unendliche mannigfaltigen Verhältnisse der Sinnesanschauungen untereinander be- stimmt wird, so hat er drei Dimensionen, die nur alle zu- sammen die körperliche Ausdehnung, das Reale selbst be- fassen, nämlich: 1) eine Dimension ins Unendliche mannig- faltiger gegebener Gegenstände als Dimension der Länge, 2) eine Dimension ins Unendliche mannigfaltiger Verhält- nisse des einzelnen Gegebenen als Dimension der Rich- tungen, und endlich 3) als notwendige Vollendung der ge- setzmäßigen Anordnung der Dinge: die Dimension des festen Verhältnisses zu dem Standpunkt des selbst im Raum gegen- wärtigen Beobachters *). Als apodiktische Wissenschaft a priori entwickelt sich aus der reinen Anschauung mit Hilfe der Demonstra- tion die reine Mathematik. Es ist aber nach Fries unrichtig, die Einteilung der reinen Mathematik mit Kästner und anderen auf den Un- terschied diskreter und stetiger Größen oder mit Schulze und anderen auf den Unterschied von Zeit und Raum zu- rückzufahren. Wir haben vielmehr innerhalb der allge- meinsten Tätigkeit der produktiven Einbildungskraft, des Kombiuierens zunächst zwei konstruierende Tätigkeiten zu unterscheiden, die schematische und die bildliche Kon- struktion. Das Summieren der Arithmetik ist nur eine be- sondere Art der ersteren, der schematischen Konstruktion d. h. des Ordnens der Kombinationslehre, sie ist näm- lich das Kombinieren gleichartiger Elemente. Die bild- liche Konstruktion aber betrifft entweder den Raum für Geometrie oder die Zeit für reine Chronometrie. Da aber die reine Form der Zeit mit ihrer einen Dimension zu wenig willkürliche Konstruktion zuläßt, so beruht hier alle bildliche willkürliche Konstruktion auf der Bewegung im 1) N. Kr. II, § 107 f., S. 113 ff. Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 279 Raume, welche dann als transzendentale Bewegung, wobei nur die Beschreibung eines Raumes in Betracht kommt, den Postulaten der Geometrie, als phoronomische Bewegung, wo- bei es sich um das Verhältnis zur Zeit d. h. ihre Geschwin- digkeit mit handelt, den Grundsätzen der Phoronomie, und endlich als dynamische Bewegung, wobei auch nach be- wegender Kraft gefragt wird, der Dynamik und Mechanik zugrunde liegt1). Es ist bemerkenswert, wie Fries mit dieser Deduktion der reinen Anschauung in der Verfolgung Kantischer Grund- gedanken zu einer einheitlicheren Ableitung der einzelnen Elemente und zur Entscheidung einer bei Kant nicht völlig geklärten Frage gelangt. Sinnesanschauung und reine An- schauung werden völlig in den Gedankengang der Deduk- tion eingereiht und als Modifikationen eines Prinzips, der transzendentalen Apperzeption, abgeleitet. Das Verhält- nis der Disziplinen innerhalb der auf die reine Anschauung sich gründenden apodiktischen Wissenschaft a priori wird klargestellt. In der Regel wurde in den an Kant sich an- schließenden Ausführungen über reine Mathematik der Raum auf die Geometrie und die Zeit auf die Arithmetik bezogen. Und man konnte sich dabei auf Kant selbst berufen, der in den Prolegomena*) sagt: „Geometrie legt die reine Anschauung des Raumes zugrunde. Arithmetik bringt selbst ihre Zahl- begriffe durch sukzessive Hinzusetzung der Einheiten in der Zeit zustande, vornehmlich aber reine Mechanik kann ihre Begriffe von Bewegung nur vermittelst der Vorstellung der Zeit zustande bringen.“ Dagegen ist in der Kritik der rei- nen Vernunft der Sachverhalt ein anderer. Zwar erschei- nen in der „transzendentalen Erörterung vom Raume“ und in dem eigentlich auch unter diese fallenden dritten Raum- beweis die geometrischen Grundsätze als diejenigen syn- thetischen Erkenntnisse a priori, deren Möglichkeit von der Raumanschauung aus, als ihrem Prinzip, eingesehen werden kann8). Aber die Arithmetik wird in der transzendentalen 1; N. Kr. II, 118 f. 2) Prolegoniena § 10, S. W. III, 38. 3) Kr. d. r. V. S. 52 f. 280 Kapitel VI. Ästhetik nicht in eine parallele Beziehung zur Zeit gesetzt. Als synthetische Sätze a priori, welche sich auf die Zeit- anschauung gründen, werden vielmehr „apodiktische Grund- sätze von den Verhältnissen der Zeit“ oder „Axiome von der Zeit überhaupt“ angeführt, wie: die Zeit hat nur eine Dimension, verschiedene Zeiten sind nicht zugleich sondern nacheinander1), und die „allgemeine Bewegungslehre“ (ent- sprechend der „reinen Mechanik“ in der Prolegomenastelle), erscheint in ihrem tatsächlichen Vorhandensein nur als eine Bestätigung dieser Möglichkeit synthetischer Erkenntnisse a priori. In der Kritik der reinen Vernunft fällt die Theorie der Zahl in das Gebiet der transzendentalen Logik. Das Zählen ist eine „Synthesis nach Begriffen, weil sie nach einem ge- meinschaftlichen Grunde der Einheit geschieht (z. E. der Dekadik“*). Es bedarf einer Synthesis der Reproduktion in der Einbildung, um bei der Vorstellung einer gewissen Zahl eine Vorstellung nach der andern in Gedanken zu fassen*). Die Zahl ist nichts anderes als „die Einheit der Synthesis des Mannigfaltigen einer gleichartigen Anschauung über- haupt, dadurch, daß ich die Zeit selbst in der Apperzeption der Anschauung erzeuge“* 4). Die Zahl ist daher „das reine Schema der Größe als eines Begriffes des Verstandes“ 6). Die Unsicherheit dieser Beziehungen zwischen Zeit und Zahl bei Kant hängt, worauf bereits aus ähnlichem An- laß hingewiesen wurde, mit der Entwicklung des kantischen Denkens zusammen, welche erst allmählich den Begriff der Synthesis in seiner vollen Bedeutung her vor treten ließ. Indem dagegen Fries die Deduktion aller syntheti- schen Formen mit Einschluß der reinen Anschauung in Einem Zuge und aus Einem Prinzip heraus darstellte, gewinnt er die Möglichkeit, eine systematische Gliederung dieser Begriffe zu geben, mit welcher er hier als Schüler Kants den Stand- punkt der Kritik der reinen Vernunft zu klarem Ausdruck bringt. 1) Kr. d. r. V. 58, 60. 2) Kr. d. r. V. 95. 3) Kr. d. r. V. 1 17. 4) a. a. 0. S. 146, vgl. auch S. 161 und 551. 5) a. a. O. 145. Digitized by Google Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 281 c) Die analytische Einheit. Die Formen der analytischen Einheit sind die Formen des logischen Denkens. Sie tragen selbst nichts zur Erweiterung der Erkenntnis bei, sondern dienen nur der Reflexion, welche als vollständige Selbstbeobachtung uns das in unserem Geiste Vorhandene zum Bewußtsein bringt. Wir haben diese logischen Formen als Formen der Reflexion bereits kennen gelernt. Da alle Erkenntnis in Urteilen sich ausspricht, so fanden wir diese Formen der Tafel der Urteils- formen gemäß gegliedert nach Quantität, Qualität, Re- lation und Modalität. Die Momente, w elche sich damals regressiv zur theo- retischen Ableitung darboten, sind jetzt progressiv im Wege des Deduktionsverfahrens aus ihrem Verhältnis zur tran- szendentalen Apperzeption nach ihren einzelnen Elementen zu rechtfertigen. Da wir uns aber der Verhältnisse der transzendentalen Apperzeption selbst erst durch die Reflexion bewußt wer- den, so müssen sich hier auch die anderen spekulativen Momente: Sinnesanschauung, reine Anschauung, syntheti- sche Einheit wiederholen. Die Ausführung wird zeigen, daß dies tatsächlich geschieht, indem die vier Momente der Urteilsformen den vier spekulativen Momenten ent- sprechen: der Qualität („ Beschaffenheit“) die Sinnesan- schauung, der Quantität („Größe“) die reine Anschauung, der analytischen Einheit die Modalität und der synthetischen Einheit die Relation. Auch hier ist als oberstes Verhältnis unserer Erkennt- nis maßgebend dasjenige der formalen, materialen und transzendentalen Apperzeption, das Verhältnis der Bedin- gung, des Bedingten und der Bestimmung. Was zunächst die Sinnesanschauung betrifft, so wird die aus der Anschauung aufgefaßte Beschaffenheit durch die Formen der Bejahung und Verneinung im Den- ken wiederholt. Das Besondere in der Mannigfaltigkeit des Gegebenen (materiale Apperzeption) wird unmittelbar durch 282 Kapitel VI. Bejahung als Reales aufgefaßt; die synthetische Bestim- mung des einen durch das andere beim Zusammenfallen in der Verbindung ergibt die Beschränkung jedes gegebe- nen Realen, als eines Teiles aus dem Ganzen (transzen- dentale Apperzeption); endlich aus der Form der Bestimm- barkeit von allem durch jedes (in derselben formalen Apper- zeption) ergibt sich als analytische Bestimmung des einen durch das andere im Mannigfaltigen die Verneinung und das Gegenteil eines Begriffes. Diese Form der Verneinung, die sich uns also stets zur Bestimmung des Gegenstandes anbietet, wo wir nicht nur eines für sich allein, sondern das Mannigfaltige auf Begriffe bringen wollen, ist jedoch eine ganz leere analytische Form, mit der in Rücksicht der Be- stimmung des Gegenstandes gar nichts gewonnen werden kann; was in der Spekulation häufig übersehen wurde. Die Qualität des Gegebenen ist in unserer Erkenntnis stets das Erste, das nie bloß gedacht und durch kein Begriffsspiel der Bejahung und Verneinung erzeugt werden kann. Die Ne- gation dient nur der Reflexion, um bei mannigfaltigen, schon gegebenen Qualitäten die eine nur im Verhältnis zur an- dern zu denken r>. Die Wiederholung des Momentes der reinen An- schauung d. h. die quantitative Bestimmung der analyti- schen Einheit ergibt die Unterordnung des gleichartigen Be- sondern unter ein Allgemeines der problematischen Vorstel- lung, die Unterordnung der Einheit, Vielheit und Allheit der Subjekte unter einen Begriff, der Fälle unter eine Regel, der Lehrsätze unter ein Prinzip, das Verhältnis der unendlichen Sphäre jedes Begriffes. Dabei drücken sich Unendlichkeit und Stetigkeit in der Sphäre jedes Begriffes notwendig als allgemeines Ge- setz der Grösse aus. Unter jenem Gesetz kann sich eine unendliche Sphäre realer Möglichkeiten bilden, und die Stetig- keit dieser Sphären bezeichnen wir durch die bekannten lo- gischen Gesetze der Homogenität, Spezifikation und 1) N. Kr. II, 121 ff. Digitized by Google Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 283 Stetigkeit der logischen Formen. Auch diese Gesetze ge- hören aber nur zu den Denkformen der Reflexion und sind hinsichtlich der Bestimmung des Gegenstandes nur leere Möglichkeiten. Zwar ist die Größe der Sphäre des Mög- lichen unter jedem Gesetz z. B. der Pflanzen und Tierformen unserer Erde innerlich und stetig, so daß nicht nur über- haupt unendlich viele Arten, sondern zwischen je zwei bestimmten Nebenarten noch unendlich viele Zwischen- arten möglich sind. Dagegen ist die Grösse der Sphäre des Wirklichen unter demselben Gesetz endlich und diskret; es gibt nur eine bestimmte Anzahl von Gattungen und Arten in Rücksicht der wirklichen Gegenstände unter jedem Be- griff oder Gesetz. Wir sehen, Fries behandelt die Lehre von der Homo- genität, Spezifikation und Stetigkeit schon an einer frühem Stelle seines Systems als K ant und gibt ihr damit eine etwas andere Bedeutung. Bei Kant finden wir sie in dem Anhang zur transzendentalen Dialektik in dem Abschnitt von dem regulativen Gebrauche der Ideen der reinen Vernunft. Sie entstammen der Forderung einer systematischen oder Ver- nunfteinheit der mannigfaltigen Verstandeserkenntnis, die zunächst ein logisches Prinzip ist, um da, wo der Verstand für sich allein nicht zu Regeln gelangen kann, ihm durch Ideen fortzuhelfen und zugleich der Verschiedenheit seiner Regeln Einhelligkeit unter einem Prinzip und dadurch so- weit als möglich Zusammenhang zu verschaffen. So ist es eine Schulregel oder ein logisches Prinzip, ohne welches kein Gebrauch der Vernunft, kein Schließen vom Allge- meinen aufs Besondere stattfinden könnte, daß alle Mannig- faltigkeiten einzelner Dinge die Identität der Art nicht aus- schließen, daß die mancherlei Arten nur als verschiedene Bestimmungen von wenigen Gattungen, diese aber von noch höheren Geschlechtern u. s. f. behandelt, werden müssen, um eine svstematische Einheit herzustellen. Gehen wir dar- V über hinaus und nehmen an, daß die Beschaffenheit der Gegenstände oder die Natur des Verstandes, der sie als solche erkennt, au sich zu systematischer Einheit bestimmt 284 Kapitel VI. sei, und daß man diese a priori postulieren könne, so würden wir damit einen transzendentalen Grundsatz der Ver- nunft aufstellen, welcher die systematische Einheit nicht bloß subjektiv und logisch als Methode, sondern objektiv notwendig machen würde. In der Tat muss ein solches transzendentales Prinzip angenommen werden. Denn „wäre unter den Erscheinungen, die sich darbieten, eine so große Verschiedenheit, ich will nicht sagen, der Form (denn darin mögen sie einander ähnlich sein), sondern dem Inhalte d. i. der Mannigfaltigkeit existierender Wesen nach, daß auch der allerschärfste menschliche Verstand durch Vergleichung der einen mit der anderen nicht die mindeste Ähnlichkeit aus- findig machen könnte (ein Fall, der sich wohl denken läßt), so würde das logische Gesetz der Gattungen ganz und gar nicht stattfinden, und es würde selbst kein Begriff von Gattung oder irgend ein allgemeiner Begriff, ja sogar kein Verstand stattfinden, als der es lediglich mit solchen zu tun hat“1). Wie dieses Prinzip der Homogenität, so setzt auch das- jenige der Spezifikation d. h. der Varietät des Gleichartigen unter niedern Arten, und das der Kontinuität der Formen, d. h. des kontinuierlichen Übergangs von einer jeden Art zu jeder andern durch stufenartiges Wachstum der Verschie- denheit, entsprechende transzendentale Grundsätze voraus. Diese Prinzipien sind aber doch nicht so beschaffen, daß aus ihnen die Wahrheit der darauf sich gründenden all- gemeinen Regel folgt, d. h. sie sind nicht konstitutiv, sondern nur regulativ, Maximen, die dem Interesse der Ver- nunft an systematischer Einheit dienen. Sie enthalten bloße Ideen zur Befolgung des empirischen Gebrauchs der Ver- nunft, denen der letztere nur annähernd folgen kann, ohne sie jemals zu erreichen. Als Ideen sind sie ja auch einer eigent- lichen transzendentalen Deduktion unzugänglich. So kann z.B. die aus dem dritten Prinzip folgende kontinuierliche Stu- fenleiter5*) der Geschöpfe keineswegs auf Grund von Beobach- 1) Kr. d. r. V. 50G, 508. 2) Nähere» über den interessanten Zusammenhang dieser und Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 285 tung und Einsicht in die Einrichtung der Natur als objektive Behauptung aufgestellt werden, da hierzu die Sprossen einer solchen Leiter, wie sie uns Erfahrung angeben kann, viel zu weit auseinanderstehen, sondern sie schafft uns nur die Mög- lichkeit, systematische Ordnung in die Natur zu bringen 1). Gerade an dem letztgenannten Beispiel läßt sich nun die Stellung, welche hinsichtlich dieses Punktes Fries zu Kant einnimmt, am besten deutlich machen. Auch für Fries ist es eine Regel der systematischen Begriffsbildung, eine kon- tinuierliche Stufenleiter der Pflanzen und Tierformen der Erde mit unendlich vielen Zwischenformen anzunehmen. Für beide enthält diese Regel keine Aussage über das wirkliche Sein der Natur (etwa im Sinne der modernen Entwicklungstheorie), aber aus verschiedenen Gründen. Nach Fries ist sie nicht konstitutiv, wTeil sie als bloß logi- sche Regel nur die problematische Vorstellung bloßer Mög- lichkeiten ist. Nach Kant gründet sich z^var dieser Grund- satz wie die beiden andern auf einen transzendentalen, aber dieser transzendentale selbst ist nur regulativ, da wir mit diesem Prinzip, wie mit den beiden andern eine über die Erfahrung selbst hinausgehende Einheit unserer Erkenntnis nach Ideen suchen. Für Fries gibt es, da bei dem subjektiven Charakter seiner Deduktion auch bloße Denkformen in die- selbe aufgenommen wrerden, eine eigentliche Deduktion der- selben, für Kant nur in uneigentlichem Sinn2), da ihnen als Ideen die Beziehung auf den „Gegenstand der Erfahrung“ fehlt. Aus der synthetischen Einheit entspringt die Not- wendigkeit in unserer Erkenntnis. Alle Notwendigkeit liegt nur in dem Verhältnis, welches das eine mit dem andern verbindet. Alle unsere Erkenntnis überhaupt ist eine rela- tive. Jedes Ding wird nur so erkannt, wie es sich äußert, anderer Ausführungen Kants mit der modernen Entwicklungstheorie findet sich in meiner Schrift über „Kants Kassentheorie und ihre bleibende Bedeutung“. Leipzig, Engelmann 11)04. 1) Kr. d. r. V. 519 f., 51 G. 2) Vgl. oben S. 178 ff. Digilized by Google 286 Kapitel VI. also kein Gegenstand für sich als ein schlechthin Inneres, sondern immer nur Eins im Verhältnis zum andern. So er- kennen wir die Materie nur in ihrem V erhältnis zum erkennen- den Geist, nämlich in der Empfindung, den Geist nur durch sein Verhältnis zu den Tätigkeiten, in denen er sich äußert, Gott nur ira Verhältnis zur Welt. Diese Relativität ist der „analytische Ausdruck der synthetischen Einheit“, durch den wir aber ebensowenig, wie durch die Verneinung oder die Stetigkeit der Begriffsformen ein Gesetz für das wirk- liche Wesen der Dinge erhalten. Das eigentliche Moment der analytischen Einheit ist die Modalität. Die analytischen Einheiten sind die Formen der Reflexion, welche uns dazu dienen, die Materie der Erkenntnis durch formale Bestimmungen der materiellen Apperzeption aufzufassen. Der denkende Verstand faßt in der problematischen Vorstellung von Begriff, Regel und Prinzip die formale Apperzeption als Bedingung auf, die Ur- teilskraft ordnet in Assertionen Subjekt, Fall und Lehrsatz als das Bedingte unter, und das Schlußvermögen endlich be stimmt nach dem Gesetz der transzendentalen Apperzeption das Bedingte apodiktisch durch die Bedingung. Dem überall die Grundlage bildenden obersten Verhältnis der formalen, materialen und transzendentalen Apperzeption entspricht also hier die Abstufung des Problematischen, Assertorischen und Apodiktischen. Für diese modalische Bestimmung des Gegenstandes a priori durch analytische Einheit, welche nichts anderes ist als die metaphysische Verknüpfung der Existenz der Dinge, entsteht ein Widerstreit zwischen Form und Materie, zwischen der Allgemeinheit und Notwendigkeit und dem individuellen Dasein, zwischen dem Rationalis- mus, der nur dem allgemeinen Begriffe für sich, und dem Empirismus, der unmittelbar nur dem einzelnen Gegen- stand seiner Sphäre und dem Begriff nur durch ihn Realität zugesteht. Die Lösung liegt in unserm Begriffe der objek- tiven Giltigkeit. Die objektive Giltigkeit der Erkenntnis gehört ja weder der leeren Form, noch ihrer Erfüllung, son- Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 287 dern nur dem Ganzen der erfüllten Form, der ungetrennten Vereinigung beider in der unmittelbaren Erkenntnis, in dem ungeteilten Ganzen der transzendentalen Apperzeption. Die Scheidung in Materie und Form, in die Notwendigkeit des Gesetzes und das Dasein des Individuellen trifft also nur Momente der subjektiven Giltigkeit und der Wiederbeobach- tung. Wir gelangen daher zu dem Satz, „daß alle metaphy- sische Verknüpfung der Existenz der Dinge, nach welcher das Allgemeine der Erklärungsgrund des Besonderen wird, nur durch Abstraktion erscheint und nur Stufen der sub- jektiven Giltigkeit bezeichnet, ohne von objektiver Bedeu- tung zu sein“1). d) Die nur gedachte synthetische Einheit (Die Kategorien). Die nur gedachte synthetische Einheit ist uns bereits in der Deduktion der analytischen Einheit begegnet. Da die letztere das Mittel ist, unsere Erkenntnis in der Reflexion und überhaupt zum Bewußtsein zu bringen, so dient sie auch der Auffassung der synthetischen Einheit. Handelte es sich aber dort um die Bedingungen der Abfassung der nur gedachten synthetischen Einheit, so handelt es sich jetzt um diese synthetische Einheit selbst, sofern sie aufgefaßt wird. Wir treten damit in den wichtigsten Teil der De- duktion ein. Mit diesen „Formen der nur denkbaren Ver- bindung“ treffen wir ja auf die Grundlage des Metaphysi- schen in der Erkenntnis, für welches wir das Kantische System der Kategorien als das System der Grund- begriffe aufgefunden haben, und es erwächst uns daraus die Hauptaufgabe unserer Deduktion: nachzu weisen, wa- rum gerade dieses System von Grundbegriffen der metaphysischen Erkenntnis in unserer gedachten Erkenntnis bestehe2). 1) N. Kr. II, § 109 u. 110 S. 120 ff., 134. 2) Die Ausführung dieser Deduktion leidet, wie so manche andere Partien der Friesischen „Kritik der Vernunft“ und seiner „Metaphysik“ an mehrfachen Wiederholungen, man vgl. z. B. N. Kr. II, 288 Kapitel VI. Zu diesem Zweck müssen die notwendigen Verbin- dungen, die gedachten synthetischen Einheiten selbst vor das denkende Bewußtsein gebracht werden. Sie finden ihren Ausdruck im Urteil, und zwar in der Form der Ver- bindungsweise von Subjekt und Prädikat im Urteil, wie sie die Kopula darstellt. Das wichtigste Moment in der De- duktion der synthetischen Einheiten werden also die Ver- hältnisbegriffe, werden die Kategorien der Relation sein. Wie das Hauptmoment für die Deduktion der ana- lytischen Einheiten die Modalität, so ist es für die der syn- thetischen Einheiten die Relation. Auch in der ersteren fehlte dieses Moment nicht. Während es sich aber dort um die Auffassung der Relation handelte, handelt es sich jetzt um die Relation selbst. Freilich kann auch an dem jetzigen Punkte der Deduktion von ihr nicht anders die Rede sein, als so, daß sie irgendwie gedacht wird. Der not- wendigen Einheit werden wir uns aber nur im Ganzen un- serer Erkenntnis bewußt. Wir werden also auch alles an- schaulich Gegebene erst denkend auf fassen müssen, um un- seren Zweck zu erreichen. Es werden sich daher in der Vorstellung dieser notwendigen Verbindungen auch die an- deren drei Momente wiederholen. Ihre Anwendung wird aber durch das Hauptmoment der Relation bedingt sein, und, da die notwendige Verbindung die Form des Urteils hat, so wird die Deduktion zugleich so dargestellt werden können, daß die Kategorien als Begriffe von der Bestim- mung der Gegenstände durch die Form des Urteils nach- gewiesen werden. Dabei muß sich innerhalb der einzelnen Momente das Grundverhältnis unserer Erkenntnis, das der materialen, formalen und transzendentalen Apperzeption verfolgen las- sen. Unser zeitlich bedingtes Bewußtsein kann nur aus- gehen von der Auffassung eines bestimmten Gehaltes in der Erkenntnis, von da zur Auffassung mehreren Gehaltes fort- 136 f. mit 139, 140 f. oder Metaphysik 198 mit 205, 218 ff. Im folgen- den ist der Versuch einer Vereinfachung des Gedankengangs ge- macht. Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 289 schreiten, um so endlich die Vorstellung eines Ganzen zu erreichen. In jedem einzelnen Moment muß sich daher fin- den: „1) Ein Begriff der Auffassung des Gehaltes in die formale Apperzeption, wodurch wir vom empirischen Be- wußtsein zum denkenden Bewußtsein überhaupt geführt werden; 2) ein Begriff der denkenden Zusammenfassung mannigfachen Gehaltes; und 3) ein Begriff von der notwen- digen Bestimmung des Zusammengefaßten im Ganzen der transzendentalen Apperzeption“ *). Größenbegriffe sind die Begriffe von der Bestim- mung der Gegenstände durch die Form des Subjekts im Ur- teil. Durch sie denken wir die rein anschaulichen Be- stimmungen der Gegenstände. Größenverhältnisse wer- den aber denkend dadurch erkannt, daß wir die Größen messen. Wir können daher zum Denken des zusammen- gesetzten Ganzen, der Allheit als der gemessenen Größe nur gelangen, indem wir von der Auffassung einer einzelnen materialen Erkenntnis, einer benannten Ein- heit ausgehen, um durch diese Bedingung der Einheit als des Maßes die Vielheit mehrerer materialer Erkenntnisse als das Bedingte zu bestimmen. Da wir vermittelst dieser Begriffe die Verhältnisse der rein anschaulichen Erkennt- nis denkend im Urteile auffassen, können wir sie auch die mathematisch- metaphysischen nennen1 2). Die Kategorien der Beschaffenheit sind die Begriffe von der Bestimmung der Gegenstände durch die Form des Prädikates im Urteil. Durch sie denken wir die sinnes- anschaulichen Bestimmungen der Gegenstände. Indem wir den anschaulichen Gehalt als materiale Bestimmung der formalen Apperzeption denkend auffassen, erhalten wir die Begriffe von Realitäten, die wir dann in der denkenden Zusammenfassung durch Verneinungen voneinander unterscheiden. Die Kategorie der Beschränktheit aber ist hier die Kategorie des Ganzen, indem sie das Ganze aller Realitäten aus A und Non — A, aus der beschränkten Rea- 1) N. Kr. II, 140. 2) N. Kr. II, 136, 140. Metaph. 198, 205, 218. Klsenh&ns, J. F. Fries und die Kantisehe Erkenntnistheorie. 19 290 Kapitel VI. lität und ihrem Gegenteil zusammengesetzt vorstellt. Wir nennen diese Begriffe auch die empirisch-metaphysi- schen, da wir durch sie die Verhältnisse der sinnes- anschaulichen Erkenntnis denkend im Urteil auffassen und so mit der metaphysischen Erkenntnis in Verbindung bringen1). Die Kategorien der Modalität sind die Begriffe von der Bestimmung eines Gegenstandes, wiefern er durch die modalische Form eines Urteils gedacht wird. Dasein oder Wirklichkeit ist hier die Kategorie der Auffassung des Gehaltes als ein Begriff von der Bestimmung der Existenz eines Gegenstandes im Verhältnis zur Sinnesanschauung, Möglichkeit ist die Kategorie der denkenden Auffassung mannigfaltigen Gehaltes, der Begriff von der Bestimmung der Existenz eines Gegenstandes in seinem Verhältnis zur formalen Apperzeption, die Kategorie der Notwendigkeit aber ist die Kategorie des Ganzen, der Begriff von der Be- stimmung der Existenz eines Gegenstandes im Verhältnis zur Einheit der transzendentalen Apperzeption. Da diese Kategorien darauf beruhen, daß wir unserer Erkenntnis uns nur durch Vermittlung der Denkformen völlig bewußt wer- den, so können wir sie auch die logisch-metaphysischen nennen *). Die Kategorien der Relation oder die Verhältnis- begriffe sind die Begriffe von der Bestimmung des Gegen- standes durch die Kopula oder durch die Form der Ver- bindungsweise von Subjekt und Prädikat im Urteil. Nur in ihnen denken wir eigentlich die Synthesis selbst als Ver- knüpfung der Existenz der Dinge in der notwen- digen Einheit des Ganzen aller Dinge. Wir bedürfen dazu zunächst einer Auffassung des Gehaltes der Sinnes- anschauung (materiale Apperzeption), welche nicht beim Bewußtwerden des Empirisch- Wechselnden stehen bleibt, sondern dasselbe zum allgemeingiltigen denkenden „Bewußt- sein überhaupt“ erhebt. Dadurch gelangen wir von den einzelnen angeschauten Beschaffenheiten als den Eigen- 1) N. Kr. II, 137, 140. Metaph. 199, 205, 215. 2) N. Kr. II, 137, 140 f. Metaph. 201 f., 206. Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 291 schäften der Wesen zur Erkenntnis der Wesen selbst. Das erste Verhältnis ist also dasjenige von Wesen und Eigen- schaft, Subsistenz und Inhärenz. Die Existenz mannig- faltiger in ihren Eigenschaften erkannter Wesen muß aber in einer notwendigen Einheit verknüpft werden (ursprüng- liche formale Apperzeption). Dies geschieht in dem Ver- hältnis von Ursache und Wirkung. Endlich müssen die so zusammengefaßten Dinge eine Gemeinschaft der Teile in einem Ganzen bilden (transzendentale Apperzeption). Dies ist nur denkbar in dem Verhältnis der Wechselwirkung1). Da in diesen Begriffen eine nur denkbare, nicht an- schauliche Verbindungsweise, eine intellektuelle Synthesis vorgestellt wird, können wir sie auch die eigentlich me- taphysischen nennen. Es bedarf ferner keiner weiteren Ausführung, daß den einzelnen Kategorien dieses Moments der Relation die Formen der kategorischen, hypothetischen und divisiven Ur- teile völlig entsprechen. So laufen in der Deduktion bei Fries alle Fäden seiner Erkenntnistheorie zusammen, und indem die in Betracht kommenden Momente im systematischen Aufbau seiner Ver- nunftkritik ihre Stelle erhalten und sich in vielseitiger Wechselbeziehung gegenseitig stützen, scheint in der archi- tektonischen Vollendung des Ganzen zugleich eine Bestä- tigung der Richtigkeit der Deduktion zu liegen. Wir kön- nen versuchen, diese Übereinstimmung der Hauptmomente, deren einzelne Teile dann wieder unter sich harmonieren, in einer Tafel übersichtlich zu machen : Spekulative Momente d. Erkenntnis : Momente der Urteilsformen Momente der Wissenschaft : 1 ;i Sinnes- anschauung, Qualität, Empirie, reine An- analyt. nur gedachte schauung, Einheit, synthet.Eiuheit. Quantität, Mathematik, Modalität, Logik, Relation. Metaphysik. Wenn wir die Friesische Deduktion der Kate- 1) N. Kr. II, 136 f, 141. Metaph. 200 f., 205. 292 Kapitel VI. gorien mit derjenigen Kants vergleichen, so tritt uns als unterscheidendes Moment in erster Linie der Unter- schied der Methode entgegen, deren subjektiv-anthropo- logischem Charakter im Unterschied von Kants beweisen- dem Verfahren wir bereits an früherer Stelle eine ein- gehende Untersuchung gewidmet haben. Zweitens aber ist für Fries charakteristisch jene Aus- dehnung des Deduktionsverfahrens auf die Gesamt- heit der Erkenntnisformen, sogar mit Einschluß der Ideen, deren Deduktion uns später beschäftigen wird, so daß die Deduktion der Kategorien nur als der wichtigste Teil, als der Brennpunkt erscheint, in welchem die vom Spiegel der Reflexion zurückgeworfenen Strahlen der Erkenntnis sich sammeln. Auch hiefür liegt der Hauptgrund in der Friesi- schen Unterscheidung zwischen Reflexion und unmittelbarer Erkenntnis. Objektive Giltigkeit kommt nur dem Ganzen der unmittelbaren Erkenntnis, der transzendentalen Apper- zeption zu. Eine Rechtfertigung der notwendigen Einheits- formen der Erkenntnis muß sich daher auf dieses Ganze be- ziehen; sie kann nur darin bestehen, daß die einzelnen Formen als Modifikationen oder als notwendige Bestandteile dieses Ganzen aufgewiesen werden. Dieser Aufweis ist aber nur dann vollständig, wenn die durch Abstraktion losgelösten Teile das Ganze wieder ergeben, was sich nur ermöglichen läßt, wenn sämtliche Teile, also nicht etwa nur die reine An- schauung und die Kategorien, sondern auch die Sinnesan- schauung und die logischen Formen miteinbezogen werden. Die beherrschende Stellung der Kategorien erklärt sich dann daraus, daß auf ihnen als den intellektuellen synthetischen Einheiten die Einheit des Ganzen beruht. Zu dieser Ausdehnung des Deduktionsgebietes kommt aber bei Fries drittens eine eingehendere deduktive Begründung der einzelnen Glieder des Kategorien- systems. Während Kant, nachdem er den Grundsatz der synthetischen Einheit der Apperzeption als das oberste Prin- zip alles Verstandesgebrauchs nachgewiesen hat, sich damit begnügt, die Kategorien in ihrer Gesamtheit als die gedachten Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 293 Formen dieser Einheit oder als synthetische Funktionen des Urteiles in Beziehung auf das Mannigfaltige der Anschauung aufzuzeigen l), gibt Fries wie für die beiden Anschauungs- formen, so auch für jedes Moment der Kategorientafel, ja für jede einzelne Kategorie eine Rechtfertigung aus ihrer Beziehung zur transzendentalen Apperzeption. Endlich sind aber die verschiedenen Arten der Katego- rien in ihrer Bedeutung für die Deduktion einander nicht koor- diniert, und hieran knüpft sich ein viertes Hauptunterschei- dungsmerkmal der Friesischen vonderKantischen Deduktion, wohl dasjenige, welches am meisten auf bleibende Beachtung Anspruch hat. Wird auch für Kant in der transzendentalen Deduktion der zweiten Auflage der Kritik der reinen Ver- nunft die logische Funktion der Urteile als synthetische Ver- knüpfungsform maßgebend 2), so daß er an anderer Stelle sagen kann, die Deduktion könne „beinahe durch einen einzigen Schluß aus der genau bestimmten Definition eines Urteils überhaupt (einer Handlung, durch die gegebene Vorstellungen zuerst Erkenntnisse eines Objekts werden) verrichtet wrerdenu, so führt bei Fries die Verwertung der in der Urteilsfunktion gegebenen Synthesis, wie sie in der Kopula sich darstellt, dazu, daß unter den Momenten der Ka- tegorien dasjenige der Synthesis selbst, der Relation als das beherrschende hervortritt, im Verhältnis zu welchem dann die anderen als Beziehungsglieder oder als Modifikationen der Synthesis eine untergeordnete Stelle einnehmen. Wenn Fries dies auch darin zum Ausdruck bringt, daß er die Mo- mente der Urteilsformen nicht mehr als ebensoviele Ver- schiedenheiten des Urteilens, sondern teils als Verschieden- heiten des Subjekts (Quantität), teils als Verschiedenheiten des Prädikats (Qualität), teils als bloß unserer Reflexion ungehörige Modifikationen der Synthesis selbst (Modalität) faßt 3), und nur die Relation als Ausdruck für die synthetische Funktion gelten läßt, so hat er damit eine der wichtigsten 1) Kr. d. r. V. 137, 667. 2) Kr. d. r. V. 666 f. 3) Vgl. schon oben die Einteilung der Urteile Kap. V, D., I, 2. S. 126 f. 294 Kapitel VI. Erkenntnisse der neueren Logik *), wie sie besonders durch Sigwart1 2) begründet wurde, vorweggenommen3). Schon unsere Übersicht über das System der Kate- gorien4) hat gezeigt, daß es etwas anderes ist, ein System der Kategorien aufzustellen, und etwas anderes, ihre An- wendbarkeit auf die Erkenntnis von Gegenständen zu er- weisen. Berücksichtigen wir diesen Unterschied auch für die Deduktion, so bleibt uns noch die Aufgabe, auch für die aus dieser Anwendung der Kategorien sich ergebenden Formen die Deduktion zu liefern. Von den vier Momenten der Kategorien kommen hier eigentlich nur zwei in Betracht, nämlich die reinanschau- liche Größenform der Zusammensetzung der Dinge in Zeit, Raum und Zahl, und die von uns bereits als wichtigste der nur denkbaren synthetischen Formen erkannte meta- physische Verhältnisform der Verknüpfung der Existenz der Dinge. Die Kategorien der Beschaffenheit lassen uns ja 1) Vgl. hierzu Windelband, Abschnitt „Logik“ der „Philoso- phie im Beginn des 20. Jahrhunderts“, Festschrift für Kuno Fischer I, 179 f. 2) Die Berührung zwischen Fries und Sigwart scheint mir übri- gens nicht bloß an diesem einen Punkte vorhanden zu sein. Nicht nur die eingehende psychologische Behandlung der Vorfragen der Logik, sondern auch z. B. die im Verhältnis zur früheren Logik stärkere Betonung des hypothetischen (auch des „gemischt-hypothe- tischen“ vgl. z. B. Logik S. 233) Schlusses, die bei Sigwart allerdings viel mehr hervortritt, die Bevorzugung der „Philosophischen Anthro- pologie“ (eine Bezeichnung, die Sigwart durch seine ganze Lehr- tätigkeit für das sonst „Psychologie* genannte Kolleg anwandte) ist beiden gemeinsam. 3) Auch H. Cohen bezeichnet es in seiner „Logik der reinen Erkenntnis“ (System der Philosophie 1, 1902, S. 483) als einen „wirk- lichen Fortschritt, den Fries in der Theorie des Syllogismus vollzog, als er die mathematischen Sätze und Beweise dem hypothetischen Syllogismus zuwies und vorbehielt“. Diese Beschränkung der ma- thematischen Sätze und Beweise auf den hypothetischen Syllogismus konnte ich allerdings nicht bestätigt finden. Wenigstens finden wir in Fries’ Logik sowohl für den kategorischen als für den „divisiven“ Schluß mathematische Beispiele, vgl. z. B. Logik S. 229 und 237. 4) S. oben S. 23C ff. Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 295 nur Verhältnisse der Übereinstimmung oder des Widerstreits der vorhandenen Beschaffenheiten untereinander denkend erkennen, und die Kategorien der Modalität stellen nur Stufen der subjektiven Giltigkeit unserer Erkenntnis der Dinge ohne objektive Bedeutung dar. Beide setzen also die Erkenntnis der Tatsachen und Gesetze bereits als gegeben voraus und haben daher Bedeutung für die Erkenntnis nur in der Abhängigkeit von den beiden erstgenannten Mo- menten *). Legen wir diese zugrunde, so entwickeln sich vor unserem Bewußtsein zwei Systeme der Anwendung der Kategorien. Geht die Reflexion von der gegebenen Anschauung aus und legt die synthetische Verbindung an diese als eine formale Bestimmung des gegebenen Gehaltes der Erkennt- nis, so entwickeln sich die metaphysischen Prinzipien unserer Naturerkenntnis. Geht dagegen die Reflexion nach Ausbildung dieser Naturbegriffe von der Vorstellung der Einheit und Not- wendigkeit selbst aus, so zeigt sich diese nicht nur als Be- dingung des gegebenen, sondern als Bedingung alles irgend zu gebenden Gehaltes der Erkenntnis, und es entwickelt sich dann aus dieser Selbständigkeit der Einheitsprinzipien im Unterschied von der natürlichen die ideale Ansicht der Dinge. Da hiernach Natur und Idee zweierlei sich oft wider- streitende Prinzipien ergeben, denen wir doch die Dinge unterordnen müssen, so bedürfen wir noch der Maximen für diese Unterordnung, und so ergeben sich insgesamt drei Aufgaben: die Prinzipien der Metaphysik der Natur, die Prinzipien der spekulativen Ideenlehre und endlich die regulativen Maximen für die Unterordnung unserer Er- kenntnis unter diese beiden zu deduzieren. 1) N. Kr. II, 142 f., Metaph. 207 ff. 296 Kapital VI. 4. Die Deduktion der metaphysischen Grundsätze der Naturwissenschaft. a) Die Bedeutung der Deduktion der metaphysischen Grundsätze der Naturlehre. • • Unsere systematische Übersicht der Kategorien und Grundsätze hat bereits gezeigt.1), wie die Kategorien für ihre Anwendung auf die Erkenntnis der anschaulichen Be- stimmungen, der Schemate bedürfen, und wie diese Bestim- mungen in den mathematischen Beschaffenheiten der Gegen- stände, und zwar in den reinen Zeitbestimmungen zu suchen sind. Die Kategorien in dieser ihrer notwendigen Verbin- dung mit anschaulichen Bestimmungen, wie sie sich dem Wahrheitsgefühl in der unmittelbaren Erkenntnis der Ver- nunft zeigen, ergaben dann die „metaphysischen Grund- sätze der Naturlehre“. Indem wir nun die Deduktion dieser Gesetze unter- nehmen, läßt sich ein Doppeltes erreichen. Erstens weisen wir dadurch ihre unvermeidliche An- wendung in unseren Erkenntnissen nach und antworten da- mit den Empirikern, welche den Gebrauch der Kategorien nicht gelten lassen wollen, weil sie und die Grundsätze aus der Erfahrung nicht demonstriert werden können, indem wir, mit Kant zu reden, ihre Giltigkeit für alle Gegenstände der Erfahrung dartun ; denn kommen sie auch nicht durch die Anschauung in unsere Erkenntnis, so sind sie doch eben so ursprünglich in der Erkenntnis als die Anschauung, da sie aus einem Verhältnis entspringen, unter dessen Bedin- gung jede uns zu gebende Anschauung steht. Zweitens können wir mit Hilfe der Deduktion zeigen, auf welches Gebiet sich der Gebrauch dieser Gesetze be- schränkt. Wir erkennen, daß ihre Giltigkeit nur auf Gegen- stände der Erfahrung sich erstreckt und daher nur zur Sin- nesanschauung als Form hinzukommen kann. Wir treten 1) S. oben S. 236 ff. Digitized by Google Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 297 damit der Meinung derer entgegen, welche mit diesen Be- griffen allein das Wesen der Dinge ergründen wollen, der- jenigen dogmatischen Spekulation, welche Begriffe wie die der Substanz und Ursache rein begrifflich durch Reflexion oder aus bloßer Vernunft durch intellektuelle Anschauung behandeln wollen, während sie doch ohne die Wahrnehmung keine Anwendung finden können. Alle diese Begriffe der Naturnotwendigkeit sind also zwar von unvermeidlicher Anwendung in unserer Erkennt- nis, aber nur innerhalb eines beschränkten Gebietes1 2). b) Mathematische und dynamische Grundsätze. Suchen wir nun der Deduktion selbst näher zu treten, so haben wir zunächst den obersten Begriff des ganzen Systems voranzustellen. Es ist der der Natur, wobei wir unter Natur nichts anderes verstehen, als das Dasein der Dinge nach notwendigen und allgemeinen Gesetzen. Die höchste Formel, unter welcher alles andere steht, lautet da- her: die Sinnenwelt ist eine Welt unter Naturgesetzen d. h. „das Dasein der Dinge in ihr ist in durchgängiger physischer Verknüpfung durch seine metaphysische Vereinigung unter allgemeine Gesetze“. Es liegt im Wesen unserer Vernunft, daß ihr aus sinnlicher Anschauung gar keine andere als Naturerkenntnis entstehen kann, da sie zu jeder Anschauung unvermeidlich die Einheit und Notwendigkeit hinzugibt und so das Ganze aller gegebenen sinnlichen Erkenntnisse unter gleichen Gesetzen verbindet. Ferner ist für unsere Deduktion wesentlich der Unter- schied der mathematischen Grundsätze, welche das Ge- setz der Zusammensetzung des gegebenen Mannigfaltigen enthalten und der dynamischen, welche das Gesetz der Verknüpfung der Existenz der Dinge selbst z. B. der Existenz der Eigenschaft mit der ihrer Substanz oder der Existenz der Wirkung mit der ihrer Ursache aussprechen*). Die 1) N. Kr. II, § 114 u. 115 S. 145 ff. 2) Vgl. Kant, Kr. d. r. V. 172 f. Digitized by Google 298 Kapitel VI. Art der Verbindung ist im einen und im andern Fall sehr verschieden. Raum und Zeit sind ja notwendige Formen der Zusammensetzung; daß aber die Dinge im Raum gerade so nebeneinander stehen, wie ich sie finde, enthält etwas Zufälliges und könnte auch anders gedacht werden. Was ich dagegen als Ursache und Wirkung oder als Substanz und Eigenschaft verbunden denke, enthält gar keine Zu- fälligkeit der Verbindung mehr. Diese selbst könnte nicht verändert werden, ohne vernichtet zu werden. Vollständige Notwendigkeit ist also erst Eigentum der dynamischen Ver- knüpfung. Der Magnet z. B. zieht mit Notwendigkeit das Eisen an, welches ihm nahegebracht wird; daß Magnet und Eisen aber gerade nebeneinander zu liegen kommen, Ist für beide zufällig. Wenn auch für die Berechnung diese Zu- fälligkeit verschwindet, indem ich irgendwo eine Gegen- wart als das erste Gegebene ansehe und von dieser aus nun mit Notwendigkeit sowohl vorwärts die Zukunft als rückwärts die Vergangenheit bestimme, so bleibt die Zu- sammensetzung der Dinge selbst im ganzen doch etwas Zufälliges, da sie in jedem Augenblick sich aus dem Vor- hergehenden herleitet, keiner aber als der Anfangsaugen- blick schlechthin gilt. Der Grund dieser Zufälligkeit der mathema- tischen Zusammensetzung der Erscheinungen läßt sich aus der Organisation unserer Vernunft leicht nach- weisen. Wenn auch aus dem Wesen der Vernunft selbst das Gesetz der Einheit und Notwendigkeit hinzukommt, so liegt doch der Grund für die Erregung und besondere An- ordnung empirischer Anschauungen nicht in der Vernunft, sondern in demjenigen Äußeren, was auf den Sinn wirkt, ist also für die Vernunft subjektiv zufällig. Allerdings dürfen wir „zufällig“ hier nicht im Sinne der älteren Metaphysik als dasjenige verstehen, was nur als Folge eines andern existiert, wobei Zufälligkeit und Depen- denz eines Dinges identisch sind, auch nicht im Sinne des modalischen Gegensatzes zum Notwendigen, der nur einen subjektiven Unterschied der Auffassung betrifft; für uns ist Digitized by Google Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 299 vielmehr „Notwendigkeit als Kategorie die Bestimmung der Existenz eines Gegenstandes durch die Einheit der tran- szendentalen Apperzeption, Zufälligkeit als ihr Korrelat hin- gegen die Bestimmung der Existenz eines Gegenstandes nur gegen die einzelne materiale Erkenntnis“. Wie kann aber ein solcher Begriff des Zufälligen An- wendung finden, wenn jede einzelne materiale Erkenntnis, so wie sie gegeben wird, unmittelbar in die formale Apper- zeption fällt, und also ihren Gegenstand mit Notwendigkeit bestimmt, falls sie aber noch nicht gegeben ist, ihren Gegen- stand weder zufällig noch notwendig bestimmt? Dies ist nur dadurch möglich, daß die Bestimmung der gegebenen materialen Erkenntnis durch die ursprüngliche Form nur auf eine beschränkte Weise stattfindet, so daß eine be- schränkte Notwendigkeit sich ergibt, die in anderer Rück- sicht als Zufälligkeit beurteilt werden muß. Eine solche Be- schränkung findet eben in der Stetigkeit und Unendlichkeit der rein anschaulichen Formen ihren Ausdruck. Die Zu- fälligkeit des Wesens der Dinge in der Natur liegt darin, daß jedes einzelne Dasein in einer Reihe ohne Anfang und Ende immer wieder unter der Bedingung eines andern steht l). Dem alten Problem der verit^s de fait und verit^s de raisonnement gibt hier Fries eine eigentümliche Wendung. Er berührt sich mit Leibnizcns Annahme einer Zufällig- keit2), die identisch ist mit bedingter Notwendigkeit, aber dieser Zusammenhang erhält bei ihm eine andere Bedeutung durch seine Ablehnung des rationalistischen Begriffs des Zu- fälligen als desjenigen, dessen Gegenteil möglich ist, und durch die Art, wie er seine Unterscheidung der Zusammen- setzung des Mannigfaltigen in Raum und Zeit und der Ver- knüpfung der Existenz der Dinge auf den Gegensatz des Zu- fälligen und Notwendigen bezieht. Die mathematische Zu- sammensetzung der einzelnen Erscheinungen ist zufällig, 1) N. Kr. II, § 116 s. 260 ff. 2) Lcibniz, Monadologie 33 und 37, deutsch von R. Ziimner- nmnn S. 18 f., vgl. Windelband, Geschichte der neueren Philosophie 2. Aufl., I, 464 f. Digitized by Google 300 Kapitel VI. die metaphysische Verknüpfung des Wesens der Dinge ist notwendig. Ist für Leibniz die einzelne Tatsache zufällig, sofern sie durch Einzelursachen bedingt ist, die selbst wieder auf neue noch mehr ins einzelne gehende zufällige Ursachen, also schließlich auf einen unendlichen Kausal-Regressus führen, so ist es für Fries nur die Stetigkeit und Unendlich- keit der Anschauungsformen des Raumes und der Zeit, im Verhältnis zu welchen das einzelne Dasein als zufällig er- scheinen muß. c) Äußere und innere Physik und die einzelnen G runds ätze. Der Unendlichkeit der Zeit und des Raumes gegen- über ist das einzelne Dasein zufällig. Von jedem einzelnen gegebenen Zeitpunkt aus aber ist die Geschichte der Welt notwendig bestimmt. Ist das Mannigfaltige einmal gegeben, so bestimmen die reinen Formen der Anschauung in Raum und Zeit die Erkenntnis desselben mit solcher Notwendig- keit, daß eine vollständige Ausbildung der Erkenntnis auf der Grundlage der transzendentalen Apperzeption möglich ist, ohne daß etwas bloß Empirisches darin bliebe. Eben in dieser Ausführung der Erkenntnis bildet sich dann aber ein durchgreifender Unterschied heraus zwi- schen den zwei Gebieten der äußeren und der inneren Naturerkenntnis. Die äußere Naturerkenntnis wird durchaus von der Mathematik beherrscht, weil für die äußere Anschauung so- wohl die Existenz als das Gegebene der Gegenstände in reinen Formen zusammengefaßt wird, und wir gelangen schon von hier aus zu gewissen allgemeinen Folgerungen, zu derjenigen einer Teilbarkeit der Materie ins Unendliche, einer Erklärbarkeit alles mannigfaltigen Realen im Raum durch bloß quantitative Verschiedenheiten und endlich einer Materie d. h. eines Beweglichen im Raume als der schlechthin beharrlichen Substanz, deren Quantität in allen physischen Prozessen weder vermehrt noch vermindert wer- den kann, sondern die nur in ihren äußeren Verhältnissen Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 301 wechselt. So bildet die äußere Naturlehre als mathema- tische Physik ein in sich vollendbares, geschlossenes Gan- zes, in welchem alles durchaus nach allgemeinen mathe- matischen Gesetzen erklärbar ist1). Anders verhält es sich mit der inneren Naturer- kenntnis. Hier fehlt die dem Raume entsprechende Form, die Nebenordnung des Gleichzeitigen in meinem Anschauen und damit die vollständige mathematische Synthesis. Dem inneren Sinn liegt als Form des gegebenen Mannigfaltigen der inneren Anschauung nur jenes reine Selbstbewußt- sein (die „reine Apperzeption“) zugrunde, das nicht aus der mathematischen Verbindung entspringt, sondern unmittel- bar als eine eigene der Reflexion zugrunde liegende mate- riale Bestimmung der unmittelbaren Erkenntnis vorkommt. Meine Tätigkeiten, die ich innerlich anschaue, stehen also zwar auch „ihrer Existenz nach unter der Bedingung der mathematischen Zusammensetzung in der Zeit, sie werden aber ihrer Materie nach nur in dem Ich des Selbstbewußt- seins ohne alle mathematische Nebenordnung vereinigt“ 2). Aus dieser Bedingtheit durch das reine Selbstbewußt- sein und Unvollständigkeit der mathematischen Synthesis ergeben sich die der äußeren Naturlehre entgegengesetzten Folgerungen. Zunächst fallen alle die mannigfaltigen Tä- tigkeiten der inneren Natur immer nur in der intensiven Größe einer und derselben inneren Handlung des Ich zu- sammen, das als einzelnes Subjekt nicht teilbar ist, sondern nur eine intensive Größe des Grades seiner Vermögen hat, so daß es nicht als durch Zerteilung zerstörbar, sondern als sterblich nur infolge Verlöschens oder allmählichen Ver- schwindens seines Bewußtseins gedacht werden kann3). Aber auch die inneren empirischen Qualitäten des Erken- nens, Vorstellens, Denkens, Lustfühlens und Begehrens sind nur dem Gesetze der intensiven Größe unterworfen. Es sind 1) N. Kr. n, § 118, 119 S. 158 f. 2) N. Kr. II, 157. 3) Vgl. hierzu Kants „Widerlegung des Mendelssohnschen Be- weises der Beharrlichkeit der Seele“ in dem Abschnitt von den „Para- logismen der Vernunft“ (2. Ausg.) Kr. d. r. V. S. 691 f. Digitized by Google 302 Kapitel VI. unauflösliche Qualitäten, welche aus Größen Verhältnissen sich nicht erklären lassen. Endlich ist das Ich oder der Geist zwar der Gegenstand aller innern Erfahrung und das Substrat der Existenz aller ihr angehörenden Erscheinungen, aber, da das reine Selbstbewußtsein als ein bloßes Gefühl meines Daseins der Reflexion zugrunde liegt, so vermag ich zwar meine Tätigkeiten, aber nicht mich selbst anzuschauen. Für die zeitliche Betrachtung in der Erfahrung wird daher der Geist keineswegs wie die Materie als beharrliche Sub- stanz, als unsterblich erkannt, sondern „die Einfachheit sei- nes Wesens ist nur ein Analogon einer Organisation d. h. einer eine Zeit hindurch dauernden Form wechselnder Sub- stanzen wie die Flamme eines Lichtes, die nur in der Form des Verbrennungsprozesses ihre Einheit hat, aber bestän- dig das Verbrennende selbst wechseln läßt, w odurch sie be- steht“ l). Es gibt für uns also eine zweifache, ganz ver- schiedene Art, wie uns das Wesen der Dinge er- scheint. Die eine entlehnt ihre Farben von der äußeren Erfahrung und zeigt uns die materielle Welt, die andere entlehnt ihre Farben von der inneren Erfahrung und zeigt uns die geistige Welt, und beide lassen sich nicht in ein System der Natur vereinigen. Dieser Dualismus ist auch in der Deduktion der ein- zelnen metaphysischen Grundsätze der Naturlehre durch - gehends zu beachten, die sich aus dem Bisherigen von selbst ergibt und nur noch einer kurzen Übersicht bedarf. 1 ) Da der äußeren Erfahrung im Raume eine ursprüng- liche materiale Bestimmung der formalen Apperzeption zu- grunde liegt, so muß jede Erscheinung derselben unter dem Gesetz des stetig Ausgedehnten stehen. Dagegen ist im Ge- biete der inneren Erfahrung dasich als einzelnes Subjekt eine materiale Bestimmung der transzendentalen Apperzeption, „so daß hier das Einzelne das erste ist“ und von einer Teil- barkeit keine Rede sein kann. 1) N. Kr. II, 161 f. Digitized by Google Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 303 2) Für Qualitäten findet eine Erklärung Überhaupt nicht statt, da jede Erklärung eine synthetische Vorstel- lung des einen durch das andere ist, im Momente der Qua- lität aber nur von einer analytischen Vorstellung des einen durch das andere unter der Form der Verneinung die Rede sein kann. Für die inneren Vorgänge haben wir diese Un- auflöslichkeit der Qualitäten bereits konstatiert; wie läßt sich aber damit die früher aufgestellte allgemeine Forde- rung vereinbaren, daß alle äußeren Qualitäten sich auf quan- titative Verhältnisse müssen zurückführen lassen? Die Ant- wort liegt darin, daß auch diese Auflösung der äußeren Qua lität doch keine eigentliche Erklärung derselben wird, da man ja nur dem qualitativ Verschiedenen quantitative Un- terschiede an die Seite stellt, ohne dadurch die ersteren auf- zuheben oder sie aus ihnen zusammenzusetzen. So bleiben den Beschaffenheiten der Dinge selbständige Theorien der intensiven Größe. 3) Nur durch die drei Grundsätze der Beharrlichkeit der Wesen, der Bewirkung und der Wechselwirkung kommt alle Verbindung der Existenz der Dinge und damit aller Zusammenhang der Wahrnehmungen in unserer Erfahrung zustande. Nun vermögen wir aber die Beharrlichkeit der Wesen, durch welche die Existenz der Dinge überhaupt erst in Rücksicht der transzendentalen Apperzeption d. h. mit Notwendigkeit bestimmt wird, nicht wahrzunehmen; wir müßten ja sonst durch alle Zeiten hindurch beobachtet haben. Soli also überhaupt Erfahrung als notwendige Ver- knüpfung der Wahrnehmungen möglich sein, so muß ich imstande sein, von etwas a priori zu erkennen, daß es als Wesen existiert. Es fällt aber nur in der äußeren Anschauung „das mannigfaltige Gegebene als nebeneinander befindlich in der reinen Form des Raumes zusammen. Durch diesen Raum ist also das Nebeneinander — Befindlichsein gegen die tran- szendentale Apperzeption und somit auch gegen die Zeit überhaupt bestimmt, wodurch sich dann das Gesetz bilden muß: das schlechthin nebeneinander Befindliche oder das 304 Kapitol VI. Substrat der äußeren Anschauung existiert als beharrliches Wesen. „Hingegen das Ich als Substrat der inneren Er- fahrung wird als Subjekt gar nicht angeschaut, sondern nur gedacht und vermittelst veränderlicher Tätigkeiten er- kannt; es kommt ihm also in allen seinen erkennbaren Ver- mögen eine intensive Größe zu, welche größer oder kleiner werden und sogar verschwindend gedacht werden kann.“ Es muß daher „die Einheit der inneren Erfahrung nur von dem Beharrlichen der äußern entlehnt werden, indem uns ohne dies keine Zeitbestimmung in ihr möglich würde. Wir müssen erst das Innere als mit dem Äußeren zugleich d. h. als mit ihm in Wechselwirkung befindlich erkennen, um dadurch Zeitbestimmung in dasselbe zu bringen. So wird also alle geistige Weltansicht in unserer Vernunft an die Bedingung der materiellen gebunden, die ihr zugrunde lie- gen muß, und an der sie nur als Korrelat bestehen kann, wie wir dies denn auch in dem Verhältnis unseres inneren Lebens zum Körper und darin so finden, daß jedes andere Leben nur nach Analogie mit diesem Verhältnis von uns aufgefaßt werden mag“ 1). Wir haben diese Stellen vollständig angeführt, da sie nicht bloß in einer interessanten Beziehung zu Kants Wider- legung des Idealismus stehen, sondern auch besonders ge- eignet sind, die Stellung, welche Fries in seiner Deduktion der metaphysischen Grundsätze der Naturwissenschaft ein- nimmt, zu beleuchten. d) Kants „ Widerlegung des Idealismus“ und die Deduktion der Grundsätze der „inneren Naturerkenntnis“ bei Fries. Fries fügt seinen Ausführungen über die Abhängigkeit unserer geistigen Weltansicht von der materiellen die Be- merkung bei: „Aus diesem Grunde führte Kant seinen kri- tischen Beweis zur Widerlegung des empirischen Idealis- mus“2). Schon in der Verschiedenheit des Zwecks beider Aus- 1) N. Kr. II, IG« f. 2) N. Kr. II, IG7. Digitized by Google Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 306 führungen liegt aber der Grund einer prinzipiellen Diffe- renz. Kant will dem problematischen Idealismus des Kar- tesius, dem dogmatischen Berkeleys und der Glaubensphilo- sophie Jakobis1) durch den Nachweis gegenübertreten, daß die Wahrnehmung eines Beharrlichen, ohne welche das tat- sächlich vorhandene Bewußtsein einer Zeitbestimmung un- möglich wäre, nur stattfinden kann, wenn es „wirkliche Dinge“ „außer mir“ gibt. Da diese „Dinge außer mir“ im ausdrücklichen Gegensatz zu der „bloßen Vorstellung eines Dings außer mir“ gebracht werden, so ist unzweifelhaft, daß damit Dinge gemeint sind, die auch abgesehen von un- serer Vorstellung existieren, also als transzendent gel- ten sollen. Fries dagegen ist in seinen Ausführungen nur von der Absicht geleitet, seine grundsätzliche Betonung des Un- terschieds der äußeren und inneren Naturwissenschaft auch für die Deduktion der metaphysischen Grundsätze der Nar lurwissenschaft durchzuführen und zu zeigen, wie die Ein- heit der inneren Erfahrung nur von dem Beharrlichen der äußeren entlehnt werden kann. Er bleibt aber, seinem Zwecke entsprechend, dabei völlig innerhalb einer imma- nenten Metaphysik. Die Erkenntnis des Wesens des Ich selbst allerdings führt über das Gebiet des Erfahrungs- wissens hinaus und fällt in das Gebiet der Ideen und des Glaubens, aber innerhalb gewisser Grenzen ist doch eine „Metaphysik der inneren Natur“ möglich, die neben der Metaphysik der äußeren Natur einer „allgemeinen Me- taphysik der Natur“ unterzuordnen ist. Wir sehen, wie die Nebeneinanderstellung und scharfe Scheidung dieser beiden Gebiete von Anfang an die Deduktion der einzelnen Grund- sätze modifiziert. Fries wendet jetzt im allgemeinen nicht mehr, wie in seiner systematischen Übersicht2), die Kanti- schen Termini an. Schon das Prinzip der „Axiome der Anschauung“ : „Alle Erscheinungen sind extensive Größen“, 1) Dieses letztere in der Verbesserung des Beweises in der Vorrede zur zweiten Ausgabe Kr. d. r. V. 31. Der Beweis selbst Kr. d. r. V. 208 ff. 2) S. oben S. 236 ff. Elsenhane, J. F. Fries und die Kultische Erkenntnistheorie. 20 306 Kapitel VI. würde ja nicht mehr passen, wo in die Deduktion die inne- ren Tätigkeiten mit einbezogen werden. Innerhalb der Kategorie der Qualität tritt die Darlegung der Unauflöslich- keit der inneren Qualitäten, und in derjenigen der Relation die Bedingtheit der geistigen Weltansicht durch die mate- rielle in den Vordergrund. Die „Postulate des empirischen Denkens“ *) werden überhaupt nicht deduziert, da sie weder Gesetze der Zusammensetzung des gegebenen Mannigfalti- gen noch Gesetze der Verknüpfung der Existenz der Dinge aussprechen. t e) Kant und Fries in ihrem Verhältnis zur „Metaphysik der inneren Natur“. Charakteristisch ist aber für Fries und sein Verhältnis zu Kant seine ganze Auffassung von der „Metaphysik der inneren Natur“. Für Kant werden die „Grundsätze des reinen Verstandes“ im wesentlichen zu „metaphysischen Grundsätzen der Naturwissenschaft“, wobei die Naturwissen- schaft im gewöhnlichen Sinne als Wissenschaft von der körperlichen Natur weitaus überwiegt. In den „Antizipationen der Wahrnehmung“ -) wird zwar der Empfindung eine intensive Größe d. i. ein Grad zu- geschrieben. Aber die Empfindung ist hier nur als Korre- lat des „Realen“ verwendet, und in der zweiten Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft tritt dies auch in der ver- änderten Fassung des Prinzips hervor: „In allen Erschei- nungen hat das Reale, was ein Gegenstand der Empfindung ist, intensive Größe, d. i. einen Grad.“ Und in der Ausfüh- rung seiner „Metaphysischen Anfangsgründe der Natur- wissenschaft“ wird die Metaphysik der Natur zur „Metaphy- sik der körperlichen Natur“, da nach Kant in jeder be- sonderen Naturlehre (für welche die Metaphysik der Natur die Grundlage schafft) nur so viel eigentliche Wissenschaft 1) Die übrigens Metaphysik 263 als „Gesetze der metaphysi- schen Verknüpfung“ bezeichnet werden. 2) Kr. d. r. V. S. 162. Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 307 angetroffen werden kann, als darin Mathematik anzutreffen ist, Mathematik aber auf die Phänomene des inneren Sin- nes und ihre Gesetze nicht anwendbar ist 1 *). Obwohl also eine immanente Metaphysik der „denkenden Natur“*) durch die Kategorienlehre und das System der Grundsätze des reinen Verstandes prinzipiell keineswegs ausgeschlossen war, und neben der Ablehnung der transzendenten Meta- physik der rationalen Psychologie in den „Paralogismen“ an sich ebensowohl Raum gehabt hätte, wie etwa die Meta- physik der „ausgedehnten Natur“ neben der Antinomienlehre, so beschränken sich doch die „Metaphysischen Anfangs- gründe“ auf die körperliche Natur, da es eben nur von die- ser eine „eigentlich so zu nennende Naturwissenschaft“ gibt. Anders bei Fries. Fries liefert auch hier eine min- destens vom Standpunkte der Systematik aus beachtens- werte Erweiterung der Kantischen Vernunftkritik, indem er die Grundlegung der „Metaphysik der inneren Natur“ neben der äußeren prinzipiell in die Deduktion der Grundsätze aufnimmt. Aber die Metaphysik der inneren Natur ist, wie wir gesehen haben, derjenigen der äußeren Natur nicht koordiniert, und Fries hat dies in der Ausführung derselben, die er in seiner „Metaphysik“ 3) gibt, noch eingehender be- gründet. Da die Beschaffenheiten der inneren Erfahrung Tätigkeiten des Ich sind, das Ich aber keine reinanschau- lichen Bestimmungen hat, so bleiben sie unauflösliche Be- schaffenheiten, und wir erkennen den Geist als Subjekt der inneren Erfahrung nicht vermittelst a priori bestimmter kategorischer Urteile und daher nicht als Substanz, sondern 1) S. W. V, 309 ff. Nach dem scharfsinnigen, aber unhaltbaren Versuch Herbarts diese Anwendbarkeit doch zu ermöglichen, hat die moderne experimentelle Psychologie, wie sie von Fechner begrün- det, von Wundt ausgebaut wurde, so eng man auch ihre Grenzen (vgl. hierzu meine Schrift: „Selbstbeobachtung und Experiment in der Psychologie“ 1897) stecken möge, das unbestreitbare Verdienst, die Anwendbarkeit der Mathematik auf die psychischen Vorgänge (allerdings auf dem, wie wir sahen, auch von Fries vorgezeiclmetcn Umwege der Verkettung mit körperlichen Vorgängen) bewiesen zu haben. 2) Vgl. S. W. V. 305. 3) Metaph. 392 ff 308 Kapitel VI. nur unbestimmter als das Subjekt seiner Tätigkeiten. Die Raum- und Zeitbestimmungen seiner Tätigkeiten können ebendeshalb nur „nach Analogie mit dem Körperlichen be- stimmt werden, indem wir die willkürlichen Bewegungen unsers Leibes dem Ich als seine Tätigkeiten zuschreiben und uns bei den äußeren sinnlichen Anregungen unserer Tätigkeiten von körperlichen Einwirkungen abhängig fin- den“ *). Dadurch wird die metaphysische Grundlage unserer Selbsterkenntnis zusammengesetzter und doch mangel- hafter, als die der Körpererkenntnis. Ein vollständiger Ge- brauch der Kategorien ist hier wegen des mangelnden rein- anschaulichen Schematismus nicht möglich, und alle kate- gorischen sowohl als hypothetischen Beurteilungen des Geisteslebens ruhen nur auf „erfahrungsmäßigen Induk- tionen“ 1 2). Unter den Grundlagen dieser Beurteilungsweisen, welche eben die Metaphysik der inneren Natur zu liefern hat, werden dann unterschieden: erstens eine „kategorische Ansicht“, die unter den Begriffen von der Person und ihren Eigenschaften steht, d. i. die Ansicht der psychischen Anthropologie oder der geistigen Selbsterkenntnis, zwei- tens eine „hypothetische Ansicht“, die aus der Gegenwirkung des Geistes mit Wesen außer ihm erwächst, w'ie wir sie nur aus den Einwirkungen der Körper auf ihn und aus den Gegenwirkungen seines Willens auf die Körper erkennen. Es sind daher die Begriffe von Person und Sache, welche dieser Ansicht der pragmatischen (oder technischen) Wissenschaften d. h. der Lehre von der Zweckmäßigkeit zu- grunde liegen, in welcher die Körperwelt als Mittel für die Zwecke des menschlichen Willens beurteilt wird. Die dritte „divisive Ansicht“ des Geisteslebens beruht darauf, daß eine wahre geistige Wechselwii'kung für die Menschen nur im geselligen Menschenleben stattfindet; sie steht daher unter 1) a. a. 0. S. 393. 2) Für welche jedoch die „leitenden Maximen“ aus der allge- meinen Metaphysik der Natur stammen, vgl. oben die Ausführungen über die Methode der Induktion. Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 309 den Begriffen von Recht und Verbindlichkeit und ist die An- sicht der politischen Wissenschaften. Dagegen berührt sich Fries in der Tragweite, welche er für diese Metaphysik der inneren Natur der Mathema- tik zugesteht, nahe mit Kant. Kant läßt für die Anwendung der Mathematik auf die Phänomene des inneren Sinnes und ihre Gesetze die Möglichkeit offen, daß man etwa „allein das Gesetz der Stetigkeit in dem Abflüsse der inneren Ver- änderungen desselben in Anschlag bringen wollte“ 1 2). Aber diese Möglichkeit kommt nicht in Betracht, da dies „eine Er- weiterung der Erkenntnis sein würde, die sich zu der, wel- che die Mathematik der Körperlehre verschafft, ungefähr so verhalten würde, wie die Lehre von den Eigenschaften der geraden Linie zur ganzen Geometrie.“ Denn die reine innere Anschauung, in welcher die Seelenerscheinungen konstruiert werden sollen, ist die Zeit, die nur eine Dimen- sion hat*). Auch nach Fries ist das „Gesetz der Stetigkeit im Ab- fluß aller Veränderungen“ das „einzige mathematische Naturgesetz, welches eine Anwendung auf innere Erfahrung leidet“. Ein Übergang des Geistes aus einem Zustand in einen andern kann sehr schnell sein, z. B. bei Affekten, aber er ist nie ein plötzlicher Übersprung, sondern er durch- läuft stetig alle niedrigeren Grade. Aber mit diesem Gesetz ist auch der ganze Einfluß der Mathematik auf innere Er- fahrung erschöpft. Denn alle innere Größe ist intensive Größe der Tätigkeit oder des Vermögens. Für diese aber gibt es weder ein bestimmtes Maß 3 * *), da sich keine extensive 1) S. W. V, 310. 2) Gegen dieseAnnalime einer Eindimensionalität des seelischen Geschehens hat W. Wundt (Grundzüge der physiol. Psychol. I6, S. 7) wohl nicht mit Unrecht die Intensität der Empfindungen und Gefühle geltend gemacht, die neben ihrer zeitlichen Ordnung als zweite Dimension betrachtet werden könnten. 3) Die prinzipielle Bedeutung der Entdeckung eines solchen Maßes, wie es Fechner in der ebenmerklichen Zunahme der Em- pfindungsintensität gefunden zu haben glaubt, tritt hier besonders hervor. 310 Kapitel VI. Größe mit ihr in Vergleichung bringen läßt, noch auch eine unbestimmte Messung, da wir keinen festen Punkt haben, von dem wir ausgehen können. Die mannigfaltigen sich äußernden Vermögen des Ich und ihre Tätigkeiten selbst sind allerdings zugleich, aber wir können auch das suc- cessiv Aufgefaßte nicht äußerlich im Raume nach mathe- matischen Gesetzen nebeneinander konstruieren, sondern nur dynamisch als Wirkung eines und desselben Ich ver- einigen. Eben in dieser bloß relativen Bestimmbarkeit von Vermögen und Kraft des Geistes liegt aber „die Berechti- gung der systematisierenden Vernunft, nach allgemeinen Merkmalen, welche mehreren Tätigkeiten zukommen, all- gemeine Begriffe von Vermögen zu abstrahieren, und durch diese Grundvermögen zu bestimmen, die den inneren Er- klärungen zum Prinzip dienen“1). Wie für Kant, so ist also auch für Fries die Anwendung der Mathematik im Gebiete der inneren Erfahrung auf das Gesetz der Stetigkeit beschränkt; der Unterschied ist nur der, daß Kant die dadurch etwra zu gewinnende Er- weiterung der Erkenntnis für ganz unwesentlich hält, wäh- rend Fries, ohne die Unzulänglichkeit jenes Gesetzes zu übersehen, es wenigstens für ausreichend hält, neben einem allgemeinen Abstraktionsverfahren eine „Metaphysik der inneren Natur“ zu ermöglichen. Diese Möglichkeit zu schaffen und die Grundlegung jener „Metaphysik der inne- ren Natur“ in der Deduktion der „metaphysischen Grund- sätze der Naturwissenschaft“ mit zu liefern, war ja für den Verfasser einer „anthropologischen Kritik der Vernunft“ eine unerläßliche Forderung. 5. Die Deduktion der Prinzipien für die Lehre von den Ideen. a) Die Notwendigkeit einer Deduktion der Tdeen nach Fries im Unterschied von Kant. Für Fries gehört nicht, wrie für Kant, die Lehre von den Ideen einer „transzendentalen Dialektik“, einer „Logik 1) Metaph. 407 ff., 411. Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 311 des Scheins“ an, sondern dieselbe tritt als gleichberechtigt neben die Prinzipien der Naturlehre. Die natürliche und die ideale Ansicht der Dinge unterscheiden sich nach ihm nur als zwei verschiedene Ansichten von den Gesetzen der ob- jektiven Einheit in unserem Geiste. Als erstes Gesetz der Vernunft ergab sich Einheit und Notwendigkeit. Diese zeigte sich an dem gegebenen Sinnenmaterial der Erkennt- nis in den Gesetzen der natürlichen Ansicht der Dinge, deren Einheitsfonnen die Reflexion feststellt; dagegen in den Gesetzen der idealen Ansicht so, wie die Reflexion das Gesotz der Einheit und Notwendigkeit rein für sich aus der unmittelbaren Erkenntnis der Vernunft als das erste und innerste in der transzendentalen Apperzeption liegende Prinzip auffaßt. Für die erstgenannten Einheitsformen haben wir die Deduktion geliefert. Nun erwächst uns aber dieselbe Auf- gabe für die Formen der Idee, die wir in unserer systema- tischen Übersicht1) kennen gelernt haben. Auch unsere Untersuchung der Methode der Deduktion hat gezeigt, daß für die Ideen ebenso, wie für die Verstandesbegriffe eine Deduktion aus dem anthropologischen Moment er- forderlich ist, daß auch ihr Ursprung, wie derjenige der Kategorien, aus dem Wesen unserer Vernunft sich muß nach weisen lassen. Kant ließ allerdings eine eigentliche Deduktion nur für die Kategorien gelten *). Die Sätze der Ideenlehre sind ihm erschlossene Behauptungen, sie gründen sich auf Vernunft- schlüsse, die aber Trugschlüsse seien und nur einen unserer Vernunft unvermeidlichen transzendentalen Schein bei sich führten. Kant gelangte aber dazu nur deshalb, weil er bei dem methodischen Entwurf seiner ganzen Lehre von dem Vorurteil der Leibniz Wölfischen Schule ausging, es müsse jede philosophische Wahrheit durch einen Beweis begründet werden. „Er gab für den Gebrauch der Kategorien in der 1) S. oben S. 23b ff. 2) In welchem Sinne auch Kant von einer Deduktion der Ideen redet, ist oben S. 178 ff. nachgewiesen worden 312 Kapitel VI. Erfahrung transzendentale Beweise, leugnete die spekulative Giltigkeit der Ideen, weil für diese keine transzendentalen Beweise möglich seien, und brachte dann für die praktische Giltigkeit der Ideen seine moralischen Beweise nach“ *). Da- bei ist aber nicht bedacht, daß wir ja erst Prämissen unserer Schlüsse als höhere Wahrheiten haben müssen, um aus ihnen Beweise führen zu können, also schließlich einen er- sten von Beweisen unabhängigen Besitz der höchsten Wahr- heiten, der sich der menschlichen Urteilskraft nur im Ge- fühl geltend macht. Eben zu diesen Grundwahrheiten haben wir auch die Ideen zu rechnen. Die Wahrheiten des Un- bedingten können schon deshalb unmöglich erschlossene Wahrheiten sein, weil dadurch eine bedingte Wahrheit zu einer der unbedingten W ahrheit übergeordneten gemacht wird. Kant wendet die im Wesen der Vernunft liegende Forderung einer Totalität der Bedingungen zu jeder be- dingten Erkenntnis auf die Unterordnung besonderer Wahr- heiten unter allgemeinere in Vernunftschlüssen an und sucht zu zeigen, daß diese Forderung der Vernunft nur auf die aufsteigende Reihe der Vernunftschlüsse gehe, in der wir durch Prosyllogismen zu immer höheren Bedin- gungen fortschreiten, nicht aber auf die absteigende Reihe, welche nur gegebenen Bedingungen ihr Bedingtes unter- ordnet. Daher heißt es bei Kant: „Wenn eine Erkenntnis als bedingt angesehen wird, so ist die Vernunft genötigt, die Reihe der Bedingungen in aufsteigender Linie als vollendet und ihrer Totalität nach gegeben anzusehen.“ Wenn wir aber dieser Anweisung Kants folgen und in einer solchen aufsteigenden Reihe zu Prosyllogismen fort- schreiten, so erschließen wir ja nicht neue Wahrheiten, son- dern wir suchen nur höhere Voraussetzungen, von denen die bedingten Erkenntnisse, von denen wir ausgehen, als von ihren höheren Bedingungen abhängen, und aus denen diese bedingten Erkenntnisse als erschlossen angesehen werden müssen*). 1) Metaph. 448 f. 2) Metaph. 448 ff. Man wird dieser kritischen Auseinander- Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 313 Fries sieht daher auch in Kants „dialektischen Schlüs- sen“ keine Trugschlüsse der reinen Vernunft selbst, sondern Trugschlüsse, welche nur in der Geschichte der Wissen- schaft durch mangelhafte Kenntnis der philosophischen Methode veranlaßt wurden. Der Widerspruch bestand haupt- sächlich darin, daß man die Idee auf die unvollendbaren Reihen der Mathematik selbst anwenden wollte, anstatt sie diesen durch Verneinung aller Anschauungsschranken ent- gegenzusetzen >). Wie kann überhaupt ein Vernunftschluß, wie Kant meint, demjenigen einen transzendentalen Schein zurücklassen, der die Unrichtigkeit in seinen Prämissen ein- sieht? Wenn ich z. B. erkenne, daß, wie Kant annimmt*) in dem spekulativen Beweis für die Substantialität der Seele der Begriff „Subjekt“ in doppelter Bedeutung gebraucht wird, also ein Trugschluß (eine fallacia a dicto secundum quid ad dictum simpliciter) vorliegt, so folgt für mich aus dieser trüglichen Gedankenverbindung gar nichts. Kant meint, da ja der Glaube an die Substantialität des den- setzung von Fries eine gewisse Berechtigung zugestehen müssen. Ein eigentliches Schließen ist das prosyllogi.stisehe Verfahren, wie es Kant hier meint, allerdings nicht. Das Zurückgreifen auf höhere Prämissen, der regressus des Prosyllogismus (vgl. auch Sigwart, Lo- gik II2, 269) ist selbst kein Schlußverfahren, während der progressus des Episyllogismus es ist. Dies wird noch deutlicher, wenn man etwa den Vei*such macht, der Definition des Episyllogismus, welche Kant in seiner Logik gibt (S. W. III, 322): „Ein Episyllogismus ist näm- lich derjenige Schluß in der Reihe von Schlüssen, dessen Prämisse die Konklusion eines Prosyllogismus — also eines Schlusses wird, welcher die Prämisse des ersteren zur Konklusion hat“ eine ähn- liche des Prosyllogismus an die Seite zu stellen, die etwa lauten würde: „Ein Prosyllogismus ist derjenige Schluß in der Reihe von Schlüssen, dessen Konklusion die Prämisse eines Episyllogismus — also eines Schlusses wird, welcher die Konklusion des ersteren zur Prämisse hat“. Die gegebene Schlußkette kann man aller- dings in beiden Richtungen durchlaufen und Kaut nimmt auch an, daß alle Glieder der Reihe, wenigstens der aufsteigenden gege- ben sein müssen — aber dieses Durchlaufen ist selbst nicht not- wendig ein Schließen, wie es die Grundlage der Kantischen Ideen- lehre bilden soll. 1) N. Kr. II, 215. Metaph. 468. 2) Kr. d. r. V. 690 L Digitized by Google 314 Kapitel VI. kenden Wesens stehen bleibe, so müsse dieser Schluß doch einen unvermeidlichen transzendentalen Schein geben. Fries erwidert dagegen : Der Grund unseres Glaubens an die Wesenheit des Geistes liegt keineswegs in dieser Ge- dankenverbindung, sondern dieser Glaube entsteht uns aus der Anwendung der Kategorien des Wesens auf den Grund- satz der Vollendung, wie eben die Deduktion näher zeigen wird. b) Die Grenzen des Erkennen« und der Glaube an die RealitHt der Dinge schlechthin. Wir erhalten Natureinheit und die Formen der Natur- notwendigkeit, indem wir die ursprüngliche formale Apper- zeption als Bedingung des gegebenen Mannigfaltigen der materialen Erkenntnis uns zum Bewußtsein bringen, die ideale Einheit mit ihren Ideen aber, indem wir das Gesetz der Einheit der transzendentalen Apperzeption rein für sich auffassen. Wie kommt es aber, daß so verschiedene und ent- gegengesetzte Formen des Naturbegriffes und der Idee ent- stehen? Warum finden wir in dem reinen Gesetz der for- malen Apperzeption nicht eben nur die formale Bedingung alles Materialen, und in der formalen Bedingung des Gegebenen jenes reine Gesetz? Die Antwort liegt in der Beschränktheit des Wesens jeder sinnlichen Vernunft, die sich bewußt wird, daß sie den Gehalt ihrer Erkenntnis nur durch ein ihrem Wesen fremdes Prinzip der äuße- ren Anregung zum Erkennen erhält. Die Anforderungen des in ihr liegenden obersten Gesetzes der Einheit und Not- wendigkeit können durch die nur sinnlich eingeleitete Er kenntnis nie vollständig befriedigt werden. Aus diesem Gegensatz der vollendeten Einheit gegen die Formen der Verbindung des sinnlich Gegebenen entsteht der Gegensatz der idealen Ansicht zur natürlichen. Eine Deduktion der Ideen wird daher nach einer kur- zen Erklärung der Bedeutung der Idee überhaupt zuerst jene Beschränktheit unserer Vernunft und im Zusammen- Digitized by Google Die nnmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 315 hang damit die Grenzen des Erkennens überhaupt zu behandeln haben, sie wird sodann die Möglichkeit einer Überschreitung dieser Schranken begründen d. h. unserer ganzen idealen Ansicht eine positive Grundlage schaf- fen müssen, um endlich die Deduktion der einzelnen Ideen selbst zu liefern 1). o) Idee und Anschauung. Wir gebrauchen im Deutschen das Wort Idee, um das Gebiet des Denkens zu bezeichnen, welches über Anschau- ung oder Erkenntnis hinausreicht. Wir nennen eine Er- kenntnis eine bloße Idee, wenn ihr Gegenstand nicht in der Anschauung nachgewiesen werden kann. Auch nennen wir eine Vorstellung, einen Vorschlag, einen Plan bloße Idee, wenn sie unausführbar sind oder wenigstens noch die Mittel zur Ausführung nicht vorhanden sind. Und doch unterscheiden wir auch die Idee, die einen Anspruch auf Realität machen kann, von der Chimäre, die diesen An- spruch nicht zu erheben vermag. Ja mit diesem Anspruch auf Realität sollen die Ideen gerade das Höchste und Wich- tigste in unserem Geiste werden, indem wir durch sie die ewige Wahrheit den beschränkten nur menschlichen Vor- stellungsweisen überordnen. Wir haben dabei aber von jener ersten Wortbedeutung auszugehen und zunächst zu fragen, wie unser Denken dazu kommt, über die Grenzen der Anschauungser- kenntnis hinauszugehen. Dieses Vermögen der Ideen ent- springt aus dem bereits besprochenen Verhältnis der ur- sprünglichen Einheit der transzendentalen Apper- zeption zum Gesetz der Zufälligkeit in der mathe matischen Zusammensetzung. Da die wirklich ge- gebene Anschauung im Verhältnis zur notwendigen Einheit der Grundvorstellung nicht mit subjektiver Notwendigkeit, sondern hinsichtlich der Regel ihrer Zusammensetzung nur 1) N. Kr. II, 171 ff. Digitized by Google 316 Kapitel VI. zufällig gegeben ist, so bleibt ein Spielraum für eine will- kürliche Vorstellungsart. wie es sich auch noch anders den- ken ließe. Einerseits kann die kombinierende Einbil- dungskraft, wenn sie auch kein neues Reales erdenken kann, doch mit dem rein anschaulich Gegebenen beliebig schalten und walten, so daß andersartige in der Erfahrung nicht vorhandene Gebilde entstehen, andererseits kann das Denken über die Anschauung hinausgreifen; aber auch nicht so, daß es sich völlig von ihr lossagen könnte, um etwa das Übersinnliche als eine davon verschiedene ganz andere Welt zu erkennen, sondern nur so, daß wir ein Gan- zes des Gegebenen überhaupt, eine andere Ordnung der- selben Welt denken. „Wir denken in der Idee der Seele nur die Selbständigkeit des Geistigen, welches als Gegen- stand der inneren Erfahrung gegeben ist; Welt wird das Ganze aller Gegenstände der Erfahrung, und in der Gott- heit denken wir das Wesen, welches dieser Welt ihr Gesetz gibt“ 1). Im ersteren Fall haben wir die ästhetischen Ideen, die durch Kombination entstehen, und im letzteren Fall die logischen Ideen, welche durch Negation, nämlich durch Verneinung der Schranken der Anschauung zustande kommen. Da wir aber durch Kombination nur eine andere Ordnung des wirklich Gegebenen vorstellen, oder, wie in den Ideen schöner Formen, nur eine wirklich gegebene Kombination als Fall auf eine unaussprechliche Regel be- ziehen können, so rühren uns die logischen Ideen mit ihrer Negation als Begriffe von einem Realen, das in keiner An- schauung gegeben werden kann, über das Gegebene hinaus, 1) N. Kr. II, 177 ff. In der Metaphysik 443 finden wir eine etwas andere Fassung des Verhältnisses von kombinierender Einbildungs- kraft und Denken, wie folgender Satz zeigt: „Die Unbestimmtheit der Vorstellung in den Ideen kann daher im allgemeinsten von zwei Arten sein. Einmal kann der Begriff über dasjenige hinausliegen, was sich anschaulich vorstellen läßt, und im anderen Falle kann umge- kehrt die Anschauung den Begriffen überlegen bleiben, indem sie von ihnen nicht erschöpft werden kann.“ Digitized by Google Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 317 um uns die Grundgedanken der idealen Erkenntnis zum Be- wußtsein zu bringen *). ß) Die Frage nach der Übereinstimmung der Gegen- stände mit unserer Vorstellung. Damit aber taucht nun aufs neue die Frage nach der Wahrheit unserer Erkenntnis auf. Wir hatten zu unter- scheiden zwischen der „empirischen Wahrheit“, welche nur nach dem Vorhandensein einer Erkenntnis im Geiste fragt, und der „transzendentalen Wahrheit“, welche in der Über- einstimmung der Erkenntnis mit dem Gegenstände besteht. Mit unserer ganzen bisherigen Theorie der Erkenntnis blie- ben wir nun völlig innerhalb der empirischen Wahrheit und ihrer subjektiven Begründung. Schon die Lehre von der Empfindung zeigte, daß die Sinnesanschauung ihren „Gegenstand“ nicht durch das zur Empfindung Affizierende erhalte, sondern daß der Gegenstand „schon gleich bei der Anschauung sei“ und die Empfindung ihr nur eine subjek- tive Giltigkeit zum Unterschied von der Einbildung gebe. Es zeigte sich ferner, daß alle Begründung selbsttätiger Er- kenntnis in Urteilen nur ihr Vorhandensein im Geiste betreffen, also subjektiver Art sein kann. Endlich ergab sich, daß wenn von transzendentaler Wahrheit die Rede sein soll, diese sich nur auf das Ganze unserer transzendentalen Apperzeption beziehen kann. Da nun aber die Ideen über die Grenzen der An- schauung oder Erkenntnis hinausgehen, so handelt es sich jetzt um die transzendentale Wahrheit selbst in ihrer Beziehung auf das „Sein der Gegenstände an sich“. Wir haben also jene ganze vollständige transzendentale Apper- zeption noch mit der Idee der transzendentalen Wahrheit zu vergleichen und zu fragen: wie entsprechen ihr die Gegenstände, wie stimmt sie mit dem Gegenstände an sich überein? Es lassen sich hier drei Möglichkeiten denken: 1) daß 1) N. Kr. II, § 121 u. 123. Djgitized by Google 318 Kapitol VI. der Vernunfterkeimtni.s mit ihrer ganzen empirischen Wahr- heit ein Sein der Gegenstände an sich entspricht; 2) daß ihr an sich kein Gegenstand entspricht, daß sie nur Schein ist; 3) die gleichsam in der Mitte zwischen diesen beiden liegende Annahme, daß die Vernunft zwar das wahre Wesen der Dinge erkennt, aber nicht so, wie sie an sich sind, sondern nur unter gewissen, ihrem Wesen unvermeid- lichen subjektiven Beschränkungen, in welchem Falle wir die Gegenstände der Vernunfterkenntnis als Erschei- nungen bezeichnen1). Die erste Ansicht ist als selbstverständliche Voraus- setzung das Prinzip alles spekulativen Dogmatismus. Es ist aber unschwer einzusehen, nicht bloß, daß kein Be- weis für eine Erkenntnis der Dinge an sich möglich ist, son- dern auch, daß die Voraussetzung nicht zutrifft, die Gegen- stände unserer Erkenntnis seien an sich so beschaffen, wie wir sie anschauen. Um jenen Beweis zu liefern, müßten wir ja gleichsam Erkenntnis und Gegenstand zur Verglei- chung nebeneinanderstellen, um zu beurteilen, ob die Rea- lität des einen der Vorstellung in der andern Realität gebe oder nicht. Aber unsere Vernunft kann doch nur ihre Er- kenntnistätigkeiten subjektiv miteinander vergleichen. Dies gilt selbst von dem einfachen Bewußtsein: Ich bin. Auch hier bleibe Ich nur der Gegenstand, dessen ich mir durch meine subjektive Tätigkeit bewußt werde. Ja sogar eine absolut anschauende Vernunft, vor deren Blick das ganze Weltall offen läge, käme darüber nicht hinaus, denn auch sie bliebe, wie wir uns auch ihre Organisation aus- denken mögen, nur bei ihrer subjektiven Tätigkeit im An- schauen. Die Vernunft ist nun einmal so organisiert, „daß sie nur ihre eigenen inneren Verhältnisse für sich und kein aus der inneren Tätigkeit hinausgehendes Äußeres zu be- obachten vermag. Für jede einzelne Erkenntnistätigkeit ist aber das Sein des Gegenstandes ein solches Äußeres, mit dem wir also nur durcli diese Tätigkeit in Berührung kom- 1) N. Kr. II, 187 f. Digitized by Google Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 319 men, ohne es je neben dieselbe zur Vergleichung stellen zu können“1). Dieses angebliche Thema der Philosophie, die • • Forderung einer Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstände in einer transzendentalen Wahrheit ist also gar kein Thema für eine Theorie, überhaupt nicht für eine Wissenschaft. Die Aufgabe selbst ist unrichtig ge- stellt und entspringt nur aus Unkenntnis der Theorie der menschlichen Vernunft2). Es läßt sich aber auch die Unrichtigkeit der Voraus- setzung tatsächlich zeigen, die Gegenstände unserer Er- kenntnis seien an sich so beschaffen, wie wir sie anschauen. Wäre dem so, so müßte die Erkenntnis des Gegenstandes vom Sein desselben abhängig sein. Tatsächlich aber ver- hält es sich umgekehrt. Das Dasein der Dinge in Raum und Zeit ist ja nach dem Gesetz der Zufälligkeit aller mathematischen Zusammensetzung, das wir kennen gelernt haben, von dem Auf fassen der Gegenstände vor der Erfah- rung abhängig, kann also unmöglich zum Wesen der Dinge, wie sie an sich sind, gehören3). Die Gegenstände der Sinnesanschauung existieren daher nicht für sich, sondern nur als Gegenstände einer Erkenntnis d. h. sie sind entweder Schein oder Erscheinung. Gegen diesen Nachweis, daß wir die Dinge in der Sinnenwelt nicht erkennen, wie sie an sich sind, kann nun aber noch der Einwand gemacht werden: „wenn wir in der Tat die Dinge an sich nicht erkennen, wie sie sind, so haben wir kein Urteil darüber, wie sie sein mögen; wir können also auch nicht behaupten, daß die Sinnenwelt ihnen nicht entspreche, denn unser Urteil über sie gilt überhaupt nichts“4). Fries ist sich bewußt, damit einen der heikelsten Punkte der auf Kant sich gründenden Erkenntnistheorie be- rührt zu haben. Er meint selbst, diese Einwendung habe alle Schwierigkeiten in der Kantischen Schule veranlaßt, wenn man die Idee des Seins an sich bestimmen wollte, 1) N. Kr. II, § 127 S. 189 ff. 2) N. Kr. II, 190, 192. 3) N. Kr. II, 193. 4) N. Kr. II, 197. Digitized by Google 320 Kapitel VI. und er gibt zu: allerdings müsse unsere Vernunft irgend einen Standpunkt der Überzeugung haben, von dem aus sie sich ein Urteil über das Sein an sich zu traut, um auch nur dieses absprechende Urteil gegen ihre sinnliche Er- kenntnis geltend zu machen. Über diesen Standpunkt selbst werde die folgende Erörterung des spekulativen Glaubens orientieren. Für jetzt lasse sich nur sagen: „Unsere Ver- nunft hat in Rücksicht der Dinge an sich über das einzige Urteil hinaus, daß sie sind, nur negative Urteile über das, was sie nicht sind“ l 2). Der von Fries hier berücksichtigte Einwurf steht in engstem Zusammenhang mit der „Lücke in Kants Beweis von der ausschließenden Subjektivität des Raumes und der Zeit“, die durch Trendelen burgs Ausführungen darüber zum Gegenstand einer eingehenden Kontroverse geworden ist. Wenn Kant schloß: Raum und Zeit sind a priori, weil notwendig und allgemein, und wenn a priori, so sind sie subjektiv, also sind sie nur subjektiv, so sei dabei die Mög- lichkeit, daß das a priori, wenn auch im Geiste subjektiv, doch zugleich objektive Geltung habe, außer acht gelassen. Der subjektive Ursprung dieser Anschauungsformen hindere nicht, daß ihnen etwas in den Dingen entspreche *). Für die Entscheidung der Frage kommt alles auf die Art der Beweisführung an. Ist das Dilemma richtig: sub- jektiv oder objektiv, und befinden sich die beiden Glieder in kontradiktorischem Gegensatz, so folgt aus der Wahrheit des einen die Falschheit des anderen, also aus dem Urteil: subjektiv das andere : nicht objektiv. Dies trifft aber nur zu, wenn beide Prädikate einander völlig ausschließen, d. h. 1) N. Kr. II, 197 f. Fries bemerkt dann zweitens noch, dieselbe Einwendung diene auch unter dem Vorwand des Skeptizismus den- jenigen, die sich nur mit den Fehlern fremder Spekulationen unter- halten, weil sie zu träge seien, selbst etwas Besseres zu versuchen. 2) Trendelenburg, „Über eine Lücke in Kants Beweis von der ausschließenden Subjektivität des Raumes und der Zeit“. („Historische Beiträge zur Philosophie“) und Logische Untersuchungen 1. Aufl. 126 ff., zitiert nach Vaihinger Kommentar II, 289 ff., vgl. K. Fischer, Kant I* 391. Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 321 wenn subjektiv eo ipso = nicht- objektiv, und umge- kehrt ist; und tatsächlich ist der Beweis auch in diesem Sinne schon zu führen versucht worden. Bei der Kantischen Ableitung der Subjektivität aus der Apriorität aber, wo, wie Vaihinger1) einleuchtend ausführt, mit der Realitätsfrage die Ursprungsfrage sich verbindet, ist in diejenige Subjek- tivität, welche aus der Apriorität folgt, jener kontradikto- rische Gegensatz gegen die objektive Realität2 3) nicht mit- eingeschlossen, und es bleibt, wenigstens so wreit nur die Logik der Beweisführung in Betracht kommt, neben derselben die Möglichkeit einer von unserer Vorstellung unabhängigen Existenz. Allerdings müßte in diesem Fall bei der Über- einstimmung der Vorstellung mit dem davon unabhängigen Objekt eine vorausbestimmte Harmonie zwischen unseren Anschauungsformen und der wirklichen Welt angenommen werden. Gegen die daraus sich ergebende Möglichkeit des Präformationssystems hat Kant sich allerdings — in der Hauptstelle freilich nur mit Beziehung auf die Kate- gorien8) — ausdrücklich gewendet, mit der Begründung, daß in solchem Falle den Kategorien die ihrem Begriffe wesentliche Notwendigkeit mangeln würde, sofern sie dann nur auf einer beliebigen uns eingepflanzten Notwendigkeit, gewisse empirische Vorstellungen nach einer solchen Regel zu verbinden, beruhte4 * * *). In der für die ganze Kritik grund- legenden transzendentalen Ästhetik ist aber allerdings diese „dritte Möglichkeit“ nicht berücksichtigt. Schon Fries bezeichnet dies in den Ausführungen der Vorrede zur zweiten Auflage der Vernunftkritik als einen 1) a. a. O. 290 ff. 2) Im herkömmlichen transsubjektiven, nicht im Kantischen Sinne. 3) Nach Vaihinger, Kommentar II, 310 auch einmal direkt mit Beziehung auf Raum und Zeit in den „Losen Blättern aus Kants Nachlaß«, 1. H., 1889 S. 151 ff. vom 22. März 1780. 4) Kr. d. r. V. 682 f., vgl. auch den Brief au Herz vom 21. Fe- bruar 1772, S. W. XI, 27, wo Kant den in dieser harmonia praesta- bilita intellectualis auftretenden Deus ex machiuu das „ungereim- teste« nennt, „was man nur wählen kann«. Elsenbans, J. F. Fries und die Kao tische Erkenntnistheorie. 21 322 Kapitel VI. Fehler, „der ihm von allen am meisten bei Schülern und . Gegnern geschadet hat“. Er findet den eigentlichen Beweis- grund auch für die Idealität von Raum und Zeit in dem späteren grundlegenden Satze ausgedrückt: „es sind nur zwei Fälle möglich, unter denen synthetische Vorstellung und ihre Gegenstände Zusammentreffen können. Entweder wenn der Gegenstand die Vorstellung oder diese den Gegen- stand allein möglich macht“, und fährt dann fort: „diese Behauptung zugegeben, so ist der obige Beweis leicht ge- rechtfertigt. Aber eben diese Behauptung wird sich nicht rechtfertigen lassen. Woher wissen wir denn, ob nicht irgend eine dritte höhere Ursache möglich sei, welche die Übereinstimmung zwischen Vorstellung und ihrem Gegen- stand bestimmt, indem sie beide möglich macht? Wäre aber dies, so könnten allerdings die Dinge a priori so an- geschaut werden, wie sie an sich sind. Dieser Kantische Beweisgrund für die Idealität von Raum und Zeit wird also verworfen werden müssen“1). Nun habe ihn aber Kant nicht nur an die Spitze gestellt, sondern auch so nahe mit der ausführlichen Erläuterung seiner eigentümlichen Lehre, „daß die Sinnenwelt nur Erscheinungen und nicht die Dinge, wie sie an sich sind, zeige“, verbunden, daß die meisten das Glück dieser seiner ganzen Lehre vom Schicksal dieses Be- weises abhängig hielten. Allein dies letzte sei nicht der Fall. Und wenn nun Fries hinzufügt: „Seine (Kants) wahre Lehre vom transzendentalen Idealismus ist die Lehre von den Antinomien der Vernunft, dort sind mit großer Ausführ- lichkeit alle Erörterungen gegeben, durch welche er das Schicksal der Metaphysik für immer entschieden hat, diese Erörterungen allein müssen dem transzendentalen Idealis- mus zur Grundlage gegeben werden“, so hat er zweifellos denjenigen Punkt getroffen, der schon frühe in Kants Den- ken die idealistische Grundanschauung anbahnte. Schon in den 60er Jahren beschäftigt er sich damit2) und in einem 1) N. Kr. I, XXIV f. 2) Paulsen, Kant, S.209, der auf Erdmann, Reflexionen zu Kants Kritik II, XXXVI hinweist und zu zeigen sucht, daß der jetzigen Digitized by Google Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 323 Brief an Garve* 1 2 3 *) schreibt er: „Nicht die Untersuchung vom Dasein Gottes, der Unsterblichkeit etc. ist der Punkt ge- wesen, von dem ich ausgegangen bin, sondern die Anti- nomie der r. V.: Die Welt hat einen Anfang etc. bis zur vierten: Es ist Freyheit im Menschen, — gegen den: es ist keine Freyheit, sondern alles ist in ihm Naturnotwendig- keit. Diese war es, welche mich aus dem dogmatischen Schlummer zuerst aufweckte und zur Kritik der Vernunft selbst hintrieb, um das Skandal des scheinbaren Wider- spruchs mit ihr selbst zu heben.“ Auch in der Kritik der reinen Vernunft ist diese Bedeutung der Antinomien wenig- stens so weit gewahrt, daß auf den kritischen Nutzen der- selben hingewiesen wird, aus der Falschheit beider kontra- diktorischer Sätze, der Thesis (z. B. die Welt ist endlich) und der Antithesis (die Welt ist unendlich) die Unmöglichkeit einer an sich existierenden Welt und damit die transzendentale Idealität der Erscheinungen indirekt zu beweisen, „wenn jemand etwa an dem direkten Beweise in der transzenden- talen Ästhetik nicht genug hätte“ *). Fries kann sich also einigermaßen auf den aus seiner eigenen Entwicklung richtig verstandenen Kant berufen8), wenn er die Entscheidung über jene „dritte Möglichkeit“ einem jenseits der Fragen der Erfahrungsphilosophie lie- genden Gebiete zuschiebt, das für ihn dasjenige des spe- kulativen Glaubens wird. Wenn er aber schon am jetzigen Punkte der Untersuchung glaubt sagen zu können, unsere Vernunft habe in Rücksicht der Dinge an sich über das ein- zige Urteil hinaus, daß sie sind, nur negative Urteile über Darstellung der Antinomienlehre ein früher Zeit entstammender ur- sprünglich die ganze Dialektik umfassender Entwurf zugrunde liege, der erst später in das Schema der transzendentalen Logik ein- gefügt und zu den hypothetischen Schlüssen in Beziehung gesetzt wurde, um dann an die kategorischen und disjunktiven Schlüsse einen Teil seines Inhalts abzugeben. 1) Brief an Grave vom 21. Sept. 1798, Akadem. Ausg. XII, 255. 2) Kr. d. r. V. 411. 3) Wozu freilich die Art, wie Fries gelegentlich Kants Anti- nomienlehre beurteilt, in einem gewissen Gegensätze steht. 324 Kapitel VI. das, was sie nicht sind, so geht er damit doch über das hin- aus, was aus der bisherigen Beweisführung sich ergibt. Hier hat Kant die größere Vorsicht geübt, wenn er dem zum „Noumenon im negativen Verstände“, dem gedachten Ding an sich, von dem nur gesagt werden kann, daß es nicht Objekt unserer sinnlichen Anschauung ist, das „Noumenon in positiver Bedeutung“ gegenüberstellt, von dem aus- gesagt werden soll, daß es Objekt einer nicht-sinnlichen Anschauung sei, das aber als solches völlig problematisch bleibt1). Richtig ist dagegen bei Fries die Formulierung der Thesis, von der er ausgegangen war, „daß wir nicht voraus- setzen können, die Gegenstände unserer Erkenntnis seien an sich so beschaffen, wie wir sie anschauen“, und über deren Grenzen auch die Folgerung nicht hätte hinausgehen dürfen. Durch seinen Nachweis der Subjektivität aller Erkenntnis überhaupt hat Fries allerdings die Unrichtigkeit jener Voraussetzung als solcher, aber auch nicht mehr bewiesen. Über jene „dritte Möglichkeit“ ist damit noch nichts entschieden. Dies geschieht erst im weiteren Verlaufe. Denn jetzt erhebt sich allerdings die Frage: zeigt diese unsere Naturerkenntnis, von der wir bis jetzt nur wissen, daß sie uns die Dinge nicht so sehen läßt, wie sie an sich sind, nur Schein oder Erscheinungen? Gibt es eine, wenngleich beschränkte, oder gibt es gar keine tran- szendentale Wahrheit für unsere Vernunft? T) Der Glaube an die Realität schlechthin. Wer einmal die Unzulänglichkeit unserer Naturer- kenntnis eingesehen hat, läßt sich dann leicht verleiten, un- mittelbar nach der Idee des absolut Gewissen und der ab- soluten Wahrheit zu greifen und das Endliche als Trug und Täuschung ganz zu verwerfen, wie z. B. die Philo- sophie der intellektuellen Anschauung oder der Lehre vom Absoluten. Damit aber würden wir unvermeidlich alle 1) Kr. d. r. V. 684 f. Digitized by Google Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 325 Wahrheit für unsere Vernunft verloren geben. Unsere Theorie der Vernunft zeigte uns ja, daß wir gar keinen anderen Inhalt der Erkenntnis haben, als den aus der Sinnesanschauung stammenden. Was wir außerdem be- sitzen, ist nur die Form der Notwendigkeit und Einheit, die ohne jenen Inhalt eine leere bedeutungslose Form wäre. Sollen wir also von einem Ewigen, einem Sein der Dinge an sich sprechen können, so müssen wir auch dazu durch die Realität der Erfahrungserkenntnis gelangen und den Ideen die Erfahrung „gleichsam als Folie“ unterlegen. Wir werden unsere natürliche Ansicht der Dinge zwar als eine subjektiv bedingte Erkenntnisweise betrachten, welche infolge der Beschränktheit unseres Sinnes uns die Dinge nicht sehen läßt, wie sie an sich sind, wir werden ihr aber doch Zutrauen müssen, daß sie eine Erscheinung dieser Dinge enthält. „Wo Erscheinung ist, muß auch etwas sein, das erscheint; wenn wir also darin gleich nicht erkennen, was es ist, so erkennen wir doch, daß es ist, und könnten wir uns von der Beschränktheit unseres Wesens befreien, so hielten wir in der nämlichen Erkenntnis doch das Sein der Dinge, wie es an sich ist, fest“ 1). Welchen Standpunkt sollen wir nun aber wählen, um wirklich zu zeigen, daß unsere Naturerkenntnis nicht bloßerSchein sei, sondern daß ihr die höchste Re- alität zugrunde liege? Jedenfalls kann dies auch hier nicht so geschehen, daß wir etwa unmittelbar das Ewige in seiner Reinheit mit unserer Erkenntnis vergleichen wollten. Unserer Vernunft ist es ja nicht möglich, gleichsam aus sich selbst herauszutreten, um zum Gegenstand zu werden. Schon im Gebiete der Erfahrungserkenntnis konnten wir ja die Prinzipien ihrer Notwendigkeit in den Grundgesetzen der Natur nicht dadurch aufweisen, daß wir ihr Verhalten zu den Dingen selbst erhärteten, sondern dadurch, daß wir zeigten, jede menschliche Vernunft weiß ihrer Natur nach diese Gesetze und muß nach ihnen urteilen. Denselben Weg 1) N. Kr. II, 202, § 129. Digitized by Google 326 Kapitel VI. werden wir auch hinsichtlich der Giltigkeit der Ideen ein- zuschlagen haben. Wir werden also zeigen müssen, daß jede endliche Vernunft kraft der Organisation ihres Wesens notwendig an die ewige Realität des Seins an sich glaubt. Es verhält sich mit den Ideen nicht, wie etwa mit historischen Dingen unserer Naturerkenntnis, die der eine kennt, der andere nicht, wie z. B. der eine weiß, daß die Pallas am Himmel steht, und wie sie sich bewegt, der an- dere aber sich nicht darum kümmert. „In Rücksicht der Ideen kann nichts wahr sein, was nicht ein Jeder glaubt und in sich hat“ *), da die Wahrheit hier nicht vom anregen- den Sinne abhängt, sondern aus der Vernunft selbst ent- springt. Allerdings wird sich jeder Mensch dieses unver- meidlich in der unmittelbaren Erkenntnis seiner Vernunft liegenden Glaubens erst durch die Reflexion mittelbar be- wußt und dabei kann er dann Fehler der Selbstbeobachtung begehen und zu der Meinung kommen, er glaube von dem allem nichts, wiewohl dieser Glaube unmittelbar in ihm, wie in jedem andern liegt. Damit ist auch unserer Deduktion der Weg gewiesen. Kraft der Deduktion „müssen wir uns anheischig machen, jedem, der die Realität der Ideen leugnet, geradezu aufzu- weisen, nicht etwa nur, daß sie dennoch wirklich Realität ha- ben, sondern daß er selbst, er mag sagen, was er will, in der Tat doch auch ihre Realität glaube, und sich mit dem Gegenteil nur selbst täusche“ *). c) Der Gang der Deduktion der Ideen. Die Deduktion der Ideen selbst ergibt sich völlig aus unserer bisherigen Theorie der Vernunft. Eine vernünftige Erkenntniskraft, welche die Form der ursprünglichen Ein- heit und Notwendigkeit in sich hat, muß jede Realität der Erkenntnis, welche sie anerkennt, auf die voll- ständige Einheit und Notwendigkeit beziehen. 1) N. Kr. II, 204. 2) N. Kr. II, 204 f. Digitized by Google Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 327 Vermöge dieser ihr eigentümlichen Form hat also die Ver- nunft stets die vollendete Einheit in jedem ihrer Erkennt- nisse liegen und es bildet sich daher in ihr selbst jedem sinn- lich gegebenen noch so beschränkten materialen Bewußt- sein die Form einer unbedingten Realität derselben an, so daß auch der nur sinnlich angeregte Gehalt der wirk- lichen Erkenntnis in die ursprüngliche Einheit jener Grund- vorstellung fällt und daher als Erscheinung einer Rea- lität schlechthin angesehen werden muß. In jeder Vernunft liegt also kraft ihrer Vernünftigkeit ein spekulativer Glaube an das Sein ihrer Gegenstände an sich und die transzendentale Wahrheit ihrer Erkenntnis. Dem natürlichen Realismus des gemeinen Menschenver- standes erscheint daher jede idealistische Behauptung als lächerlich. Erst die Spekulation führt uns auf den Wider- streit zwischen der subjektiven Unvollendbarkeit der Natur und der Selbständigkeit des Wesens der Dinge, und dann bringen wir uns jenen spekulativen Glauben, das innerste Gesetz der Wahrheit unseres Geistes in den Ideen zum Be- wußtsein. Die Ideen sind also allerdings Eigentum der Re- flexion, aber von notwendiger Anwendbarkeit, da sie nichts anderes als der Ausdruck eben jenes innersten Gesetzes sind. Wir folgen dabei also den beiden schon früher er- wähnten Grundsätzen, subjektiv dem Grundsatz des Selbstvertrauens, welcher nur den spekulativen Glau- ben selbst als den tiefsten Grundgedanken unseres Bewußt- seins ausspricht, und objektiv dem Grundsatz der Vollen- dung: „Das Wesen der Dinge selbst ist unbeschränkt (ab- solut) und hat vollendete Einheit.“ Das oberste Gesetz der Einheit wird sich also als ein Gesetz der Vollständigkeit schlechthin dem gegebenen Ma- terial der Erkenntnis gegenüber geltend machen. Da aber die Form der Einheit am Empirisch -Anschaulichen stets eine Beschränkung zeigen muß, so kann die Vollständigkeit der idealen Einheit nur durch Verneinung jener Beschrän- kungen gedacht werden. Die oberste Form aller transzendentalen Ideen ist also Digitized by Google 328 Kapitel VI die Idee der Negation der Schranken, die Idee des Abso- luten, und das Charakteristische der idealen Vorstellungs- weise ist die Vorstellung des Realen durch verdoppelte Verneinung. Daraus ergeben sich dann von selbst die einzelnen Ideen, wie wir sie in der systematischen Über- sicht kennen gelernt haben *). Das für die gesamte Ideenlehre maßgebende Moment der Qualität ist bereits vertreten in der grundlegenden Idee des Absoluten, als des unbeschränkt Realen, wrelche durch die Zusammensetzung der drei Kategorien Realität, Verneinung, Beschränkung zustande kommt. Im Momente der Quantität fordern wir im Gegensätze gegen jede endliche Allheit absolute Totalität der Gegen- stände des Weltganzen als eine Allheit, die nicht wieder als Einheit in der Vielheit gedacht werden kann, das „Ein und All der vollendeten Größe“. Für die ideale Bestimmung der Modalität ergibt sich dem absolut Zufälligen der subjektiven Ansicht von den Dingen als Erscheinung die Idee der absoluten Notwen- digkeit oder der Ewigkeit als das Wesen der Dinge an sich selbst. In den Kategorien der Relation spricht sich die Be- schränkung aller Verhältnisse durch die Notwendigkeit aus. Die höchste Idee der Relation ist daher die Idee der Auf- hebung der Naturnotwendigkeit d. h. die Idee der Frei- heit. Innerhalb der durch das Gesetz der Wechselwirkung bestimmten und beschränkten Welt können wir für diese Idee nur eine intelligible Welt des Lebendigen in An- spruch nehmen, deren Wesen wir nur als Seele, deren Kraft wir als freien Willen, und deren Ordnung wir der Gottheit als der absoluten Ursache unterworfen zu denken haben2). d) Wissen, Glaube und „Ahndung“. Mit dieser Lehre vom negativen Ursprung der Ideen weiß sich Fries im schärfsten Gegensatz zum „spekulativen 1) Siebe oben S. 236 ff. 2) N. Kr. II, § 124 S. 181 ff., § 130 S. 206 f. Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 329 Rationalismus“, der im Absoluten das Prinzip alles Wissens und das Thema aller Philosophie finden will. Allerdings ist die Idee des Absoluten die höchste Form aller transzendentalen Ideen, und nichts scheint an sich positiver und befreiter von Negationen zu sein, als die Idee der uneingeschränkten absoluten Realität. Und doch ist für unser Bewußtsein eben diese Idee das Negativste, was wir denken können, da wir sie nur durch doppelte Verneinungen, durch Negation der Schranken erreichen. Weit gefehlt, der unmittelbare Quell aller Wahrheit zu sein, ist sie für sich allein als Idee betrachtet, nur ein mittelbares Produkt der Reflexion, das wir erst durch den Gegensatz gegen die gegebene Realität erzeugen können *). Die durch reine Negation entstandene für sich betrach- tet leere Idee bedarf daher der materialen Bestimmung, um Anwendung auf die wirkliche Welt finden zu können. Wie die Kategorien, so bedürfen auch die Ideen anschaulicher Bestimmungen, eines Schematismus, und zwar ist es, wie unsere systematische Übersicht gezeigt hat*) die sittliche Welt, welche dieses Schema liefert. Das Recht dieses sittlichen Schematismus ist nun aber aus der Deduktion selbst noch zu begründen. Für den Ursprung der Ideen war das Hauptmoment dasjenige der Qualität, für die Erfassung des Wesens der Dinge ist es die der Relation. Wir denken uns das Dasein der Welt als ein Ganzes unter den Gesetzen der Wechsel- wirkung. Die Verneinung der Schranken dieser Naturnot- wendigkeit ergab aber die Idee der Freiheit, und die Welt, unter der Idee der Freiheit gedacht, ist die intelli- gible Welt als Wechselwirkung zwischen freien Wesen. Die eigentümlichen Gesetze dieser Welt sind also diejenigen, welche Wert und Zweck der Dinge bestimmen. Erst durch das notwendige Wert- und Zweckgesetz d. h. durch das Pflichtgebot oder Sittengesetz wird die An- wendung der Ideen möglich gemacht und ihnen mit der 1) N. Kr. II, 184 f. 2) S. obeu S. 243. Digitized by Google 380 Kapitel VI. Idee eines notwendigen Wertes, der persönlichen Würde des selbständigen Geistes erst ein eigent- licher Inhalt gegeben 1). Aber auch diese intelligible Welt ist nur eine der Er- scheinung angebildete Idee des Ewigen; auch sie kann so, wie wir sie uns vorstellen, nicht an sich sein, sondern wir brauchen diese Idee nur als Regulativ für unsere Hand- lungen in der Erscheinungswelt, indem wir ihr im Blick auf die höchsten Zwecke folgen. Daher erheben wir uns, von jenem „Grundsatz der Vollendung“ geleitet noch über diese intelligible Welt zur Idee der Gottheit, in welcher die vollkommene Ordnung der Dinge ewig besteht, und daher die ideale Ansicht ihre Vollendung findet. Bildet die Grund- lage der logischen Ideen das Prinzip des spekulativen Glaubens, so bewegen wir uns mit dieser religiösen An- sicht der Dinge im Gebiete der Ahndung. So läßt sich von hier aus unsere ganze Erkenntnis überblicken, wie sie sich in drei Stufen erhebt. Wir schicken die aus dem Bisherigen sich ergebenden drei wichtigsten Sätze unserer Welterkenntnis, die Fries „die modalischen Grundsätze unserer idealen An- sicht der Dinge“ nennt, voraus: 1) Die Sinnen weit unter Naturgesetzen ist nur Er- scheinung. 2) Der Erscheinung liegt ein Sein der Dinge an sich zugrunde. 3) Die Sinnen weit ist die Erscheinung der Welt der Dinge an sich. Der erste dieser Grundsätze ist das Prinzip des Wis- sens, der zweite das Prinzip des Glaubens, der dritte das Prinzip der Ahndung. Das Wissen oder die Erkenntnis der Sinnenwelt liefert uns nur die endliche Wahrheit einer beschränkten mensch- lichen Vorstellungsweise von den Dingen. Durch das Wissen gelangen wir zur natürlichen Ansicht der Dinge, wie 1) Metaph. 480 f., 476; N. Kr. II, 219. Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 331 sie sich nach Materie und Geist in äußere und innere Physik gliedert und durch die synthetische Funktion der reinen Naturbegriffe zur Allgemeingiltigkeit erhoben wird. Wir glauben an die ewige Wahrheit und ein ewiges Wesen der Dinge an sich, welches unabhängig von Raum, Zeit und Zahl, unabhängig von Natur und Schicksal statt- • • findet. Glaube in diesem Sinn ist eine Überzeugung der Vernunft a priori, welche dem Menschen nur im reinen Denken durch logische Ideen zu klarem Bewußtsein kommt. Wir gelangen durch sie zur idealen Ansicht der Dinge, die in der sittlichen Ansicht der intelligiblen Welt ihren eigentlichen und wertvollen Inhalt findet. Da aber das im Glauben liegende Prinzip der ewigen Wahrheit für die Gegenstände der Sinnen weit in den unend- lichen Begriffen der logischen Ideen nur so seinen Ausdruck finden kann, daß wir die Schranken der Erscheinung als für das wahre Wesen der Dinge ungiltig erklären1), so wird hier das ewige Sein jener Gegenstände nicht erschlossen, sondern nur vorausgesetzt, und wir bedürfen daher einer eigentümlichen nur auffassenden Beurteilung, in wel- cher der Voraussetzung des Glaubens gemäß, daß die Er- scheinung ewige Wahrheit in sich berge, die ewige Bedeu- tung der Erscheinungen anerkannt d. h. „geahndet“ wird. Dies geschieht in der Beurteilung der Dinge nach den ästhetischen Ideen des Erhabenen und Schönen, wTobei das Schönheitsgefühl durch Andacht, Gottergebenheit, Be- geisterung belebt wird. Wir gelangen dadurch zu der reli- giösen Ansicht der Dinge, in welcher das Vernunft- bedürfnis der absoluten Einheit durch die Idee der Gottheit 1) In dieser Entstehung der Ideen aus bloßer Negation lag dann für die Friesische Schule der Grund, „die Nichtigkeit der Dog- matik“ zu behaupten. Die notwendigen Glaubenswahrheiten liegen „in den religiösen Ideen unserer Vernunft“. Aus Ideen aber „gibt es keine Wissenschaft, denn aus Vorstellungen, die die Reflexion sich durch bloße Negation bildet, läßt sich nichts Positives ableiten“, E. F. Apelt, die Nichtigkeit der Dogmatik, Abhandlungen der Fries- sehen Schule von Apelt, Schlömilch etc. Leipzig 1847. Heft III, 156 f. 332 Kapitel VI. seine höchste Befriedigung findet1 2). Diese religiöse Ansicht fällt für Fries mit der höheren ästhetischen Ansicht zu- sammen. Er redet geradezu von der „religiösen ästhetischen Weltansicht“. Das gemeine Interesse der Geschmacks- urteile allerdings gründet sich nur auf die Anforderungen einer freien Unterhaltung. Das höhere Interesse des Ge- schmacks dagegen ist von religiösem Ursprung. Es ist auf nichts anderes gerichtet, als auf eine ästhetische Unter- ordnung der Natur unter die Religionsprinzipien des Glau- bens. Der hohe Wert, den wir dem Schönen geben, ent- springt aus der Verbindung desselben mit den Ideen der Vernunft. Wir gehen mit unserem ästhetischen Urteil auf eine eigene Gesetzgebung im Dasein der Dinge, indem wir das unendliche Spiel der Formen der Natur den Gesetzen des Schönen und Erhabenen unterworfen achten. Diese ästhe- tische Unterordnung der Natur oder vielmehr des Wesens der Dinge, wie es uns erscheint, unter die religiösen Ideen hat dann wieder zwei Gestalten. Entweder gehen wir von der natürlichen Ansicht der Dinge aus und beur- teilen diese nach ästhetischen Ideen in der Kunstanschau- ung der Natur; oder wir suchen eine bildliche Hypotypose der religiösen Ideen selbst in einer ästhetischen Sym- bolik8). Mit dieser dreifachen Deduktion erhalten zugleich die drei Gebiete, welche in unserer Gesamtübersicht der Deduk- tion anschließend an die Formen der ursprünglich formalen, materialen und transzendentalen Apperzeption zu unter- scheiden waren, ihre Rechtfertigung. Wenn sich dort aus dem obersten Verhältnis unserer Erkenntnis ergab, daß alle Erkenntnis a priori entweder unter die Idee der notwendigen Gesetzmäßigkeit im Dasein der Dinge, oder unter die Idee des höchsten Gutes oder unter die Idee der Schönheit ge- hören muß, so ist dies jetzt durch den Gang der Deduktion bestätigt worden. Es zeigt sich aber auch, daß die drei zugrunde liegen- 1) N. Kr. II, 209 f., 220 f. Metaph. § 93 S. 465 ff., 528. 2) N. Kr. III, § 248 S. 361 ff. Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft 833 den Überzeugungsweisen: Wissen, Glaube und Ahndung den ganz gleichen Grad notwendiger Gewißheit haben. „Weit gefehlt, daß reiner Vernunftglaube ein un- sichereres Fürwahrhalten sei, als das Wissen, so ist er gerade das Festeste, welches wir haben, indem er rein aus dem Wesen der Vernunft entspringt. Wir hätten eigentlich kein Wissen, wenn nicht schon ein Element des Vernunfts- glaubens, eine Überzeugung aus bloßer Vernunft ohne Sinn mit in ihm wäre.“ Auch der Ahndung gehört, obwohl sie hinsichtlich der Bestimmung ihres Gegenstandes auf Voll- ständigkeit verzichten muß, derselbe Grad der Sicherheit der Überzeugung, der sich hier auf eine eigentümliche Gefühls- gewißheit gründet1). e) Die Bedeutung der Ideenlehre bei Fries und Kant. Damit erhält also die Ideenlehre bei Fries eine wesent- lich andere Stellung als bei Kant. Für Kant gibt es nur einen praktischen Glauben, und erst als Resultate der praktischen Vernunft gewinnen daher die Ideen reale Be- deutung. Für Fries gibt es einen spekulativen Glauben, auf welchen eine aus den Kategorien durch doppelte Ver- neinung entstandene Ideenlehre sich gründen kann. Die wesentliche Differenz führt auch hier auf die verschiedene Auffassung des Beweises in seinem Verhältnis zur Deduk- tion zurück, die wir wegen ihrer prinzipiellen Bedeutung für die wechselseitige Stellung beider Systeme oben eingehend untersucht haben. Kant verwarf die spekulative Giltigkeit der Ideen, weil sich aus spekulativer Vernunft kein Beweis für sie führen läßt, wie dies in der Deduktion der Kategorien geschehen konnte. Nach Fries gibt es weder für die Giltig- keit der Kategorien, noch für diejenige der Ideen einen Be- weis, für beide aber eine Deduktion im Sinne einer sub- jektiven Ableitung aus einer Theorie der Vernunft. Die von Kant geltend gemachten Widersprüche, in welche sich die Vernunft mit ihren Schlüssen auf das Unbedingte ver- 1) N. Kr. II, 96 f. Metaph. 472 f. 334 Kapitel VI. wickeln soll, zwischen dem Endlichen undünendlichen, dem Einfachen und Stetigen, der Freiheit und Natur, der Notwen- digkeit und Zufälligkeit entstehen nach Fries nur dadurch, daß man unmittelbar nach der Idee des Unbedingten die ab- solute Vollständigkeit einer Welt unter Naturgesetzen denken und die Idee auf die unvollendbaren Reihen der Mathematik selbst anwenden wollte, anstatt sie diesen ent- gegenzusetzen. In der Lösung dieser Widersprüche im einzelnen schließt sich Fries an Kant an, indem er in den mathematischen Antinomien sowohl Thesis als Antithesis für falsch erklärt, für die dynamischen aber nur einen scheinbaren Widerspruch gelten läßt, sofern die Antithesen für die Welt der Erscheinungen, die Thesen für die ewige Ordnung der Dinge gelten können1). Aber für Fries be- deutet dieser Widerstreit etwas anderes. Er ist nur da« Korrelat zu der doppelten Verneinung, aus welcher die Ideen entstehen. Die Giltigkeit derselben wird dadurch nicht angefochten, da dieselbe nicht auf derartigen Be- weisen, sondern auf ihrem Vorhandensein im menschlichen Geiste als spekulativem Glauben beruht. So wird Kants „transzendentaler Schein“ bei Fries zur subjektiven Wahrheit, deren Kriterium ihr Verhältnis zur transzendentalen Apperzeption ist. Eine andere Wahrheit aber kann für unsere Erkenntnis nicht in Betracht kommen. Die Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstände ist überhaupt gar kein Thema einer wissenschaftlichen Untersuchung. Man würde damit eine Theorie der Möglichkeit des Erkennens fordern. Die Mög- lichkeit des Erkennens ist aber kein Thema für irgend eine Theorie. Schon deshalb nicht, weil das Erkennen nur als Qualität in der inneren Erfahrung vorkommt, während doch nur quantitative Verhältnisse Thema einer Theorie werden können. Für Qualitäten, vollends für innere Qualitäten, gibt es überhaupt keine Theorie2). Nach Fries verwarf Kant die spekulative Giltigkeit 1) N. Kr. II, 215 f., 211 f. 2) N. Kr. II, 213. Digitized by Google Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 38b der Ideen, weil sich aus spekulativer Vernunft kein Beweis für sie führen läßt. Aber hat Kant nicht den Ideen auch innerhalb der spekulativen Vernunft eine gewisse Bedeu- tung zugebilligt, indem er sie als regulative Prinzipien gel- ten ließ, und wie verhält sich dazu die Lehre von Fries? Dies führt uns auf den letzten Punkt, die Deduktion der re- gulativen Prinzipien, der sich kurz zusammenfassen läßt. 6. Die Deduktion der regulativen Prinzipien. a) Die Stellung der regulativen Prinzipien bei Fries und Kant. Der bisherige Gang unserer Deduktion hat sich über die Prinzipien der Metaphysik der Natur und über die Prin- zipien'der spekulativen Ideenlehre erstreckt. Zwei Arten von Prinzipien traten uns damit entgegen, denen wir die Dinge unterordnen müssen. Diese Unterordnung selbst aber ist, wie stets die Unterordnung des Falles unter eine Regel, Sache der Urteilskraft. Die Prinzipien der Urteils- kraft werden uns daher zeigen, wie bei jener Unterordnung der Dinge unter die Prinzipien der Natur und der Idee und insbesondere bei dem unvermeidlichen Widerstreit der- selben zu verfahren ist. Sie werden uns methodische An- leitung geben und in ihren wichtigsten Sätzen aus den Prinzipien der natürlichen und der idealen Weltansicht selbst und aus ihrem gegenseitigen Verhältnis abzuleiten sein1). Fries nennt nun ein Prinzip konstitutiv, „wenn es, so- bald es gegeben ist, sich selbst den Fall seiner Anwendung bestimmt, so daß die subsumierende Urteilskraft im- stande ist, aus ihm Wissenschaft in theoretischer Form zu entwickeln“, regulativ nennt er ein Prinzip, wenn „die reflektierende Urteilskraft erst zu ihm hinzu den Fall der Anwendung und seine konstitutive Bestimmung suchen muß“ 8). 1) N. Kr. II, 143 f., 294. 2) N. Kr. II, 295. Digitized by Google 336 Kapitel VI. Nun ist allerdings jedes mathematische Prinzip un- mittelbar konstitutiv, aber bei der metaphysischen Beur- teilung handelt es sich stets um regulative Prinzipien. Jedes philosophische Prinzip überhaupt ist zunächst ein regula- tives und kann nur dadurch konstitutiv werden, daß wir es mathematisch zu bestimmen imstande sind. Das sinnlich Gegebene ist den allgemeinen Formen der Einheit gegen- über, durch welche wir sie philosophisch fassen wollen, nur ein zufälliges. Wir gehen daher gewöhnlich von dem Zu- fälligen, Besonderen aus, um Regeln zu gewinnen d. h. wir bedienen uns der Induktion. Und nun erinnern wir uns aus der Lehre von der Induktion der Unselbständigkeit die- ses Verfahrens, der Notwendigkeit, die Induktion durch Ma- ximen zu leiten, und erkennen die regulativen Prin- zipien als die Maximen der reflektierenden Ur- teilskraft, welche für die Induktion die leitenden Regeln abgeben. Am einleuchtendsten ist dies bei den heuristi- schen Maximen, die positiv dazu dienen, um Induktionen für ein gegebenes Mannigfaltiges zu leiten. Ein Beispiel wird dies deutlicher machen. „An der Spitze des Systems einer jeden theoretischen Naturlehrc steht eine mathematische Physik, welche sich aus konstitu tiven Gesetzen entwickelt. So weit wir aber auch diese Entwicklung fortsetzen mögen, so bleiben wir doch dabei immer bei einer Wissenschaft allgemeiner Gesetze, ohne je das Individuelle einer einzelnen Geschichte (z. B. unseres Sonnensystems, der Erde; zu erreichen.“ Wollen wir daher umgekehrt „alles Einzelne der Geschichte als bedingt durch die allgemeinen Gesetze anerkennen, so schweben alle jene konstitutiven Gesetze doch nur als heuristische Maximen von unbestimmter Anwendung über dem Ganzen der Beob- achtung, und der Reichtum der Erfahrungswissenschaft ent- faltet sich nur einem Verfahren der Induktion, welche sich an die einzelne Beobachtung und Geschichte selbst an- schließt, wogegen die Spekulation immer trocken und leer bleibt, wiewohl sie alle Geschichte zu beherrschen wähnt“1). 1) N. Kr. II, 302. Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 337 Wir kommen also bei unseren Versuchen, von den obersten Prinzipien aus vorwärts das System zu entwickeln, indem wir jede Komplexion selbst aus ihren Elementen zusammen- stellen, immer nur bis an eine bestimmte Grenze 1 ), wo uns die Zusammensetzung der Komplexionen zu groß wird; schlagen dann den umgekehrten Weg vom Besonderen zum Allgemeinen ein und bedürfen nun der regulativen Prinzi- pien als heuristischer Maximen, welche die Induktion leiten. Damit wird von Fries den regulativen Prinzipien grundsätzlich eine andere Stellung zugewiesen als bei Kant. Nach Fries’ Meinung hat Kant in seiner Behandlung der re- gulativen Prinzipien im Anhang zur Dialektik der reinen Vernunft die Maximen des systematisierenden Verstandes mit den Ideen vermengt. Während diese Maximen die An- sprüche der Einheit an jedes wirklich gegebene Man- nigfaltige nach dem Momente der Urteilskraft enthalten, entspringt die Idee aus der höchsten Forderung der Einheit für jedes irgend zu gebende Mannigfaltige nach dem Momente der Vernunft. So kommt es auch, daß Kant die Idee der Seele, der Welt und der Gottheit, denen er „an- fangs alle Ansprüche konstitutiv abgesprochen hatte“, fälschlich wieder als physikalische Regulative anerkennt. Hätte er die Natur der systematisierenden Maximen er- kannt, so hätte er eingesehen, daß Jede regulative Ma- xime für die natürliche Ansicht der Dinge sich nur dem Grade nach in der Anwendung vom konstitutiven Gesetze unterscheidet, und eigentlich selbst noch als ein nur noch unbekanntes konstitutives Gesetz der Theorie zum Grunde liegt“ *). Anders verhält es sich allerdings mit den „idealen 1) Wie dieser methodologische Gedankengang bei Fries mit der bedeutsamen Kontroverse über das Verhältnis von Gesetzes- und Ereigniswissenschaft, nomothetischer und idiographischer Methode sich berührt, welche hauptsächlich durch Windelbands Rektorats- rede: »Geschichte und Naturwissenschaft“ und Rickerts „Grenzeu der naturwissenschaftlichen Begriffs bildung“ angeregt wurde, sei hier nur angedeutet. Wir werden auf diesen Punkt im kritisch- systematischen Teil dieses Werkes zurückzukommen haben. 2) N. Kr. II, 330, 307. Eisenbaus. J. F. Fries und die Kantische Erkenntnistheorie. 22 338 Kapitel VI. Regulativen“ , die von jenen „heuristischen Maximen“ der Urteilskraft zu unterscheiden sind. Aber auch sie dürfen nicht mit den Ideen zusammengeworfen werden, sondern sie sind methodologische Folgerungen aus der Ideenlehre. Das System der regulativen Prinzipien der Urteilskraft enthält also zwei Teile: die idealen Regulative und die heu- ristischen Maximen des Systems für die Natur. Die erste- ren sind die höchsten allumfassenden Regulative, während die Regeln der systematisierenden Urteilskraft sich dem er- sten idealen Regulativ unterordnen. Wir stellen daher die idealen Regulative voran *). b) Die idealen Regulative. Die idealen Regulative ergeben sich unter Berücksich- tigung des bisherigen Deduktionsverfahrens und der Erör- terung über die regulativen Prinzipien überhaupt unmittel- bar aus den uns bereits bekannten „drei modalischen Grund- sätzen der Ideenlehre“ : Die Welt unter Naturgesetzen ist nur Erscheinung (Wissen) ; der Erscheinung liegt ein Ding an sich zugrunde (Glauben); die Sinnenwelt ist die Erscheinung der Welt der Dinge an sich (Ahndung). Es sind die fol- genden : 1) a) Das Ziel der Wissenschaft für jede natürliche Ansicht der Dinge ist Theorie. 1) Fries bringt umgekehrt, nachdem in dem I. Kapitel eine „Übersicht aller regulativen Prinzipien der Urteilskraft“ gegeben ist, im II. Kap. „Die heuristischen Maximen der Urteilskraft“ (S. 309 ff.) und im III. Kap. „die idealen Regulative“. Da aber die heuristi- schen Maximen die idealen Regulative schon voraussetzen, bringt er bereits in der „Übersicht“ die wichtigsten „idealen Regulative“ (N. Kr. II, 301), so daß diese als die regulativen Prinzipien überhaupt erscheinen und in der späteren Behandlung der „idealen Regula- tive“ selbst eine Wiederholung (S. 316) unvermeidlich ist, wobei außerdem teils an die modalischen Grundsätze anschließend 3. teils 5 ideale Regulative gezählt werden. Die Koordination beider Arten regulativer Prinzipien ist überhaupt, wie auch aus obigen Ausführungen sich ergibt, logisch anfechtbar. Dem tatsächlichen Verhältnis beider trägt jedenfalls unsere Anordnung besser Rechnung. Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 839 b) Jede Theorie ist mathematisch, und geht auf ein unvollendbares Ganzes, so daß alle Erklärungen ohne einen ersten Anfang nur für die Entwicklungen einer fortlaufen- den Geschichte gegeben werden. Eine jede solche Theorie teilt sich in einen konstitutiven mathematischen Teil und einen empirisch regulativen nach heuristischen Maximen. c) Es gibt eine vollständige Theorie der äußeren Na- tur und innerlich eine Theorie der einzelnen Vernunft. 2) Die ideale Ansicht der Dinge ist ohne alle Theorie, aus spekulativen Ideen ist keine Theorie möglich. 3) Aller theoretischen Naturbeurteilung steht die ästhe- tische aus bloßen Gefühlen gegenüber als Eigentum der re- ligiösen Ansicht der Dinge *). Das wichtigste Prinzip unter allen ist die Scheidung des theoretischen und des idealen Gebietes in unserem Geiste. Die Vermengung von Theorie und Idee ist die Quelle aller Einseitigkeiten. In ihr liegt der Grund aller Streitigkeiten um Ideen und aller Irrtümer des gemeinen Lebens über sie und über die Religion. In ihr hat alle mythologische Religionslehre ebenso wie die sublimste Metaphysik ihre Wurzel. Man will seinen Glauben keiner Theorie preisgeben, verwirft deshalb auch alle spekulative Erkenntnis, die man damit vermengt, und überliefert sich eben damit dem Aberglauben. Oder man traut der Theorie mehr zu, stellt aber durchaus falsche Forderungen an sie, indem man die religiöse Ansicht der Dinge als höchste Theorie an die Spitze der physikalischen Erklärung stellt. Dieser Mißgriff ist im gemeinen protestantischen Religions- unterricht ebenso nachzuweisen, wie im künstlichsten philo- sophischen System der Dogmatik. Man begnügt sich z. B. nicht damit neben aller Theorie den Glauben an die Ewig- keit des menschlichen Wesens und die Freiheit des Willens 1) N. Kr. II, § 168 S. 316 f. Die fünf oben wörtlich aufgeführ- ten Regulative sind bei Fries an dieser Stelle mit 1)— 5) koordiniert. Wir gliedern in obiger Weise und bringen die Einteilung dadurch mit der Aufführung von nur drei Regulativen S. 301 und mit der Ableitung derselben aus drei modalischen Grundsätzen in Einklang. 340 Kapitel VI. festgestellt zu sehen, sondern man will diese Ideen wieder als Anfänge einer höheren Theorie gebrauchen, in welcher etwa aus der Idee der Freiheit die ganze Geschichte der menschlichen Handlungen, die Organisation des Charakters, die Theorie des Sündenfalls und der Wiederversöhnung mit Gott erklärend abgeleitet werden soll, ähnlich wie der Blitz aus den Gesetzen der Elektrizität. Man gesteht zwar ein, daß dies alles Geheimnisse der Religion seien, aber man hört doch nicht auf, in Bildern eine Darstellung derselben zu versuchen, und meint doch immer, mit diesen Bildern noch etwas darüber gesagt zu haben. Spekulativere Köpfe wollen uns gar das wahre Wesen der Dinge, wie Spinoza, aus der Idee der Gottheit, oder, wie Fichte und Schelling, aus der Idee der Welt begreifen lehren. Dagegen vertreten die Regulative stets einerseits die rechtmäßigen Ansprüche der mathematischen Theorie, und andererseits die Forderung, alle Idee von theoretischen Ex- positionen streng zu sondern 1). Fries sucht dies polemisch an einem „noch geltenden“ spekulativen System, an demjenigen Schellings nachzu- weisen. Ein Punkt aus dieser Polemik mag dazu dienen, das Charakteristische seiner methodologischen Forderungen noch deutlicher hervorzuheben. Schelling verwechselt das Ideale mit dem Natürlichen, indem er die Maximen, welche ihm vorschweben und die doch alle mathematisch oder gar nur empirisch physikalisch sind, für rein philosophisch hält. Er meint z. B. das Gesetz der Duplizität aus dem höchsten Gegensatz des Subjektiven und Objektiven in der absoluten Identität der Selbsterkennt- nis der absoluten Vernunft abgeleitet zu haben. „In seiner wirklichen Naturphilosophie ist es aber gar nicht von so hoher Abkunft, sondern da ist es nur das Schema der ma- thematischen Entgegensetzung positiver und negativer Größen in dem Bilde der entgegengesetzten Richtungen auf einer geraden Linie, und physikalische Bedeutung be- kommt es ganz empirisch durch die Entgegensetzung zwei 1) N. Kr. II, 317 f., 299 f. Digilized by Google Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 341 solcher Größen, durch den Konflikt zweier entgegengesetzter Kräfte im Lichte, welche sich bald als -j-M und — M, bald als +E und — E, bald als -|-0 und —0 einander entgegen- treten sollen“ *). Die Grundlage dieser ganzen Lehre ist die absolute Einheit, die absolute Identität und Totalität, welche als das konstituierende Prinzip alles unseres Wissens vor- ausgesetzt wird. Aber dieses Prinzip ist nichts anderes als die leere Grundvorstellung der Einheit und Notwendigkeit ohne einen Gehalt. Damit verbindet sich dann der andere Fehler, durch welchen alle Vorteile der kritischen Lehre vom Unterschied der Erscheinung und des Seins an sich wieder verloren gehen, daß nämlich der Philosoph in diesem absoluten Wissen um die Identität das Ansich der Dinge wissenschaftlich zu erreichen wähnt, und damit gerade in die Theorie, d. h. in die Gesetze der notwendigen Einheit im Wesen der Dinge ihr ewiges Wesen setzt. Da er so die ab- solute Einheit an den Dingen selbst zu erkennen meint, wird unvermeidlich der Unterschied der Welt und der Gottheit verloren, und die Gottheit wird das Sein der Dinge selbst*). Statt eines solchen Versuches, das System der äußeren Natur von der Idee aus zu beherrschen, der mit Notwendig- keit zur Vermengung mit einer mythologischen Religions- lehre führt, fordern wir für jede natürliche Ansicht der Dinge Theorie in strengster Bedeutung, und zwar eben im Gegensätze gegen die ideale Ansicht, eine Theorie, wie wir sie in höchster Vollendung in Laplaces Mechanik des Himmels1 2 3) besitzen, während das chemische und physiolo- gische Gegenstück dazu, auf welches die Wissenschaft gleich gerechte Ansprüche hat4), noch fehlt. Allerdings muß sich 1) N. Kr. II, 319 f., vgl. dazu F. W. J. Schclling, System des transzendentalen Idealismus, Tübingen 1800, S. 86 ff. und 1 82 ff. 2) N. Kr. II, 33a 334 f. 3) Selbst für den Kantianer ist Kants mindestens eben so ge- niale „Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels* von 1755, die durch ein widriges Geschick 90 Jahre fast unbekannt blieb, nicht vorhanden. 4) Es ist bemerkenswert, mit welcher Schürfe Fries hier das Programm der modernen Naturwissenschaft bezeichnet. Digitlzed by Google 342 Kapitel VI. jede physische Theorie darauf beschränken, „die Verhält- nisse einzelner Teile aus einer unendlichen Geschichte zu erklären“. Auf Totalität ihres Ganzen darf sie nie Anspruch machen, denn eben diese denken wir nur nach Ideen, die aber für die physikalische Theorie von gar keinem Ge- brauch sind. Dagegen ist ein anderer Gebrauch der Ideen für die Vollendung unserer Weltansicht unentbehrlich; und damit vergegenwärtigen wir uns die Bedeutung des aus dem dritten „modalischen Grundsatz“ folgenden idealen Regulativs: „Aller theoretischen Naturbeurteilung aus Begriffen steht die ästhetische aus bloßen Gefühlen gegenüber als Eigentum der religiösen Ansicht der Dinge.“ Die nur aus der Ver- neinung der Schranken gebildeten transzendentalen Ideen- formen lassen uns nichts Positives erkennen, sondern die- nen nur, um das wahre Wesen der Dinge als ein Anderes zu denken, denn das beschränkte Wesen der Natur. Die positiven Gesetze der ewigen Ordnung und das Verhältnis des ewigen Wesens zur endlichen Ansicht unserer Vernunft sind unüberwindliche Geheimnisse für die endliche Ver- nunft, und sie offenbaren sich nur der Ahndung d. h. einer aller Theorie entgegengesetzten Beurteilungsweise aus bloßen Gefühlen. An die Stelle der theoretischen Unter- ordnung aller Anschauung unter die mathematischen Ge- setze der Physik tritt nun die der religiösen Ansicht eigen- tümliche ästhetische Unterordnung derselben Anschau- ung unter die Ideen, bei welcher die Urteilskraft in ihren Gefühlen nur von unaussprechlichen Begriffen gelei- tet werden kann. „Es gibt also allerdings in unserem Geiste eine Region der Überzeugung über alle Wissenschaft hin- aus; sie ist aber nicht die Erkenntnis von den Ideen, son- dern die Erkenntnis aus den Ideen, als Prinzipien“ *)• c) Die heuri stischen Maximen der Urteilskraft. Die aus dem ersten „modalischen Grundsatz der Ideen- lehre“ folgenden Regulative fordern mathematische Theorie 1) N. Kr. II, 337, 339. Digitized by Google Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 348 für die ganze natürliche Ansicht der Dinge. Aus der Durch- führung dieser Forderung, die gelegentlich auch als erstes ideales Regulativ zusamni engefaßt wird, ergeben sich die „heuristischen Maximen der Urteilskraft“, die wir noch kurz zu charakterisieren haben. Die Ausbildung dieser Maximen erfolgt nach dem lo- gischen System. Jedes logische System aber fordert ein System von Begriffen in Definitionen und Einteilungen und ein System von Urteilen, das auf den Beweis sich gründet. Dabei machen sich in beiden Systemformen als entgegen- gesetzte Tendenzen die vom Rationalismus vertretenen An- sprüche des Verstandes und die vom Empirismus vertre- tenen Ansprüche des Sinnes geltend. So stehen sich in aller Naturwissenschaft Systematiker und Historiker, Theo- retiker und Empiriker einander gegenüber. Der darin liegende Gegensatz führt zu Maximen der Einheit und Maximen der Mannigfaltigkeit, die aber nicht in ihrer Einseitigkeit, sondern nebeneinander und in Verbindung miteinander zur Verwendung kommen müssen1 2 * * *). Was zunächst die Klassifikation nach Begriffen be- trifft, so machen in empirischer Anthropologie, Experimen- talphysik und Naturgeschichte die beiden Maximen der Homogenität alles Ungleichartigen und der Spezifika- tion9) ins Unendliche nebeneinander ihre Rechte geltend, da alles irgend gegebene Mannigfaltige der systematischen Einheit unterzuordnen ist, das Individuelle der einzelnen Form aber durch eine beschreibende Zusammensetzung aus Begriffen nie erreicht werden kann, sondern jedesmal daneben der Anschauung bedarf. Sehen wir also Buffon und Linnö über die Ansprüche der Klassifikation an die Naturgeschichte streiten, so gehört dieser Streit nicht in die Wissenschaft. Denn in der Wissenschaft stehen beide ent- 1) N. Kr. II, 309, 297. 2) Diese Prinzipien, die wir bei der Deduktion der analytischen Einheit kennen gelernt haben, treten nun hier als regulative Prin- zipien auf, sofern sie methodische Anleitung für die Unterordnung der Dinge unter die Formen des Denkens geben. 344 Kapitel VI. gegengesetzte Verfahrungsarten notwendig nebeneinander für jeden Teil der Naturwissenschaft, der sich nicht zu einer konstitutiven Theorie eignet, also der regulativen Prinzipien bedarf. Neben der Homogenität und Spezifikation ist uns bei der quantitativen Bestimmung der logischen Formen als drittes Moment das Gesetz der Stetigkeit begegnet. Dies würde auf die Maxime einer Stufenleiter der Wesen führen, die aber Fries aus den früher angeführten Gründen für die wirkliche Naturerkenntnis nicht gelten läßt. Der Regel der logischen Stetigkeit soll vielmehr „nach einem Ausdruck von Bätsch eine netzförmige Verbindung von Art zu Art“ entsprechen, „iudem die Verzweigungen jedes Stammes von Begriffen sich in dem Wirklichen der Natur auf mannigfal- tige Weise einander durchkreuzen“ *). Was zweitens den Beweis im System der Urteile be- trifft, so soll nach der Maxime des Theoretikers alles Beson- dere aus dem übergeordneten Allgemeinen begriffen wer- den, nach derjenigen des Empirikers aber aller Wert in der reinen Tatsache liegen, die bei der Unzulänglichkeit der logischen Erkenntnis für sich allein jedesmal nur durch Wahrnehmung auszu mittein ist. Die Einseitigkeit beider tritt am deutlichsten hervor an dem Verhältnis, in welchem bei dem Versuche, richtige Induktionen zu erhalten, die heuristischen Maximen zur Beobachtung stehen. Der Em- pirismus wird fehlerhaft, wenn er Induktionen sucht ohne leitende Maximen“). Ohne alles Prinzip sind seine Regeln nur nach der Wahrheit der Fälle und nach zufälligen Ge- wohnheiten zusammengelesen. So tadelt z. B. der Arzt das Heilverfahren eines bloßen Empirikers, der seine Mittel ins unbestimmte hinein nur deshalb anwendet, weil sie schon oft gute Dienste taten oder weil sie bei bestimmten einzel- nen Symptomen oft gute Dienste taten. Auch der rationell verfahrende Arzt verwendet allerdings die Induktion, aber seine theoretische Wissenschaft liefert ihm leitende Ma- 1) N. Kr. II, 309 f. 2) Vgl. dazu das oben (S. 197 ff.) über die Methode der Induk- tion Gesagte. Digitized by Google Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 345 ximen, welche, wenn er sie auch nicht zu konstitutiven Ge- setzen einer den Vorzug bestimmter Mittel erklärenden Theorie zu erheben vermag, doch seiner Induktion Sicher- heit geben. Andererseits liegt der Fehler eines falschen Theoretisierens darin, daß man, statt sich mit leitenden Ma- ximen für die Induktion zu begnügen, sich gewaltsam durch willkürliche Hypothesen konstitutiver Gesetze über den wahren Hergang der Sache bemächtigen will, die alle wei- teren Induktionen aus der Erfahrung entbehrlich machen sollen. Beispiele hierfür sind die atomistische Naturphilo- sophie mit der willkürlichen Grundgestalt ihrer absolut harten ersten Körperchen, die Kartesischen Theorien, Eulers Theorie des Magneten, alle gemeinen Hypothesen über die Bildung unseres Planetensystems, endlich die Theo- rien der Humoral- und Nervenpathologie. Wer richtig verfahren will, wird daher weder bloßen empirischen Zusammenstellungen folgen, noch konstitutive Hypothesen voraussetzen, sondern von der Empirie aus- gehend der leitenden Maximen als regulativer Prinzipien sich bedienen 1). Auch diese letzte Vorschrift ist nur eine Konsequenz der zweiten Regel des ersten idealen Regulativs, wonach jede Theorie für die natürliche Ansicht der Dinge sich in einen konstitutiven mathematischen und einen empirisch- regulativen nach heuristischen Maximen teilt. Die heu- ristischen Maximen der Urteilskraft erweisen sich damit wiederum als eine Unterabteilung oder als eine weitere Aus- führung der idealen Regulative. Denken wir uns auch die beiden anderen Regulative weiter ausgeführt, so bewegen vyir uns damit im Gebiete der praktischen Philosophie. Wir haben bisher nur die Wissenschaft vom Wahren behandelt, und wir hätten, wollten wir das ganze Gebiet der Philosophie ausmessen, noch die Wissenschaft vom Schönen 1) N. Kr. II, § 156 S. 309 ff. $46 Kapitel VI. und vom Guten zu suchen. Das Wissen selbst zwar leitete uns zu den Ideen und gab uns in diesen schon die Grundlage des Glaubens und der Ahndung. Wir erhielten durch die Ideen des Absoluten eine Vorstellung von einer Welt des Seins an sich, welche sich uns zu einer intelligibeln Welt unter einer ewigen Ordnung der Dinge gestaltete. So hat uns zwar die spekulative Philosophie bereits die ganze Grundlage unserer Glaubensüberzeugungen gegeben, aber dieses Ganze ist kalt und tot ohne die Anwendung1). Nur der Gedanke einer ewigen Ordnung der Dinge ist es, durch den wir diese höhere Welt Zusammenhalten, ohne noch das Gesetz dieser ewigen Ordnung selbst zu erkennen. Die praktische Philosophie ist es, welche uns diese leeren For- men, diese bloßen Ideen einer Negation des Endlichen mit Leben erfüllen soll, und sie gibt uns dieses belebende Prin- zip auch wirklich in einem einzigen Worte, durch welches We- sen und Gehalt der intelligibeln Welt bestimmt wird: in dem entscheidenden Worte der Würde oder des absoluten Wertes. Würde der Person, als Gesetz in die ewige Ord- nung der Dinge eingetragen, ist das alleinige Thema aller praktischen Philosophie2). Wir haben diesen Gedankengang nicht bis in Fries’ praktische Philosophie hinein zu verfolgen. Aber auch hier wie im Gesamtaufbau dieses seines kritischen Systems bis zum letzten Abschnitt über die regulativen Prinzipien tritt uns als besonders charakteristisches Merkmal die Schärfe entgegen, mit welcher er die ideale Ansicht der Dinge von der natürlichen, die Ideen von der Theorie, die inhaltlichen Prinzipien der praktischen Philo- sophie von den Formprinzipien der theoretischen scheidet. Zwischen Kants spekulative und praktische Vernunft tritt bei Fries die Welt der Ideen, die auf spe- kulativen Glauben sich gründet, aber diese selbst samt den Prinzipien der praktischen Philosophie, welche ihnen erst lebendigen Inhalt geben, gehören wie bei Kant einer 1) N. Kr. III, Einleitung. 2) N. Kr. II, 5 Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft. 347 völlig anderen „Überzeugungsweise“ an. Neben der Welt des Wissens steht die des Glaubens und der Ahndung. Die Art, wie Fries dieser Welt des Idealen ihr eigenes Recht sichert, ist durch sein ganzes Verfahren wesentlich modifiziert, wobei das Verhältnis von Reflexion und un- mittelbarer Erkenntnis, seine anthropologischen Grundprin- zipien und sein subjektivistischer Standpunkt die maßgebende Rolle spielen. Aber in der Konsequenz, mit welcher er das Recht der Theorie bis aufs äußerste verficht, um aus dieser selbst heraus ihr Gebiet kritisch abzugrenzen und für eine Überzeugung anderer Art Raum zu schaffen, bleibt er ein echter Schüler Kants, und ist sich mit Recht bewußt, die Aufklärung aus ihren eigenen Prinzipien heraus zu über- winden, wenn er den zweiten Teil seiner Vernunftkritik mit den Worten schließt, die ein ernstes weit über seine Zeit hin- ausreichendes Zukunftsprogramm der Philosophie enthalten : „Ihr scheltet ein Zeitalter der Aufklärung, von dem ihr meint, es gehe vorüber. Was war anders der Fehler dieses Zeitalters als eine unbegrenzte Sucht nach Theorie, welche sich selbst nicht verstand. Wem anders haben wir unsere protestan- tische Kälte und Mangel an Religiosität zu danken, als dem Verlangen, auch das Religiöse mit Theorien zu beherrschen? Dies zeigte sich als Reflexion ; nun gebt ihr der Reflexion selbst die Schuld, welche nur ihrer falschen Anwendung gehört, und wollt euch verbessern, indem ihr die Reflexion von euch werft. Ihr irrt euch gewaltig. Dadurch zwingt man sie nicht. Wer einmal angefangen hat, ihr zu folgen, wird nicht eher wieder gesund, bis er ihr Werk rein zu Ende geführt und dadurch begriffen hat, welches das Ge- biet der Wissenschaft in unserem Geiste sei, und welches das der Ideen.“ Digitized by Google Carl Georgi, Üniversitäts-Buchdruckerei in Bonn. Th. Elsenhans Fries und Kant Digitized by Google Fries und Kant Ein Beitrag zur Geschichte und zur systematischen Grundlegung der Erkenntnistheorie von Dr. Theodor Elsenhans Priv&tdozent der Philosophie an der Universität Heidelberg II. Kritisch-Systematischer Teil Grundlegung der Erkenntnistheorie als Ergebnis einer Auseinandersetzung mit Kant vom Standpunkte der Friesischen Problemstellung Alfred Töpelmann (vormals J. Ricker’sche Verlagsbuchhandlung) Giessen 1906 Inhaltsübersicht des II. Teils. Einleitung Die charakteristischen Hauptpunkte der Friesischen Philosophie 1 Ihre Wurzel im Kantischen System 2 Ihre Beziehung zu gewissen Hauptfragen der gegen- wärtigen Erkenntnistheorie 2. Kapitel I: Die Voraussetzungen der Erkennt- nistheorie Die „unmittelbare Erkenntnis“ als Voraussetzung bei Fries 4 ihre Irrtumslosigkeit 4 Die prinzipielle Be- deutung dieser Annahme 6 Die Notwendigkeit einer Untersuchung der Voraussetzungen der Erkenntnis- theorie 7 Die „Voraussetzungslosigkeit“ der Wissen- schaft 7 Orientierung an Kant 8. A. Die psychologischen Voraussetzungen der Er- kenntnistheorie I. Die psychologischen Voraussetzungen Kants . . Kants psychologische Voraussetzungen 9 Versuche einer Beseitigung derselben 10 Kant und die Wolffsche Psychologie 11 Fries 11. II. Die Unentbehrlichkeit psychologischer Voraus- setzungen für die Erkenntnistheorie Die psychologischen Wortbedeutungen und die Not- wendigkeit ihrer genauen Definition 12 Der Empirio- kritizismus und der „natürliche Weltbegriff“ 13 Die „Introjektion“14DiepsychologischenVoraussctzungen der „empiriokritischen Prinzipalkoordination“ 15. III. Der in den psychologischen Voraussetzungen der Erkenntnistheorie liegende Zirkel Der Zirkel 17 Konsequenzen hinsichtlich der Haupt- aufgaben der Erkenntnistheorie 18. VI Inhaltsübersicht des II. Teils. Seite B. Die logischen Voraussetzungen der Erkenntnis- theorie 19 I. Die Bedeutung der formalen Logik für die Auf- findung der Verstandesbegriffe bei Kant und Fries 19 Kants formal-logischer Leitfaden für die Entdeckung der Verstandesbegriffe und seine Schwächen 19 Weiterführung desselben durch Fries 20. II. Die Sonderstellung der logischen Voraussetzungen gegenüber der Erkenntnistheorie 21 Die Annahme einer Untrennbarkeit der Logik und Erkenntnistheorie 21 Schuppe 21 Das liecht der Unterscheidung beider 22. III. Der in der wechselseitigen Abhängigkeit der Logik und der Erkenntnistheorie liegende Zirkel ... 23 Die Uebertragung des Einwurfs auf die Erkenntnis- theorie selbst 23. C. Die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen der Erkenntnistheorie 24 I. Die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen hin- sichtlich des Ausgangspunktes der Untersuchung 24 1. Das Erkennen als „Objekt“ 24 Kant 25 Das Erkennen des Erkennens bei Schopen- hauer 25 Die Frage nach den im Erkennen als „Objekt“ liegenden Voraussetzungen 26 Fries’ „un- mittelbare Erkenntnis“ 26. 2. Die „Erfahrung“ als Ausgangspunkt der Kan- tischen Erkenntnistheorie 27 Die Erfahrung als „Urtatsache“ 28 andere auf sie zurückführbare Voraussetzungen 28. 3. Der Sinn des Kantischen Erfahrungsbegriffs als der Grundvoraussetzung seiner Erkenntnistheorie 30 Die Erfahrung als der durch den Verstand bearbeitete Rohstoff der sinnlichen Eindrücke 31 Die gemeine Erfahrung als Ausgangspunkt 32. 4. Die Voraussetzung der objektiven Giltigkeit der „reinen Mathematik“ und „reinen Naturwissen- schaft“ in ihrem Verhältnis zur gemeinen Er- fahrung 32 „Reine Mathematik“ und „reine Naturwissenschaft“ als Faktum in den Prolegomena und in der 2. Aus- Inhaltsübersicht des II. Teils. gäbe der Kritik 32 Der „gemeinste Verstandes- gebrauch“ als letztes Beweismittel 35. 5. Der parallele Ausgangspunkt der Kritik der praktischen Vernunft und der Kritik der Urteils- kraft und die Basis des Kantischen Systems . . Der gemeinste praktische Vernunftgebrauch 37 Das Geschmacksurteil „jedermanns“ 39 Der gemeinsame Ausgangspunkt des Kantischen Systems 39. 6. Der Kantische Begriff des „Faktums“ nach seiner erkenntnistheoretischen Tragweite Das moralische Gesetz „gleichsam als ein Faktum der reinen Vernunft“ 41 Schopenhauer 41 Unterscheidung der wissenschaftlichen Formulierung und der Tat- sache 42 Der Sinn der Abweisung des Empirischen 43 Der Kantischo Tatsachenbegriff 44 Der Unterschied der Grundtatsachc der „Erfahrung“ von gewöhnlichen Tatsachen 46. 7. Allgemeinheit und Notwendigkeit als Prädikate der „Erfahrung“ Verschiedene Begriffe der Allgemeinheit 47. 8. Kants Begriff der „vernünftigen Wesen“ und seine erkenntnistheoretische Bedeutung . . . a) Die Menschengattung als Spezies „ver- nünftiger Wesen“ Die Menschengattuug als Spezies „vernünftiger Wesen“ 48 b) Das Geltungsgebiet der Anschauungsformen Die verschiedenen Möglichkeiten 50 Die metamatho- matischen Untersuchungen 50 Helmholtz über die geometrischen Axiome 50 Die Mannigfaltigkeiten von n Dimensionen 52 Kants Stellung zum drei- dimensionalen Raum 54 Die unmittelbare Vorstellungs- art der Gegenstände in der „intellektuellen An- schauung“ 55 Das „Noumenon in positiver Be deutung“ 56. c) Das Geltungsgebiet der Kategorien . . . Der anschauende Verstand 56 Das Verhältnis des Geltungsgebietes der Kategorien zu demjenigen der Anschauungsformen 57. d) Das Geltungsgebiet des moralischen Gesetzes Ausdehnung auf alle „vernünftigen Wesen“ 58 Ein- schränkung der imperativischen Form 58 Parallelis- mus des moralischen Gesetzes und der Verstaudes- formen 60 Schopenhauers Einwand 61. VII Beite 36 40 46 48 48 49 56 58 vm Inhaltsübersicht des II. Teils. Seite e) Kants Motive für die Verwendung des Be- griffs der „vernünftigen Wesen“ .... 62 Die Unabhängigkeit von der Anthropologie 62 Ver- hältnis zu Fries 63 Die Ausdehnung auf die „ver- nünftigen Wesen“ als Garantie der Allgemeingiltig- keit und des Gesetzescharakters 63 Die menschliche Sonderbeschaffenheit als etwas Zufälliges 65 Die * Gattungsorganisation vernünftiger Wesen als etwas Tatsächliches 66 Die darin liegende Einschränkung 67 f) Die Konsequenzen 67 Die unbedingte Allgemeingiltigkeit des Vernunft- notwendigen als ursprüngliche Voraussetzung 68. II. Die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen hin- sichtlich der Untersuchung selbst und der un- vermeidliche Zirkel der Erkenntnistheorie ... 70 Abgrenzung der Aufgabe 70. 1. Die Voraussetzungen der erkenntnistheoretischen Untersuchung als solcher und der daraus ent- stehende Zirkel 71 Die Voraussetzungen 71 Sextus Empirikus 71 Hegel 71. 2. Die Versuche einer Überwindung des erkenntnis- theoretischen Zirkels 72 Drei Möglichkeiten 72. a) Die Scheidung des Erkennens von der Er- kenntniskritik 73 Das Beispiel des Schwimmens 73 der Optik 73 Die Erkenntniskritik als etwas durchaus Einzigartiges 73 Kaut 74 Schopenhauer 76 Die Unvermeidlichkeit des Zirkels bei diesem Standpunkt 76. b) Der Verzicht auf die objektive Giltigkeit der beginnenden Untersuchung 77 Reinhold 77 Der Zirkel nur hinausgeschoben 77. e) Der Verzicht auf einen Beweis der objektiven Giltigkeit 78 Fichte 78 Die Deduktion in ihrem Gegensatz zum Beweis bei Fries 78 Ulrici und Grapengießer 80 Die Unbeweisbarkeit der AUgomeiugiltigkeit des Denk- notwondigen 80. III. Die erkonntnistheoretischcn Voraussetzungen hin- sichtlich der Mitteilbarkeit der Untersuchung . . 82 1. Das Verständnis der Wortbedeutungen ... 83 Der Vorgang der Deutung 83 Die Bedeutuugsvor- Digitized by Google Inhaltsübersicht des II. Teils. IX Seit« Stellungen 84 Die Voraussetzung eines Grundstockes übereinstimmender Bedeutungen 85. 2. Die Anerkennung der Begründung 86 Die Kantischo Idee eines „Gemeinsinnes“ 87 Die Mitteilbarkeit des Geschmacksurteils im Gegensatz zur Sinnesempfindung 88 Die Voraussetzung einer Gattungsorgauisation hinsichtlich der Sinnesempfin- dung, des Gefühlslebens, des Verhältnisses von Ein- bildungskraft und Verstand 89 eines sensus communis logicus 90 Die „idealische Norm“ und die Zufällig- keit der Organisation 91. Kapitel II: Die Methode der Erkenntnistheorie 93 Die Hauptpunkte 93. A. Das Kriterium der objektiven Giltigkeit .... 94 Objektive Giltigkeit uud Allgemeingiltigkeit 94 Das „Bewußtsein überhaupt“ 94 Das Kriterium der „Seins- giltigkeit“ 95. I. Das Evidenzgefühl als individuelles Erlebnis . . 96 Die Auffassung des Evideuzgefühls als des letzten Kriteriums 96. Ablehnung derselben durch Husserl 96 Das Individuum als Träger des Wahrheitserlebnisses 97 Die psychologische Bearbeitung desselben 97. II. Das EvidenzgeftihI als Maßstab der Allgemein- giltigkeit 98 Die Allgemeingiltigkeit als Ergebnis einer Induktion, Beneke 98 Fries’ Lehre von der Unzulänglichkeit der Induktion und von der unmittelbaren Erkenntnis 99 Die Evidenztheorie und der Skeptizismus 100. Die Möglichkeit einer Korrektur des individuellen Evidenzgefühls 101 Evidenzgefühle höherer und niederer Ordnung 102 Die Gefahr einer willkürlichen Verallgemeinerung des individuell Erlebten 102 Kant gegen „subjektive Notwendigkeit“ 102 Die unent- behrliche Voraussetzung einer gemeinsamen Organi- sation 104 Das Evidenzgefühl als unmittelbares Motiv 105 Der Vernunftglaube 105 Teleologische Gesichtspunkte 106. B. Die Methode der Untersuchung der Erkenntnis- prinzipien 107 Kants Stellung zu dem Problem 107 Kant über „Wissenschaftswissenschaft“ 108. X Inhaltsübersicht des II. Teils. Beite I. Kants grundsätzliche Ablehnung einer psycho- logischen Aufsuchung und Begründung der Er- kenntnisprinzipien und die Kritik von Fries . . 108 Die apriorische Begründung als ausschliessliche Quelle der Notwendigkeit 109 Strasosky 112 Rettungsver- suche der Anhänger von Fries, J. B. Meyer 113 Haupt- moment das „Empirische“ und „Zufällige“ am Psychologischen 114. Die Behauptung einer durchgreifenden Vermittlung Kants und Jakobis durch Fries 115 Mehrdeutig- keit des von Fries betonten Terminus „Transzen- dental“ 117 Die geschichtliche Notwendigkeit seiner Fragestellung 119. II. Kants tatsächliches Verfahren in der Aufsuchung der Erkenntnisprinzipien und die Versuche einer Ausschaltung des Empirischen 119 Die Auffindung der Kategorien durch Beobachtung nach Kant 120 Die Un Vollständigkeit dieses Ver- fahrens 120 Der empiristische Charakter desselben trotz des „Leitfadens“ 121 Das a priori nur a posteriori auffindbar 121. Andere Lösungs versuche; die Auffassung der Er- kenntnisprinzipien als psychologisch nicht analysier- barer Bowußtseinstatsachen, H. Cohen 122 Die Kon- statierung eines Gegensatzes zwischen rationaler und empirischer Bewußtseinswirklichkeit, E. Tröltsch 123 Der Unterschied der empirischen und der psycho- logischen Aufsuchung der Erkenntnispriuzipicn 125 Die ausschliesslich psychologische Methode eine Antizipation des Resultats der Erkenntnistheorie 126 Th. Lipps 127 E. Mach 128 Fries und Kant 129. III. Das tatsächliche Verfahren in der Begründung der Erkenntnisprinzipien bei Kant und Fries und seine Schwächen 130 1. Die Begründung der Erkenntnisprinzipien über- haupt 130 Kants Begründung in der transzendentalen Deduktion 130 Das Selbstvertrauen der Vernunft und das Evidenz- gefühl höchster Ordnung 131. 2. Die Begründung der einzelnen Erkenntnis- prinzipien 131 Kants Stellung dazu 132 Die Rolle der formalen Digitized by Google Inhaltsübersicht des II. Teils. Logik 132 Verdienst und Unzulänglichkeit des Kantischen Standpunktes 133. IV. Die Unmöglichkeit einer besonderen erkenntnis- theoretischen Methode 1. Die Konsequenzen des Ausgangspunktes . . . Das eigene tatsächliche Erkennen als Ausgangs- punkt 134 Subjekt und Objekt 135 Die Ansichten über den Anteil beider am Erkenntnisvorgang 135 Das Zusammenfallen des Aufsuchungs- und des Be- gründungsverfahrens 137 Die Übereinstimmung dieses Verfahrens mit der Methode der übrigen Wissenschaft 138 Die Giltigkeit als allgemeine Voraussetzung und die empiristischo Aufsuchung und Begründung der einzelnen Erkenntnisprinzipien 138. 2. Die verschiedenen Wege der Aufstellung einer besonderen erkenntnistheoretischen Methode Die transzendentale Methode, H. Cohen 139 A. Riehl 140 Die „noologische Methode“ 141 M. F. Scheler 141 H. Leser 143 Das Moment der „Deutung“ 143 Die Betonung des Überzcitlich-Giltigen und dio daraus folgende Notwendigkeit eines Maßstabes 144 Die teleologische Methode 144 Eickert 145 Windel- band 145 Anknüpfung an Fichte 145 Die biologisch- physiologische Methode des Empiriokritizismus 147 Resultat 149. V. Die Bedeutung der Psychologie für die Erkenntnis- theorie Die Psychologie des Erkennens als Vorarbeit der Erkenntnistheorie 151 Ihr Unterschied von der Er- kenntnistheorie 152 Das Verhältnis beider zum „naiven Realismus“ 152 Das Verhältnis der Psychologie des Erkennens zur Logik 153 Husserl 154 Anwendung der bisher gewonnenen Gesichtspunkte auf die logischen Normen 155 Der Unterschied der Logik von der Psychologie 155. VI. Entwurf einer Aufsuchungdcr Erkenntnisprinzipien 1. Die einzelnen Erkenntnisprinzipien Ausgangspunkt 157 Der Erkenntnisprozeß als Mathe- mati8ierung, Klassifikation und Kausalerklärung 157 Erläuterung dieser dreifachen Erkenntnistätigkeit an einer Klassifikation der (materialen)Wissenschaften XI Seit« 134 134 139 150 157 157 Digitized by Google XII Inhaltsübersicht des II. Teils. 159 Die. daraus sich ergebenden Aufgaben der formalen Wissenschaften, Mathematik und Logik 159. Die Grundprinzipien: die Anschauungsforinen, der Substanzbegriff und das Kausalgesetz 160 Die wechsel- seitige Bedingtheit und doch Unableitbarkeit dieser Anschauungs- und Gedankenarmen 160 Bestätigung durch Beispiele aus der Geschichte der Wissenschaft, der Materialismus 162 Die Prinzipien der modernen Naturwissenschaft, Heinrich Hertz 162 Ostwald 163 Die Verwendung der Grundprinzipien in den historischen Wissenschaften 163. 2. Die logische Form der Erkenntnisprinzipien Die Substanz als Begriff und die Kausalität als Gesetz 164 Kants Scheidung in Kategorien und Grundsätze 164 Die ursprünglichen Formen 165. 3. Die Daseinsweise der Erkenntnisprinzipien . . Sein, Geschehen und Gelten bei Lotze 165 Unzu- längliche Gründe für die Annahme einer besonderen Wirklichkeit des „Gehens“ 166 Kants Stellung zur Annahme angeborener Vorstellungen 167 Die sekun- dären Anlagen 168 Anknüpfung an Kant 168 Wahrung der strengen Allgemeinheit und Notwendigkeit des a priori 169 Die Organisation selbst als Bestandteil der Erscheinungswelt 169 Der „Vernuuftglaube“ und das Evidenzbewußtsein 170. C. Das Verfahren in der Feststellung der Grenzen des Erkennens Die Unentbehrlichkeit der im „Selbstvertrauen der Vernunft“ liegenden Voraussetzungen auch für die Untersuchung der Grenzen des Erkennens 171. Kapitel III: Das Problem der Grenzen des Erkennens Die Aufgaben 173. A. Die Grenzen der Erkenntnistittigkeit als solcher I. Die Bedeutung der Lehre von der „Unerklärlich- keit der Qualitäten“ Fries’ Lehre von der Unerklärlichkcit der Qualitäten 173 Kritik, die mathematischen Bestimmungen als Gegebenes 174 Die Möglichkeit der nicht-mathe- matischen Erklärung 174 Die Grenzen der Erklärung uud die Grenzen der Erkenntnis 176. Seite 164 165 171 173 173 173 Djgitized by Google Inhaltsübersicht des II. Teils. XIII Seite II. Die Grenzen der Erklärung und die Erkenntnis des Historischen 177 1. Das Ziel der Erklärung und ihr Verhältnis zur Wirklichkeit 177 Die »Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriflfs- bildung“ 179 Die Erklärung der Wirklichkeit als Ziel der Wissenschaft 179 Die hierzu nötige Ableitung aus Merkmalskomplexen und Gesetzeskomplexen 180 Die Zunahme der Komplikation der Erklärung mit der Differenzierung der Wirklichkeit 180 Die Überseh- barkeit des Einzelobjektes und die Unübersehbarkeit der wissenschaftlichen Arbeit 181 Die Möglichkeit beliebiger Reproduktion des Einzelobjektes durch die sprachliche Bezeichnung 181. 2. Die Ausdehnung der Erklärung auf die Geschichte 183 Das Objekt der Naturwissenschaft als Individuelles 183 Die wissenschaftliche Verarbeitung der geschicht- lichen Wirklichkeit als Steigerung der Komplikation des Erklärungsversuches 183 Treitschke 185 Der Unterschied nur graduell, nicht spezifisch 186. 3. Das Prinzip der Auswahl in seinem Verhältnis zur Methode 186 Das Prinzip der Auswahl 186 Die Abgrenzung des Arbeitsgebietes nach außerwissenschaftlichen Ge- sichtspunkten 186 Die Methode dadurch nicht be- dingt 186. 4. Die lebendige Wirklichkeit und die wissenschaft- liche Erkenntnis 187 Die Armut der wissenschaftlichen Formen im Ver- hältnis zum Reichtum ihres Inhaltes 188. B. Die Grenzen des Erkenntnisgebietes 189 I. Die Überschreitung der Erfahrungsgrenzen bei Kant und Fries 189 Das „Affizierende“ als Ursache der Empfindung 190 Aenesidemus-Schulze 190 Die Überschreitung der An- schauuugsgrenzen im spekulativen Glauben und in den Ideen bei Fries 191 Die Künstlichkeit in der Ab- leitung der einzelnen Ideen 192 Die erkenntnis- theoretische Bedeutung der Ideenlehre im Ganzen 192 Das Selbstvertrauen der Vernunft 193 Die Konse- quenzen der Voraussetzung der objektiven Giltigkeit des Denknotwemligen 193. Digitized by Google XIV Inhaltsübersicht des II. Teils. Seite Kants Beschränkung der Erkenntnis auf die Grenzen der Erfahrung 193 Die Begründung der- selben in der transzendentalen Analytik und Dialektik 194 Die Schwächen der letzteren Beweisführung 195 Die Antinomien 195. IT. Die regulativen Prinzipien und die transzendenten Hypothesen 197 Der transzendentale Schein 197 Die Bedeutung der regulativen Prinzipien für die Erkenntnis 197 Die Grenzen derselben 198 Anknüpfungspunkte für eine Überschreitung derselben 199. Der Grad der Brauchbarkeit für die Erklärung als Legitimation der objektiven Realität 200 Der un- vermeidliche Übergang der. regulativen Prinzipien in Hypothesen 200 Kants Ablehnung „transzendentaler Hypothesen“ 200 sein eigener Sprachgebrauch 202 Das Prinzip der kontinuierlichen Stufenleiter der Geschöpfe als Beispiel für den Übergang des regu- lativen Prinzips in die Hypothese 203 Kants Gesetz der Affinität der Begriffe 203 Seine Leugnung der Kontinuität der Arteu als objektiver Behauptung 204 Die Deszendenztheorie 204. III. Die Hypothesen iin Dienste der systematischen Einheit der Erkenntnis 205 Die zunehmende Vereinheitlichung des Erfahrungs- gebietes in der modernen Wissenschaft 205 Die „Arbeitshypothese“ und die wirkliche Hypothese 205 Die „indifferenten Hypothesen“ PoiucaiAs 206. IV. Das Material der Hypothesenbildung und die transzendenten Gegenstände 209 Transzendente Elemente der naturwissenschaftlichen Hypothesen 210 Die „Metaphysik als Erfahrungs- wissenschaft“ 211 Die Freiheit der Hypothesen- bildung 211 Lotze 211 Die Brauchbarkeit für die Erklärung als einziges Kriterium 212 Die Hypothese einer „Außenwelt“ als Beispiel 214 Anknüpfungs- punkte bei Kant 214 Das „Gegenstandsbewußtsein“ als Material der Hypothese einer „Außenwelt“ 215 Die Überzeugung von der Existenz anderer beseelter Wesen 215. Inhaltsübersicht des II. Teils. XV Seite V. Das Verhältnis der transzendenten Hypothese zur Glaubensüberzeugung 216 Die Unvermeidlichkeit einer theoretischen Verwendung anderswoher stammender Annahmen über Wirkliches 216 Kants Postulate 216 Die Verwendung von Glaubensüberzeugungen zur hypothetischen Er- klärung der Wirklichkeit 217 Der Übergang der Hypothese in Glaubensgewißheit 218 Wechselbe- ziehungen zwischen dem Glauben an Transzendentes und der transzendenten Hypothese 219 Die Geschichte des Irrtums und das Ideal der Wahrheit 220. Namenregister für beide Teile 221 Druckfehler -Verzeichnis. R. 9 Z. 3 von oben statt „Psychologische Voraussetzungen“ lies: „Die psychologischen Voraussetzungen“. S. 82 Z. 8 von unten statt „Erkenntnistheoretische“ lies: „Die er- kenntnistheoretischen“. Einleitung. Wer die „Neue oder anthropologische Kritik der Ver- nunft“ von Jakob Friedrich Fries in ihrem systematischen Aufbau vollständig überblickt, wird nicht umhin können, zuzugestehen, daß sich in seiner Bearbeitung des Erkennt- nisproblems und in der eigenartigen Wendung, welche er dem großen Werke Kants gegeben hat, manche Punkte finden, die bleibender Beachtung wert und die insbeson- dere geeignet sind, auch auf manches Problem, mit wel- chem die Gegenwart sich beschäftigt, ein neues Licht zu werfen. Wenn wir uns anschicken, diesen bleibenden Ertrag herauszuheben und zur Erkenntnistheorie der Gegenwart in Beziehung zu setzen, so liegt cs in der Natur der prinzipiellen Fragen, um welche es sich dabei handelt, daß die kritische Erörterung der Kardinalpunkte der Kantischen Erkenntnistheorie, die wir an die aus der Friesischen Philo- sophie gewonnene Problemstellung anknüpfen, zu einer ein- gehenden Untersuchung der Grundlagen der Erkennt- nistheorie überhaupt wird. Dieses Verfahren wird uns aber zugleich bestätigen, wie fruchtbar nach verschiedenen Richtungen hin für die Grundlegung einer Erkenntnistheorie die Fragestellung ist, zu welcher Fries uns nötigte, wenn auch an der Antwort, welche er selbst darauf gibt, so manches als unhaltbar sich erweisen sollte. Wir können drei charakteristische Hauptpunkte her- ausheben, von welchen die übrigen Teile seines Systems bedingt sind und die zusammen die Stellung der Friesischen Philosophie in der Geschichte bezeichnen. Es ist die Un- terscheidung der unmittelbaren Erkenntnis von der Reflexion, die anthropologische Methode, und Elsenhans, J. F. Fries und die Kantische Erkenntnistheorie, II. 1 Einleitung. 2 die „durchaus subjektive Wendung“1) seiner Phi- losophie in ihrem Zusammenhang mit der Ideen- lehre. Allen diesen Charakterzügen seines Systems fehlt es nicht an Anknüpfungspunkten bei Kant. Wie die naeh- kantische Philosophie aus der Fülle von Anregungen, wel- che in Kants vielseitiger kritischer Arbeit gegeben war, eigene Systeme gestaltete, so können auch jene Hauptmerk- male des Friesischen Systems als stärkere Betonung von Momenten angesehen werden, die bei Kant sich bereits, wenn auch in weniger ausgeprägter Form, finden. Kants scharfe Hervorhebung der Unfruchtbarkeit der rein for- malen Logik findet ihren prägnanten Ausdruck in der um- fassenden und doch im Verhältnis zur Wahrheit selbst unter- geordneten Bedeutung, welche die Reflexion bei Fries ein- nimmt, die nur mittelbar eben in den logischen Formen das zum Bewußtsein bringt, was in der unmittelbaren Erkennt- nis schon vorhanden ist. Die psychologischen Voraus- setzungen und der psychologische Einschlag im Kantischen System werden bei Fries zur maßgebenden anthropolo- gischen Methode, und die von Kant begründete Ab- hängigkeit der Erkenntnis des Gegenstandes von den im Subjekt liegenden synthetischen Formen steigert sich bei Fries zu jener „durchaus subjektiven Wendung“ der Philosophie, welcher die ausschließliche Erfassung der „tran- szendentalen Wahrheit“ in den Ideen zur Seite geht. Eben diese Punkte stehen aber zugleich in unmittel- barer Beziehung zu gewissen Hauptfragen der Erkenntnis- theorie, die noch jetzt an der Tagesordnung sind. Indem Fries mit seiner Annahme der unmittelbaren Erkenntnis als einer allgemeingiltigen und notwendigen den Hauptpunkt 1) Ein Ausdruck, den Fries selbst (am ausführlichsten Metaph. 102 ff.) zur Bezeichnung des aus seiner Methode sich ergebenden Standpunktes einführt. Es ist dort von der „ durchaus subjektiven Wendung aller Spekulation“ die Rede, aber der Ausdruck ist in der allgemeinen Bedeutung gebraucht, nach welcher das Philoso- phieren ein Teil derselben ist. Einleitung. 3 schon zu Beginn der Untersuchung des Erkennens als ge- geben voraussetzt, nötigt er uns zur Prüfung der für die Er- kenntnistheorie unentbehrlichen Voraussetzungen über- haupt. Sein anthropologisches Verfahren leitet von selbst zur modernen Kontroverse über Psychologie und Erkennt- nistheorie und damit zur Untersuchung der Methode der Erkenntnistheorie über, und die subjektive Wendung seiner Philosophie zusammen mit der „transzendentalen“ Bedeutung der Ideen bringt die Frage mit sich, ob und wieweit unser Erkennen überhaupt über die Bedeutung eines subjektiven Vorgangs hinaus reicht, legt uns also das Problem der Grenzen des Erkennens nahe. Kapitel I. Die Voraussetzungen der Erkenntnistheorie. Nach Fries können wir die Wahrheit nicht in der Übereinstimmung der Erkenntnis mit dem Gegenstände fin- den, sondern „sofern wir darüber reflektieren“ nur in der Übereinstimmung dieser Reflexions- oder mittelbaren Er- kenntnis mit der unmittelbaren. Die Wahrheit der un- mittelbaren Erkenntnis aber beruht ausschließlich auf ihrem Dasein im Geiste. In dem Ganzen der unmittelbaren Er- kenntnis, in der transzendentalen Apperzeption haben wir die Wahrheit im eigentlichen Sinne des Wortes. Allgemein- giltigkeit und Notwendigkeit, die Merkmale der wahren Er- kenntnis sind ihr an sich selbst eigen. Sie sind also nicht erst zu begründen. Damit ist also ein Hauptpunkt, der Nachweis der All- gemeingiltigkeit und Notwendigkeit, der Erkenntnistheorie selbst entzogen. Es gibt daher auch für Fries eine Theorie des Erkennens im eigentlichen Sinne des Wortes nicht. Die Konsequenzen dieser Lehre sind allerdings weit- gehende. Diese Wahrheit der unmittelbaren Erkenntnis haben wir oder haben wir nicht, ohne daß wir etwas dafür oder dawider tun können, und wenn wir sie haben, so ist eben damit die Wahrheit selbst uns gegeben. Irr- tum, Grade der Gewißheit kann es hier nicht ge- ben. Diese Unterschiede sind lediglich Sache der mittel- baren Erkenntnis, der wiederbeobachtenden Reflexion. „We- der die Anschauung, welche der Demonstration, noch die unmittelbare Erkenntnis, welche der Deduktion zugrunde Die Voraussetzung©!! der Erkenntnistheorie. 6 liegt, kann irrig sein, irrig sind nur mittelbare Urteile des Verstandes“ *). Besonders auffallend ist diese Konsequenz im ersteren Fall. Wir müssen uns, um die Tragweite dieser Annahme zu übersehen, einige Beispiele vergegenwärtigen, welche Fries gibt. Nach Fries liegt „in unserer Vernunft durch zwei Blicke nach dem gestirnten Himmel die Erkenntnis der Größe, Entfernung und verhältnismäßigen Lage aller Welt- körper, die ich sehe; nur die Selbstbeobachtung der Re- flexion ist hier begrenzt, indem ich die Unterschiede nur bis an eine bestimmte Grenze zu messen vermag. Wer nur wenigemal durch die guten Instrumente eines Herschel oder Schröter den Himmel beobachtet hätte, der besäße in der unmittelbaren dunklen Vorstellung seines Geistes dieselben astronomischen Kenntnisse wie jene. Die Überlegenheit jener aber läge nur in der Ausbildung ihrer innern selbst- beobachtenden Reflexion“ *). An einer andern Stelle lesen wir: „Z. B. ich sehe die Mondscheibe am Horizont größer als hoch am Himmel und nenne dies Täuschung nicht nur deswegen, weil der Mond das einemal nicht größer als das andere ist, sondern weil er auch das einemal nicht entfern- ter ist als das andere, und vorzüglich, weil meine unmittel- bare Anschauung, die ich durch Messung genauer beob- achte, ihn das einemal wirklich nicht größer zeigt als das andere“ 8). Aus diesen Beispielen geht hervor, daß Fries der unmittelbaren Erkenntnis geradezu eine geheimnisvolle Antizipation selbst der durch die Wissenschaft erst ermög- lichten Berichtigungen des Augenscheins und der darauf sich gründenden populären Meinung zuschreibt* * 4). Wie nun, 1) N. Kr. I, 403, vgl. auch 266, 373, 392. 2) N. Kr. I, 189 f. 3) N. Kr. II, 66 f. 4) In den „Abhandlungen der Fries’schen Schule, Neue Folge* (a. a. 0. S. 305 f.) hat Nelson meine (in meiner Schrift das „Kant- Friesische Problem S. 42) in obigem Sinne gegebene kurze Kritik so sehr mißverstanden, daß er mich über — die Tatsächlichkeit jener optischen Täuschung belehren zu müssen glaubt. Als Beispiel der Polemik dieser Schule führe ich die betreffenden Sätze an. Ich Digitized by Google 6 Kapitel I. wenn der Beobachter die Vergleichung der Mondgrößen, der wirklichen und der scheinbaren niemals vornimmt? Hat er dann neben der Sinneswahrnehmung, welche ihm den größeren Mond vorspiegelt, stets noch eine unmittelbare Anschauung, welche, wenn auch nur dunkel bewußt, die richtige Größe enthält? Welches „Dasein“ diese unmittel- bare Erkenntnis der richtigen Größe etwa „im Geiste“ des einfachen Bauern haben soll, ist schwer anzugeben. Die bloße „Dunkelheit“ der Vorstellung reicht hier nicht aus. Dagegen ist die prinzipielle Bedeutung dieser An- nahme unschwer zu erkennen. Liegt die Wahrheit der un- mittelbaren Erkenntnis in ihrem Dasein im Geiste, so ist die Gefahr des Relativismus außerordentlich nahe gerückt. Auch der Irrtum ist als vermeintliche Erkenntnis der Wahr- heit im Geiste vorhanden. Soll also jenes Kriterium der Wahrheit genügen, so muß es selbst dem Irrtum entzogen und die Irrtumsmöglichkeit anderswohin verlegt werden *). hatte gesagt: „Wie unnatürlich die Folgerungen sind, zu welchen diese Anschauung führt, das zeigt unter anderem das Beispiel der optischen Täuschung, nach welcher die Mondscheibe am Horizont größer als hoch am Himmel erscheint. Täuschung soll ich dies nach Fries vorzüglich deshalb nennen, weil meine unmittelbare Anschau- ung etc.“ (dann Satz wie oben). Darauf Nelson: „Elsenhans irrt, wenn er dies „„Beispiel““ für eine Folgerung aus der Friesischen „„Anschauung““ hält. Es ist vielmehr eine von allen psycholo- gischen Theorien unabhängig feststehende Tatsache, die Herr Elsenhans wie jeder andere an sich bei wolkenfreiem Himmel be- obachten kann.“ Selbstverständlich zeigt das Beispiel nur die Un- natur dieser Folgerungen, ohne selbst Folgerung zu sein. Ich kann Herrn Nelson die beruhigende Versicherung geben, daß ich jene Tat- sache anerkenne, auch ohne erst seiner Einladung zu einer demon- stratio ad oculos zu folgen. 1) Hier berührt sich Fries mit Schopenhauer, nach welchem jeder Irrtum ein falscher Schluß von der Folge auf den Grund ist und Sinnestäuschung nur dadurch möglich ist, daß der dem Irrtum ausgesetzte Verstand in der Anschauung selbst eine maßgebende Rolle spielt. Vgl. S. W. III, 87; I, 58, 72 f., 126; II, 79 f. (das allein in der anschaulichen Welt lebende Tier kann daher nie weit vom Wege der Natur abirren). II, 747. Während aber für Schopenhauer das Reich der abstrakten Begriffe der Sitz des Irrtums ist, bildet Die Voraussetzungen der Erkenntnistheorie. 7 Damit ist dann das Hauptmoment unter den Fragen der Er- kenntnis, die Wahrheit selbst, als Tatbestand bereits vor- ausgesetzt. Da aber diese Voraussetzung in der Form, wie sie Fries vertritt, unhaltbare Folgerungen mit sich führt, so erhebt sich die Frage, inwieweit jene Voraussetzung einer „un- mittelbaren Erkenntnis“, die als Vertreterin einer unbedingt gütigen Wahrheit innerhalb einer anthropologisch bedingten Gesamtanschauung der Erkenntnistheorie manche Vorteile bietet, überhaupt einer eingehenderen Prüfung standhält. Dies ist aber nur möglich, indem wir die Voraus- setzungen der Erkenntnistheorie überhaupt genau unter- suchen. Die prinzipielle Bedeutung einer solchen Unter- suchung leuchtet ein. Hat man der Philosophie mit Recht die Aufgabe gestellt, die Voraussetzungen der übrigen Wissenschaften zum Gegenstand ihrer Bearbeitung zu machen, und fällt insbesondere der Erkenntnistheorie die ' Aufgabe zu, die Voraussetzungen alles Erkennens über- haupt zu prüfen, so gehen wir gleichsam noch einen Schritt weiter zurück, indem wir die für diese Prü- fung selbst unentbehrlichen Voraussetzungen namhaft zu machen suchen. Diese Aufgabe ist ja mit einer Prüfung der Voraussetzungen des Erkennens überhaupt keineswegs identisch. Es kommt nämlich zu den Gesichts- punkten, welche für die letztere maßgebend sind, noch der weitere hinzu, daß hier das Erkennen sich selbst zum Objekte werden soll. Daß solche Voraussetzungen für das wissenschaftliche Erkennen, wie für die Erkenntnistheorie, die verhältnis- mäßig voraussetzungsloseste Disziplin der Philosophie, un- entbehrlich sind, darf in einer Zeit, in welcher von der „Voraussetzungslosigkeit der Wissenschaft“ viel die Rede ist, wohl besonders hervorgehoben werden. Es ist aber um so notwendiger, diese Voraussetzungen genau zu umgrenzen und zu zeigen, in welchem Sinn diese „Voraus- für Fries die irrtuinslose unmittelbare Erkenntnis ein Ganzes, zu dem auch die metaphysischen Begriffe gehören. 8 Kapitel I. setzungslosigkeit“ eine durchaus berechtigte und unerläß- liche Forderung ist, als die geräuschvolle Betonung der Un- • entbehrlichkeit von Voraussetzungen oft genug benutzt worden ist, die Abhängigkeit der Wissenschaft von irgend einem Dogma zu rechtfertigen. Auch die folgenden um des Zwecks der vorliegenden Arbeit willen auf das Wesent- liche sich beschränkenden Ausführungen werden keinen Zweifel darüber lassen, daß es etwas anderes ist, wissen- schaftliche Sätze von dem Machtspruch wissenschaftlich unzuständiger Instanzen oder von dem Buchstaben ver- gangener Systeme abhängig zu machen, und etwas anderes, die Voraussetzungen zu nennen, die in der Wissenschaft als solcher liegen, die aus ihrem Wesen sich ergeben, und die daher auch von ihrer Selbstbesinnung in einer Erkenntnis- theorie unzertrennlich sind. Wenn wir diese Voraussetzungen namhaft machen wollen, werden wir am besten auf dasjenige System zurück- gehen, dessen weltgeschichtliche Bedeutung gerade darin besteht, daß es die bisherigen Voraussetzungen aller Wissen- schaft überhaupt und der Philosophie insbesondere einer ein- gehenden kritischen Prüfung unterzogen hat. Ist das Kan- tische System das verhältnismäßig voraussetzungs- loseste aller gewesenen Systeme, so dürfen wir hoffen, gerade hier auf ein Minimum von Voraussetzungen zu stoßen, um den wirklich unentbehrlichen Kern derselben festzu- stellen und die Folgerungen daraus zu ziehen. Zugleich ist das Licht, das von hier aus auf das Kantische System fällt, besonders geeignet, in gewissen Hauptmomenten der Friesi- schen Philosophie den bleibenden Wahrheitskern hervor- treten zu lassen. Wir unterscheiden psychologische, logische und er- kenntnistheoretische Voraussetzungen der Kantischen Ver- nunftkritik, und, wie sich zeigen wird, der Erkenntnis- theorie1) überhaupt. 1) Man gestatte den schwerfälligen Ausdruck : erkenntnistheo- retische Voraussetzungen der Erkenntnistheorie, der aber gerade die Sachlage prägnant bezeichnet. Die Voraussetzungen der Erkenntnistheorie. 9 A. Psychologische Voraussetzungen der Erkenntnis- theorie. I. Die psychologischen Voraussetzungen Kants. Daß das ganze kritische Werk Kants eine große Zahl psychologischer Voraussetzungen cinschließt, kann kaum bezweifelt werden. Der ganzen Gliederung seines Systems liegt die Dreiteilung der Seelen vermögen zugrunde, wie sie kurz vorher durch Sulzer, Mendelssohn und Tetens durch Geltendmachung eines besonderen „Empfindungsvermö- gens“, „Billigungstriebes“ oder „Gefühls der Lust und Un- lust“ *) neben dem Erkenntnis- und Begehrungsvermögen vorbereitet worden war. Innerhalb eines jeden dieser Ge- biete seelischer Tätigkeit werden die Prinzipien a priori ge- sucht, und so entspricht dem Erkenntnisvermögen die Kritik der reinen Vernunft, dem Begehrungsvermögen die Kritik der praktischen Vernunft und dem Vermögen der Lust und Unlust die Kritik der Urteilskraft. Ebenso werden inner- halb der einzelnen Kritiken psychologische Begriffe wie Empfindung, Vorstellung, Anschauung, Einbildungskraft, Assoziation regelmäßig verwendet. Es reicht demgegenüber nicht aus, zu sagen, Kant sei einem äußerlichen Herkommen der Wolffschen Schule ge- folgt, wenn er psychologische Klassennamen zu Titeln und Gesichtspunkten der Einteilung und Disposition des Vor- trages beibehielt; dagegen habe auf den Gang der Unter- suchung dieser Sprachgebrauch nur nebensächlichen Ein- fluss genommen. Riehl, der diesen Standpunkt vertritt1 2), fügt hinzu: „Man hätte bemerken können, daß Kant nicht die Sinnlichkeit als psychologisches Vermögen, sondern die 1) Nach A. Palme, J. G. Sulzers Psychologie und die Anfänge der Dreivermögenlehre 1905 S. 50 f. hätte uur Sulzers „Empfin- dungsvermögen“ ausschlaggebende Bedeutung für die Begründung der „Dreivermögenlehre“ gehabt. 2) A. Riehl, Der philosophische Kritizismus 1876, I, 8. Digitized by Google 10 Kapitel I. Vorstellungen Raum und Zeit, nicht den Verstand als Seelen- kraft, sondern die logischen Einheitsbegriffe in Urteilen, nicht die Vernunft als Ausstattung des menschlichen Geistes, sondern die in der Erkenntnis und Wissenschaft ausgepräg- ten, gleichsam objektiv daliegcnden Schlußformen prüft und kritisiert. Man vergaß, daß für Kant die Existenz der Seelen keine theoretische Wahrheit, sondern nur eine praktische Forderung und Erwartung war! Wie kann man von einer Kantischen Psychologie, von einer psychologischen Kritik reden, da doch Kant den Begriff einer Seelensubstanz für gänzlich unerweislich erklärt? Die kritische Philo- sophie Kants kennt keine Psychologie!“ Aber Riehl selbst weist überzeugend nach, daß die erste Bearbeitung der transzendentalen Deduktion das Prin- zip der Deduktion, nämlich die Einheitsfunktion des Bewußt- seins, durch psychologische Reflexion gewinnt1 *). Psycho- logische Reflexion ist also hier, an dem wichtigsten Punkte der Vernunftkritik ein so wesentliches Element der Beweis- führung, daß das Prinzip der Deduktion selbst auf psycho- logischem Wege gewonnen wird. Mag man daher auch in der Deduktion der zweiten Ausgabe die reinere Form des- selben sehen8), so wird sich doch der Satz kaum halten lassen : Die kritische Philosophie Kants kennt keine Psycho- logie. Die Möglichkeit einer solchen war ja durch die Paralogismcn keineswegs ausgeschlossen. Denn in der Er- örterung der Paralogismen selbst ist stets neben der ratio- nalen Psychologie, die widerlegt wird, die Möglichkeit einer empirischen Seelenlehre aufrecht erhalten3 * *). Dazu kommt, daß, wenn auch Kant einem Herkommen der Wolffsehen Schule dabei folgte, die Verantwortung für den Inhalt dieser psychologischen Voraussetzungen doch völlig auf ihn fällt. Er knüpft zwar an den von der Leibniz- 1) Riehl a. a. 0. I, 377 ff. 2) So Riehl a. a. 0. I, 392 f. 3) Vgl. Kr. d. r. V. 294, 297. Diese Tatsache bleibt bestehen, obwohl Kaut in den „metaphysischen Anfangsgründen der Natur- wissenschaft“ die empirische Psychologie nicht als „eigentliche Wissenschaft* gelten lassen will. Die Voraussetzungen der Erkenntnistheorie. 11 Wölfischen Philosophie vertretenen nur graduellen Unter- schied zwischen verworrener und deutlicher Vorstellung an, aber indem er diese Lehre aus den nouvcaux essais in die Inaugural-Dissertation aufnahm, erfährt sie schon im Beginn derselben eine vollständige Umbildung, sofern nun Sinnlich- keit und Verstand als zwei völlig verschiedene Verfahrungs- weisen der Seele eingeführt werden *). Und diese psycho- logische Unterscheidung der beiden „Stämme der Erkennt- nis“, der Sinnlichkeit und des Verstandes bleibt ein Haupt- element der Beweisführung durch den ganzen Aufbau seiner drei Kritiken hindurch. Stellt man sich also auch auf den Standpunkt, daß dieses psychologische Moment schließlich doch dem erkenntnistheoretischen völlig untergeordnet ist8), eine Frage, die uns erst später bei der Besprechung der Me- thode zu beschäftigen hat, so wird man doch nicht umhin können, zuzugeben, daß so scharf auch Kant selbst seine Be- weisführung von der psychologischen Erklärung scheidet, eine ganze Reihe psychologischer Voraussetzungen mit Kants Kritik der Vernunft unzertrennlich verknüpft ist8). Es ist das Verdienst von Fries, diesen Umstand nach- drücklich betont und daraus eine eigenartige Wendung der ganzen Kantischen Vernunftkritik abgeleitet zu haben, die, wie man sie auch grundsätzlich beurteilen mag, jedenfalls eine geschichtlich wertvolle und für die Problemstellung lehrreiche Form des kritischen Systems darstellt. 1) W. Windelband, Über die verschiedenen Phasen der Kanti- schen Lehre vom Ding an sich. Viertcljahrsschr. f. wissensch. Philos. 1877 Bd. I, 237. Vgl. auch den Satz dieser Abhandlung: „Diese Ab- hängigkeit des Kritizismus von der psychologischen Theorie seines Urhebers, welche durch alle gegenteiligen Äußerungen desselben nicht verdeckt werden kann, zeigt sich schon in der Inaugural- Dissertation; ja sie tritt hier, wo der Ausgangspunkt direkt in dieser Antithese von Sinnlichkeit und Verstand genommen wird, viel kla- rer und un verhüllter hervor.“ 2) So z. B. Windelband, Geschichte der ueueren Philosophie II *, 54. 3) Dies ist auch in dem neuesten Werk über Kant: H. St. Cham- berlain, Immanuel Kant 1905 S. 642 tf. völlig übersehen. 12 Kapitel I. II. Die Unentbehrlichkeit psychologischer Voraussetzungen für die Erkenntnistheorie. Was trotz der offenbaren Abneigung Kants gegen jede Einmischung der Psychologie in die kritische Arbeit der reinen Vernunft von dieser seiner Erkenntniskritik nicht geleugnet werden kann: die Unentbehrlichkeit psycho- logischer Voraussetzungen, das wird für die Erkenntnis- theorie überhaupt zugegeben werden müssen. Darin stimmen bei aller Differenz in der Einzelabgren- zung und in der Fassung der psychologischen Aufgabe auch solche Autoren überein, welche sonst geneigt sind, zwischen Psychologie und Erkenntnistheorie einen scharfen Schnitt zu machen1). Zunächst gebrauchen wir ja bei jeder erkenntnis theoretischen Untersuchung eine Anzahl von Wörtern, welche mindestens vorwiegend psychologische Bedeutung haben. Wir reden von Empfindung, Anschauung, Vorstel- lung, Assoziation, Einbildungskraft, Denken, Verstand, Ver- nunft. Nun würde die Forderung allerdings zu weit gehen, es müssen von sämtlichen Wörtern, welche in der wissen- schaftlichen Untersuchung verwendet werden, die Bedeu- tungen durch Definitionen genau umgrenzt werden. Wir setzen einen Vorrat an Wortbedeutungen als selbstverständ- lich und als Gemeingut voraus und nehmen an, daß der Klang und das Schriftbild der einzelnen Worte in ande- ren Menschen dieselben Bedeutungsvorstellungen auslöst. Doch wird die unbedenkliche Verwertung dieses gemein- samen Vorrats an Wortbedeutungen sofort zweifelhaft, wenn die Wortbedeutungen für die wissenschaftlichen Er- gebnisse selbst wesentlich, und wenn die Objekte, auf welche sie sich beziehen, nicht leicht voneinander abzu- grenzen sind. Beides trifft für unsern Fall zu. Die Viel- deutigkeit der psychologischen Begriffe erschwert in hohem Maße die wissenschaftliche Bearbeitung dieses Gebietes, 1) H. Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis, 2. Aufl. 1904, S. 89. Husserl, Logische Untersuchungen, Bd. II, S. 18. Die Voraussetzungen der Erkenntnistheorie. 13 und doch sind von der Abgrenzung und genauen Definition derselben wichtige Sätze der Erkenntnistheorie abhängig. Denken wir nur an die Schwierigkeiten, welche für das Ver- ständnis von Kants Kritik der reinen Vernunft aus der Mehr- deutigkeit der Begriffe Verstand und Vernunft entstehen. Keine Erkenntnistheorie wird sich daher der Forderung ent- ziehen dürfen, die psychologischen Begriffe, deren Gebrauch sie nicht umgehen kann, nur in einem ganz bestimmten wissenschaftlichen Sinne zu verwenden, und die Beziehungen psychischer Vorgänge, von welchen sie redet, nur sofern sie wissenschaftlich gesichert sind, zu verwerten. Aber lassen sich jene psychologischen Voraussetzungen wirklich nicht umgehen? Können wir nicht einen Ausgangs- punkt wählen, in welchen sie nicht eingeschlossen sind, und von dessen weiterer Entwicklung wir psychologische Be- griffe fernzuhalten vermögen? In der Tat wird von dem durch Avenarius begründeten Empiriokritizismus ein scharfsinniger Versuch gemacht, einen möglichst voraus- setzungslosen, vor allem aber von psychologischen Voraus- setzungen freien Ausgangspunkt zu wählen. Die Frage des Ausgangspunktes wird uns beim Problem der erkenntnis- theoretischen Voraussetzungen zu beschäftigen haben. Für jetzt handelt es sich um die Frage, ob hier tatsächlich eine von psychologischen Voraussetzungen freie Erkenntnis- theorie gewonnen ist. Vergegenwärtigen wir uns kurz zu diesem Zwecke Avenarius' Grundgedanken über den „Ausgangspunkt alles Philosophierens“ *), auf die wir mehrfach werden zurück- zugreifen haben. Der „natürliche Weltbegriff“ ist der „natürliche Ausgangspunkt alles Philosophierens“. Die Welt- begriffc der Philosophie sind nur Variationserscheinungen desselben1 2). Unter einem formalen Gesichtspunkt betrachtet 1) Am deutlichsten nuseinandergesetzt in R. Avenarius, der menschliche Weltbegriff, Leipzig 1891 und in den „Bemerkungen zum Begriff des Gegenstandes der Psychologie“. Vierteljahrsschrift für wissenschaftl. Philosophie 1894. 2) Avenarius, Der menschliche Weltbegriff' a. a. 0. S. 144 ff. 14 Kapitel I. zerfällt dieser natürliche Weltbegriff alsbald in zwei logisch verschiedenwertige Bestandteile: eine „Mannigfaltigkeit von tatsächlich Vorgefundenem“ und eine „Hypothese“. Der erstere, der „empiriokritische Befund“, scheidet sich wieder in zwei Hauptteile, von denen der eine alles umfaßt, was zu „mir“ d. h. zu dem als „Ich“ Bezeichneten gehört; der zweite alles, was zu dem gehört, was man philosophisch gern als „Nicht-Ich“ bezeichnet, was man aber einfacher und positiv als die „Umgebung“ bezeichnen kann. Auch das „Ich-be- zeichnete“ stellt sich wieder dar in Form von Sachen, Ge- danken, Gefühlen, und das zu den Gefühlen Gehörende teils in der Form des „Sachhaften“ (z. B. körperlicher Schmerz) teils in der Form des „Gedankenhaften“ (z. B. Erinnerung jenes Schmerzes). Die Beziehung zwischen dem „Ich-be- zeichneten“ und der Umgebung ist aber eine unauflösliche. Avenarius nennt sie daher die „empiriokritische Prinzipal- koordination“, dereii Zentralglied das Ich, und deren Gegen- glieder die Umgebungsbestandteile bilden. Der zweite Bestandteil des natürlichen Weltbegriffs, die Hypothese besteht ihrem Gehalt nach darin, „daß ich den mitmenschlichen Bewegungen, welchen, sofern sie nur als ein von meinem örtlichen Standpunkte aus Vorgefundenes betrachtet werden, — tatsächlich nur eine mechanische Bedeutung zukommt, eine mehr als mechanische Bedeutung zuschreibe“1). Die herrschende Psychologie faßt nun dieses noch an- zunehmende „Amechanische“ als „Empfindungen in uns“, die ihren Ort im „Gehirn“ haben. „Während ich den Baum vor mir als Gesehenes in demselben Verhältnis zu mir be- lasse, in welchem er in Beziehung auf mich ein Vorgefun- denes ist, verlegt die herrschende Psychologie den Baum als „„Gesehenes““ in den Menschen (beziehungsweise in das Gehirn desselben“2). Durch diese Hineinverlegung des Gesehenen in den Menschen, durch die „Introjektion“, wird nach Avenarius der ganze natürliche Weltbegriff gefälscht, 1) „Bemerkungen etc.“ a. a. 0. S. 147. 2) a. a. 0. S. 153. Digitized by Google Die Voraussetzungen der Erkenntnistheorie. 16 und durch sie entsteht erst die ihm fremde Scheidung in eine „äußere“ und eine „innere“ Welt, der Dualismus, der dann als unmittelbare Erfahrung ausgegeben wird. Tn Wirklichkeit ist das Denken „kein Bewohner oder Befehls- haber, keine andere Hälfte oder Seite u. s. w., auch kein Be- fund, ja nicht einmal eine physiologische Funktion, oder nur ein Zustand überhaupt des Gehirns“ x). Ist hier wirklich jede psychologische Voraussetzung ausgeschaltet? Was dem natürlichen Weltbegriff gemäß vorgefunden wird, sind ja keineswegs zwei Allgemein- begriffe: „Ich“ und „Umgebung“, sondern eine „Mannig- faltigkeit“, die sofort (für das vorfindende Ich?) in zwei Ge- biete zerfällt, von denen das eine, das „Ich-bezeichnete“ als Einheit sich darstellt. Es handelt sich nun darum, in welchem Sinne ein Unterschied zwischen diesen beiden Hauptteilen des „empiriokritischen Befunds“ als Vorgefun- dener besteht. Gehen wir dieser Frage weiter nach, so zeigt sich sofort, daß von diesem Unterschied psychologische, aus der Entwicklung des Individuums erwachsene Momente un- zertrennlich sind. Der natürlichen Weltauffassung ist das „Ich“ der durch die Hautoberfläche gegen die Außenwelt abgegrenzte psychophysische Organismus, als dessen eigent- licher Kern ein seelisches Zentrum dunkel vorgestellt wird. Bezeichne ich nun auch den Unterschied zwischen „Ich“ und „Umgebung“ als ein Vorgefundenes, so kann ich dabei selbstverständlich nicht an eine Unterscheidung beider Teile des Woltbegriffs in dem wissenschaftlich-erkenntnistheore- tischen Sinne denken. Vorgefunden ist dieser Unterschied nur insofern, als er erfahren wird. Erfahren aber wird er nur dadurch, daß ich alle die zum „Ich-bezeichneten“ ge- hörigen Vorgänge als meine eigenen Erlebnisse fühle, und daß ich über jenen psychophysischen Organismus un- mittelbarer durch meinen Willen verfügen kann, als über die nicht zu ihm gehörige Welt. Außerdem verlegt zwar die natürliche Weltauffassung die Wahrnehmung des Objekts selbst nicht in den Menschen hinein, aber sie macht 1) „Der menschliche Weltbegriff“ S. 56. Digitized by Google 16 Kapitel I. frühe die Erfahrung, daß von diesem Wahrgenommenen, z. B. dem Baum, auch nachdem das Objekt verschwunden ist, „in dem“ Wahrnehmenden ein Bild davon zurückgeblie- ben ist, das beliebig z. B. im Traum „in ihm“ auftauchen kann. Daraus geht hervor, daß der Unterschied zwischen Ich und Umgebung, soweit er überhaupt als vorgefunden bezeichnet werden kann, gerade darauf beruht, daß das „Ich-bezeichneteu in einer unmittelbareren Beziehung zum Vorfindenden steht1), als die Umgebung, und daß auch die „Sachen“ (der Körper) als zu diesem Ich gehörig nur gelten, weil sie in Gefühlen, Wollungen und damit verbundenen Vorstellungen als zu diesem Ich gehörig erlebt werden. Sobald wir also mit der „empiriokritischen Prinzipalkoordi- nation“ durch Analyse der im „natürlichen Weltbegriffe“ liegenden Grundunterscheidung Ernst machen wollen, stoßen wir auf ein mehr oder weniger klar bewußtes, aber jedenfalls vorhandenes psychisches Erleben, zu dessen Erörterung psychologische Voraussetzungen unerläßlich sind. Dies bestätigt Avenarius selbst, wenn er in den „natür- lichen Weltbegriff“ die Hypothese eingeschlossen sein läßt: daß ich den mitmenschlichen Bewegungen eine „mehr als mechanische“ Bedeutung zuschreibe. Denn diese angeb- liche Hypothese, die übrigens im natürlichen Weltbegriff nicht als Hypothese, sondern als zuverlässig sichere Annahme auftritt2), ist von Anfang an nur vorhanden im Sinne einer Deutung der vom Mitmenschen ausgehenden Töne und Ge- räusche als „Aussagen“, die als Äußerungen eines Denkens, Fuhlens, Wollens denselben Sinn haben, wie die ent- sprechenden von mir selbst erzeugten Töne und Geräusche. Avenarius hat daher auch selbst an anderer Stelle3) die im natürlichen Weltbegriff liegende Hypothese sogleich 1) Vgl. hierzu die treffende Kritik des Empiriokritizismus bei Wobberinin, Theologie und Metaphysik 1901 S. 86 ff. 2) Vgl. W. Wundt, Über naiven und kritischen Realismus. Philosophische Studien XII i, 44 ff, 52, 53 f. 3) Der menschliche Weltbegriff S. 7. Digitized by Google Die Voraussetzungen der Erkenntnistheorie. 1? auf die Deutung der mitmenschlichen Bewegungen als Aussagen bezogen. Wie soll es für mich überhaupt einen Unterschied zwischen „Mechanischem“ und „Ameehani- schem“ geben, wenn ich ihn nicht erlebe? Ich erlebe aber niemals bloß das negative „Amechanisehe44, sondern das positive Psychische. Die Introjektion ist also nicht eine Fälschung, sondern ein untrennbarer Bestandteil des ursprünglichen Weltbegriffs. Daraus folgt noch nicht ihre Richtigkeit, wohl aber die Unmöglichkeit, bei einer Grund- legung der Erkenntnistheorie ohne psychologische Voraus- setzungen auszukommen. III. Der in den psychologischen Voraussetzungen der Erkenntnistheorie liegende Zirkel. Haben wir also die von Fries so stark betonte Ab- hängigkeit der Erkenntnistheorie von psychologischen Vor- aussetzungen als eine allgemeingiltige zuzugeben, so scheint damit zunächst nur ein Verhältnis konstatiert zu sein, wie es auch sonst unbeanstandet unter den Wissensgebieten sich findet. Die eine Wissenschaft verwendet Lehnsätze aus der andern. Sobald wir aber die Sonderstellung der Erkenntnis- theorie näher erwägen, so begegnet jene Abhängigkeit schweren Bedenken. Die Erkenntnistheorie beschäftigt sich ja mit dem Erkennen und daher mit den Vorfragen aller Wissenschaft. Die Erkenntnistheorie macht daher in ge- wissem Sinn jede andere wissenschaftliche Disziplin und damit auch die Psychologie erst möglich. Es ließe sich daher etwa der Satz aufstellen: „Jede wissenschaftliche Beobachtung und jede Folgerung in der Psychologie setzt die Giltigkeit der allgemeinen Begriffe und Methoden des Erkennens voraus und hängt von ihr ab“ *). Und doch soll die Psychologie für diese selbe Disziplin, durch die sie erst möglich wird, Vor- 1) Riehl, a. a. 0. II, 7. Elsenh&ns, J. P. Fries und die Kultische Erkenntnistheorie, II. 2 18 Kapitel I. aussetzungen liefern? Bewegen wir uns hier nicht voll- kommen im Zirkel ? Zur genaueren Orientierung ist zunächst zu bemerken, daß ja nicht der gesamte Inhalt der Psychologie als solcher von der Erkenntnistheorie abhängig ist. Die realen psycho- logischen Erkenntnisse entstehen durch die wissenschaft- liche Verarbeitung des gegebenen Tatsachenmaterials. Es kommt also darauf an, was an den Ergebnissen der Psycho- logie von der Erkenntnistheorie abhängig ist. Die Mög- lichkeit der Erkenntnis ist bedingt durch die objektive Gil- tigkeit und durch die Grenzen des Erkennons. Wir werden also erwarten dürfen, daß die Abhängigkeit der Psycho- logie von der Erkenntnistheorie sich auf diese Punkte be- ziehen wird. Auch die Psychologie strebt objektive Giltigkeit ihrer Resultate an, wäre also vom ersten Moment der Unter- suchung an ihrerseits von einer Disziplin abhängig, welche diese objektive Giltigkeit begründet. Aber ist diese Disziplin selbst, die Erkenntnistheorie nicht in demselben Fall? Muß sie ihre Untersuchung nicht mit dem Vertrauen auf die ob- jektive Giltigkeit ihrer Ergebnisse beginnen ? Kontrolliert sie dieses Vertrauen auch nachträglich und analysiert die Gründe derselben, so kann dieses Verfahren doch auch für die Psychologie in Anspruch genommen werden. Wir be- gegnen hier zum erstenmal dem „Zirkel in der Erkenntnis- theorie“, der uns noch näher beschäftigen wird, und müssen uns hier damit begnügen, die Folgerungen daraus für die psychologischen Voraussetzungen zu ziehen. Was ferner die Grenzen des Erkennens betrifft, so gibt es für alle Wissenschaften Gebiete, bei deren Bearbei- tung kein Zweifel darüber obwaltet, daß sie an die Grenzen des Erkennens nicht hinanreichen. Auch für die Psycho- logie besteht ein solches Gebiet, innerhalb dessen sich also jene Voraussetzungen bewegen müssen. Der erkenntnis- theoretischen Untersuchung ist dagegen die Aufgabe vor- zubehalten, ein dem Erkennen etwa unzugängliches Gebiet, z. B. dasjenige der „rationalen Psychologie“ abzugrenzen. Digilized by Google Die Voraussetzungen der Erkenntnistheorie. 19 Eine wichtige Frage ist nun allerdings die, wie weit jene psychologischen Voraussetzungen in die Beweisführung der Erkenntnistheorie hineinreichen. Diese Frage läßt sich aber nur im Zusammenhang mit der Behandlung unseres zweiten Hauptpunktes, der Methode der Erkenntnistheorie beantworten. ß. Die logischen Voraussetzungen der Erkenntnistheorie. I. Die Bedeutung der formalen Logik für die Auffindung der Verstandesbegrifife bei Kant und Fries. Es ist bekannt, welche bedeutende Rolle im System der Kantischen Vernunftkritik die Voraussetzungen aus der formalen Logik spielen. Sie liefern den Leitfaden der Ent- deckung aller reinen Verstandesbegriffe, und die Momente der Urteilsformen, Quantität, Qualität, Relation und Modali- tät, bilden ein viergliedriges Schema, das mit unermüdlicher Konsequenz überall angewandt w'ird, wo es sich darum han- delt, die verschiedenen Seiten eines Problems auseinander zu legen. Daß die Beweisführung, welche die Berechtigung dieses Schemas dartun soll, künstlich und unzulänglich ist, wurde schon frühe erkannt. Der Kern derselben liegt darin, daß der Verstand von den Begriffen keinen anderen Gebrauch machen kann, als daß er dadurch urteilt, daß daher auch die Verstandesbegriffe gefunden wr erden müssen, wenn man die Funktionen der Einheit in den Urteilen vollständig dar- stellen kann. Die Unsicherheit dieser Beweisführung tritt am deutlichsten da hervor, wo Kant seine Abweichungen von der „gewohnten Technik der Logiker“ begründet. Die „unendlichen Urteile“ z. B. werden nach Kant in der herkömm- lichen allgemeinen Logik mit Recht den bejahenden bei- gezählt und machen kein besonderes Glied der Einteilung aus. Aber diese „in Ansehung des logischen Umfanges“ un- endlichen Urteile sind „wirklich bloß beschränkend in An- sehung des Inhalts der Erkenntnis überhaupt, und insofern 20 Kapitel I. müssen sie in der transzendentalen Tafel aller Momente des Denkens in den Urteilen nicht übergangen werden, weil die hierbei ausgeübte Funktion des Verstandes vielleicht in dem Felde seiner reinen Erkenntnis a priori wichtig sein kann“ *). Einerseits also wird die traditionelle Tafel der Urteile im we- sentlichen übernommen, andererseits wird als Kriterium der- selben die Beziehung auf den Inhalt der Erkenntnis ein- geführt, deren synthetische Funktionen doch nur unter der Bedingung der Vollständigkeit und Zuverlässigkeit jenes aus der formalen Logik stammenden Leitfadens richtig auf- gefunden werden können2). Von den bloßen Formen des Denkens aus sind wir mit einem Sprunge im Erkennen, ohne daß dieser Übergang hinreichende Rechtfertigung findet. Auch Fries glaubt diesen Mangel zu erkennen. Wie wir gesehen haben, tadelt er an Kant, daß er sich nie die Frage stellte, wodurch denn in der menschlichen Erkenntnis die Analogie zwischen der analytischen und der syntheti- schen Einheit, die er richtig erkannte, bewirkt werde ; und er meint diese Lücke durch seine Theorie auszufüllen, nach welcher die Denkformen, diese logischen Formen der analy- tischen Einheit, die Hilfsmittel des denkenden Ver- standes sind, durch welche er sich der metaphysischen, in der unmittelbaren Erkenntnis der Vernunft vorhandenen Formen bewußt wird. Wir sollen dadurch nicht nur ein- sehen, wie und warum der Kantische Leitfaden uns die vollständige Einsicht in das System der metaphysischen Grundbegriffe verschaffen müsse, sondern zugleich auch, wie diese in der gedachten Erkenntnis gegebene Vereini- gung der analytischen und synthetischen Formen zu unserer anschaulichen Erkenntnis in Beziehung stehe3). Fries hat sich auch der Aufgabe nicht entzogen, diese analytischen Formen in einem System der Logik vollständig darzustellen, und seine transzendentale Deduktion liefert, im Unterschied 1) Kr. d. r. V. S. 90 f. 2) Vgl. Riehl, Der philos. Kritizismus I, 362. 3) N. Kr. II, 26 f. Digitlzed by Google Die Voraussetzungen der Erkenntnistheorie. 21 von derjenigen Kants, eine Rechtfertigungauch der einzelnen Kategorien, so daß die Deduktion zugleich eine Bestätigung des mit Hilfe des „Leitfadens“ gewonnenen Systems bildet. Aber auch sein Gedankengang läßt die Frage übrig, warum denn das „System der metaphysischen Grundbegriffe“ mit den Formen sich decken soll, durch die wir uns ihrer be- wußt werden. Gerade seine scharfe Scheidung beider läßt die Möglichkeit einer Verschiedenheit beider Systeme offen, die eine solche Verwendung der analytischen Formen als „Leitfaden“ ausschliessen würde. II. Die Sonderstellung der logischen Voraussetzungen gegenüber der Erkenntnistheorie. Aber ist nicht alles Erkennen ein Denken? Sind es nicht stets Urteile, in denen wir die Erkenntnis besitzen? Wenn also auch die synthetischen Funktionen der Erkennt- nis sich nicht unmittelbar aus einer Tafel der Urteilsformen ableiten ließen, setzt nicht doch alle Erkenntnistheorie eine Einsicht in das Wesen des Urteils und damit eine Logik voraus, in deren Mittelpunkt die Untersuchung des Urteils steht ? Diese Frage scheint die einfachste Beantwortung da zu finden, wo beide Disziplinen, die Logik und die Er- kenntnistheorie als untrennbar gelten und daher nur Ein Verfahren ihnen zugrunde gelegt wird. Nach Schuppe1) lehrt die Logik nicht etwa eine subjektive Verf ah rungs weise des Denkens (ohne Objekte) — die ist gar nicht denkbar — , sondern „gibt inhaltliche Erkenntnisse, natürlich allgemein- ster Art, vom Seienden überhaupt und seinen obersten Arten.“ Wenn Denken und Erkennen oft so unterschieden werden, daß Denken die sog. subjektive Tätigkeit in Ab- straktion von ihrem Objekte sei, während in der Anwendung auf das Objekt oder der Ergreifung des Objektes von ihr die 1) W. Schuppe, Grundriß der Erkenntnistheorie und Logik 1894, S. 4 ff. 22 Kapitel I. Erkenntnis bestehe, so sei jene subjektive Tätigkeit ohne Ob- jekt eine Fiktion, und einen Akt der Anwendung kennen wir nicht. „Wer Denken als Instrument und Erkenntnis als das damit Hergestellte bezeichnet, hat zu sagen, was jedes von ihnen ohne das andere ist, wie sie sich unter- scheiden, und vor allem, wie das Instrument gebraucht wird.“ „Zum Begriff und Wesen des Denkens gehört es, daß es einen Inhalt oder Objekt hat, und gehört der Aus- spruch, daß dieser Inhalt wirklich Seiendes ist. Was eine rein subjektive Denktätigkeit ohne oder noch ohne Objekt (nach Analogie der Arm- und Handbewegungen, noch ehe sie ein Objekt erreicht haben) sein könnte, ist absolut uner- findlich. Unterscheiden wir sie dennoch von ihrem Inhalte als dem Gedachten, so haben wir offenbar die abstrakten Momente eines Ganzen vor uns, welche jedes für sich allein nicht existieren können. Das des Denkens wird völlig leer, und das des Inhaltes ohne sein Gedachtwerden zeigt sich auch wider Wissen und Willen bei jedem Versuch seiner Feststellung als Gedachtes“ 1). Aber geschieht es nicht auch sonst oft genug, daß wir zum Zwecke der Umgrenzung eines Wissensgebietes „die abstrakten Momente eines Ganzen“ vor uns stellen, „welche jedes für sich allein nicht existieren können“? Wenn wir die Anatomie von der Physiologie, die Kunstgeschichte, Wirtschaftsgeschichte, Literaturgeschichte von der allge- meinen Geschichte, die Physik von der Chemie getrennt be- handeln, so tun wir grundsätzlich nichts anderes. Wir iso- lieren einen Ausschnitt der Wirklichkeit oder ein Geschehen innerhalb desselben, das für sich allein nicht vorkommt. Wir trennen Gegenstände oder Zustände oder Vorgänge mit Hilfe unserer Abstraktion, die „ohne einander überhaupt gar nicht existieren können“*). Daß es sich hier um das Denken selbst handelt, macht keinen prinzipiellen Unter- schied. Wir können ganz wohl die subjektive Seite des Er- kenntnisvorgangs für sich betrachten, und wir können das 1) a. a. 0. S. 6f. 2) a. a. 0. S. 7. Digitized by Google Die Voraussetzungen der Erkenntnistheorie. 23 Hauptmerkmal angeben, durch welches sich dieselbe von dem Erkennen überhaupt unterscheidet. Es ist die Bezie- hung zum Gegenstand der Erkenntnis, von welcher wir in jener formal-logischen Untersuchung absehen. Und wir werden nun allerdings diese Untersuchung, vom systematischen Aufbau der Wissenschaft aus betrach- tet, als eine der Voraussetzungen der Erkenntnistheorie an- zusehen haben. Vermögen wir überhaupt die subjektive Seite des Erkennens für sich zu untersuchen, so muß es auch geschehen, nicht bloß im Interesse der Arbeitsteilung und angesichts der Möglichkeit, von dieser uns unmittelbar zu- gänglichen Seite her den einen Teil des ganzen Gebiets auf- zuhellen, sondern auch weil wir die Formen des richtigen Denkens, mit welchen die Logik sich beschäftigt, genau kennen müssen, um ihre Tragweite für den Inhalt der Er- kenntnis zu übersehen. Wir müssen wissen, was das Urteil ist, um sagen zu können, was es für unsere Erkenntnis von Gegenständen bedeutet. Dadurch wird die Logik noch nicht in dem Sinne von Kant und Fries zur Voraussetzung der Erkenntnistheorie, so daß die Grund- begriffe der Erkenntnis aus einer von der formalen Logik gelieferten Tafel der Urteile abzuleiten wäre. Wir bleiben uns bewußt, daß wir dabei eine Seite des Erkenntnis- prozesses isoliert haben, die in dieser Absonderung nicht vorkommt, und daß die Logik daher nur einen Teil einer allgemeinen Erkenntnislehre bildet, aber wir unter- ziehen dieses Sondergebiet einer selbständigenUntersuchung und verfahren damit nicht anders als es auch sonst im Reiche des Wissens geschieht. III. Der in der wechselseitigen Abhängigkeit der Logik und der Erkenntnistheorie liegende Zirkel Allerdings tritt uns hier der Einwurf des Zirkels aufs neue entgegen. Die Logik, welche die Formen des richtigen Denkens zu ihrem Objekte hat, soll die Voraussetzung der Erkenntnistheorie bilden, die ihrerseits die Möglichkeit einer 24 Kapitel I. allgemeingiltigen Erkenntnis von Objekten überhaupt unter sucht? Aber hier tritt es noch deutlicher hervor, als auf dem Boden der psychologischen Voraussetzungen, daß dieser Einwurf die Erkenntnistheorie selbst mittrifft. Wenn diese selbst beim Beginn ihrer Untersuchung die Möglichkeit einer allgemeingiltigen Erkenntnis von Objekten voraussetzen muß, so kann aus dieser Voraussetzung keine Waffe gegen die Logik geschmiedet werden. Wir haben dann diesen Ein- wurf im Zusammenhang mit den „erkenntnistheoretischen Voraussetzungen der Erkenntnistheorie“ zu behandeln. C. Die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen der Erkenntnistheorie. Der schwerfällige Ausdruck: „Erkenntnistheoretische Voraussetzungen der Erkenntnistheorie“ bezeichnet in der Tat die einzigartige wissenschaftliche Situation, in der wir uns befinden, wenn wir mit einer erkenntnistheoretischen Untersuchung beginnen. Es handelt sich ja nicht um die Voraussetzungen des Erkennen s, mit diesen beschäftigt sich die Erkenntnistheorie selbst, sondern es handelt sich wirklich um die Frage, mit welchen Voraussetzungen er- kenntnistheoretischer Art die Erkenntnistheorie an ihre eigene Aufgabe herantritt. Wir können dreierlei solcher Voraussetzungen unterscheiden: 1. hinsichtlich des Aus- gangspunktes der Untersuchung, 2. hinsichtlich der Unter- suchung selbst und 3. hinsichtlich der Mitteilung der Unter- suchung und ihrer Ergebnisse. I. Die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen hinsichtlich des Ausgangspunktes der Untersuchung. 1. Das Erkennen als „Objekt“. Jede Untersuchung, also auch die erkenntnistheore- tische, bedarf eines Ausgangspunktes tatsächlicher Natur. Das Erkennen muß Tatsache sein, um untersucht werden Digitized by Google Die Voraussetzungen der Erkenntnistheorie. 25 zu können. Sofern die Untersuchung auf diese Tatsache gerichtet ist, könnte man auch von einem „Objekt“ der- selben reden, wenn wir damit nicht mehr als den Umstand zum Ausdruck bringen wollen, daß etwas zum Gegen- stand der Untersuchung wird. In diesem Sinne wird selbst für Kant das „Ich denke“ der reinen Apperzeption zum Ob- jekt, so energisch er auch in den „Para logismen“ die Mög- lichkeit abweist, dieses transzendentale Subjekt aller Vor- stellungen als einen Gegenstand zu betrachten, über wel- chen Aussagen wie über andere Gegenstände gemacht wer- den könnten. Schopenhauer drückt sich noch schärfer aus. Nach ihm gibt es überhaupt kein Erkennen des Er- ken ne ns, „weil dazu erfordert würde, daß das Subjekt sich vom Erkennen trennte und nun doch das Erkennen er- kennte, was unmöglich ist.“ Auf den Einwand: „ich er- kenne nicht nur, sondern ich weiß doch auch, daß ich er- kenne“ gibt er die Antwort: „Dein Wissen von deinem Er- kennen ist von deinem Erkennen nur im Ausdruck unter- schieden. „„Ich weiß, daß ich erkenne““, sagt nicht mehr als „„Ich erkenne““ und dieses, so ohne weitere Bestim- mung, sagt nicht mehr als „„Ich““. Wenn dein Erkennen und dein Wissen von ihm zweierlei sind, so versuche nur einmal jedes für sich zu haben, jetzt zu erkennen, ohne darum zu wissen, und jetzt wieder bloß vom Erkennen zu wissen, ohne daß dies Wissen zugleich das Erkennen sei. Freilich läßt sich von allem besonderen Erkennen ab- strahieren und so zu dem Satz „„Ich erkenne““ gelangen, welches die letzte uns mögliche Abstraktion ist, aber iden- tisch mit dem Satz „für mich sind Objekte“ und dieser iden- tisch mit dem „Ich bin Subjekt“, welcher nicht mehr ent- hält, als das bloße „„Ich““1). Nach Schopenhauer erkennt daher das Subjekt sich nur als ein Wollendes, nicht aber als ein Erkennendes. Man könnte schon in diesen Ausführungen Schopen- hauers selbst einen Beweis dafür sehen, daß es möglich ist, 1) Schopenhauer, „Über den Satz vom Grunde“ § 41. S. W. herausg. von Grisebach III, 158 f. 26 Kapitel I. ♦ das Erkennen zu seinem eigenen Objekt zu machen. Es genügt aber, darauf hinzuweisen, daß, wenn wir auch Schopenhauers Gründen zunächst beistimmen, doch min- destens das Erkennen anderer Menschen Objekt unseres Erkenncns werden kann. Da wir aber gleiche Grundzüge der Organisation in der menschlichen Gattung auch sonst überall voraussetzen, so könnten wir von hier aus auf unser eigenes Erkennen schließen. Es bedarf aber dieses Um- weges gar nicht. Jede Erkenntnistheorie ist ein Zeugnis dafür, daß was Schopenhauer auf diesem künstlichen Wege als unmöglich dartun will, ein Erkennen des Erkenncns, tatsächlich besteht. Wenn also das Erkennen als tatsächlich Vorhandenes vorausgesetzt werden muß, um untersucht werden zu können, so entsteht nun die Frage: was liegt in dieser Voraussetzung, was ist alles in ihr mit eingeschlossen? Hören wir Fries, so liegt schon im tatsächlichen Er- kennen, von dessen Vorhandensein wir ausgehen, alles als Voraussetzung, dessen Erforschung und Begründung sonst erst von der wissenschaftlichen Untersuchung erwartet wird. Die Empfindung wird nicht erst als „die Wirkung eines Gegenstandes auf die Vorstelluugsfähigkeit, sofern wir von demselben affiziert werden“, aufgefaßt, wodurch sich die Hauptschwierigkeiten der Erkenntnistheorie schon in diesem Ausgangspunkt konzentrieren, sondern die Anschauung in der Empfindung hat für sich allein unmittelbare Evidenz. In der Empfindung ist von vorneherein ein Anscliauen von etwas außer mir oder einer Tätigkeit in mir enthalten. Die Vorstellung eines Gegenstandes oder eines Objektiven wird nicht erst durch Reflexion oder sonst hinterher hinzuge- bracht, sondern ist schon gleich von Anfang an vollständig dabei1)- Nur durch diese Beschaffenheit der Empfindung, nach welcher sie unmittelbar die Anschauung gegen- wärtiger Gegenstände in sich enthält, werde eine feste Grundlage für die Theorie der Erkenntnis erhalten, indem 1) N. Kr. I, 88 f. Digitized by Google Die Voraussetzungen der Erkenntnistheorie. 27 wir, von der Sinnesanschauung ausgehend, Schritt für Schritt zeigen können, wie man von hier aus durch Einbildungs- kraft und Denken zur vollständigen Erkenntnis gelangt. „Aus Geisteszuständen, die noch keine Erkenntnis ent- halten, zu erklären, wie der Gegenstand hinzukommt und so Erkenntnis entsteht, ist eine unauflösliche und zweck- widrige Aufgabe. Denn das Erkennen ist unmittelbar innere Qualität.“ Der Gegenstand ist „immer schon bei der Er- kenntnis, das Erkennen selbst aber läßt sich von nichts mehr ableiten“ l). Aber auch die Grundlage für jenes Weiter- schreiten des Erkennens von jenem Ausgangspunkt aus bis zur Vollendung desselben haben wir als tatsächlich anzu- nehmen; Einheit, Verbindung, Notwendigkeit sind Tatsachen in unserer Erkenntnis, die wir voraussetzen müssen, wenn wir imstande sein sollen, eine Theorie des Erkennens voll- ständig zu geben2). Haben wir wirklich so weit zu gehn? Sind wir genötigt, ein objektiv gütiges Erkennen als vorhanden vor- auszusetzen, um überhaupt Erkenntnistheorie trei- ben zu können? Aus einer kritischen Bearbeitung der Friesischen Philosophie ergibt sich unmittelbar diese Frage- stellung. Kehren wir zunächst zu Kant selbst zurück. Welche Voraussetzungen erkeuntnistheoretischer Art finden sich bei ihm ? 2. Die „Erfahrung“ als Ausgangspunkt der Kantischen Erkenntnistheorie. Wir werden dieselben am deutlichsten erkennen, wenn wir die Prämissen suchen, welche der im Mittelpunkt der ganzen Kritik der Vernunft stehenden Beweisführung, der transzendentalen Deduktion zugrunde liegen. Das Prinzip der ganzen Deduktion der Begriffe a priori liegt darin, daß sie als Bedingungen a priori der Möglichkeit der Erfahrung 1) N. Kr. I, 93, vgl. I, 349. 2) N. Kr. I, 237 f. Digitized by Google 28 Kapitel I. erkannt werden müssen. Denn „Begriffe, die den objektiven Grund der Möglichkeit der Erfahrung abgeben, sind eben darum notwendig.“ Sie sind es aber natürlich nur dann, wenn Erfahrung möglich sein muß. Für den, der diese Notwendigkeit be- streitet, wäre die ganze Beweisführung hinfällig. Sie ist triftig nur, wenn Erfahrung eine unumstößliche Tatsache ist und eben darum von jedermann auch das, was sie möglich macht, als giltig anerkannt werden muß. Erfahrung ist also die „Urtatsache“ *) von welcher er ausgeht, und in Be- ziehung auf welche allein seine ganze Erkenntniskritik durchführbar ist. Sie ist im Grunde genommen auch die einzige er- kenntnistheoretische Voraussetzung der Kritik der reinen Vernunft1 2). Andere Annahmen, die man hierher gerechnet hat, sind, methodologisch betrachtet, nicht als besondere Voraussetzungen zu zählen. Nach Vaihinger gehört außer- dem hierher: Die Unterscheidung von Stoff und Form der Erkenntnis und die damit zusammenhängende Annahme, daß aller Stoff uns nur durch die Sinnlichkeit gegeben wer- den könne, ferner der Satz: „Strenge Allgemeinheit und Notwendigkeit stammen nicht aus der Wahrnehmung (der Erfahrung im gewöhnlichen Sinne) sondern aus der reinen Vernunft“, der sich dann wieder in zwei Prämissen teilt: (1.) Sätze und Begriffe, wie der der Kausalität können nicht durch bloße Kombination sinnlicher Eindrücke entstehen, (2.) „Erfahrung“ im prägnanten Sinne kommt nicht durch bloße Kombination sinnlicher Eindrücke zustande3). Alle diese besonderen Voraussetzungen bilden teils einen Bestandteil der Grundvoraussetzung der Erfahrung, teils stellen sie die Bedingungen dar, unter denen die Ur- 1) K. Fischer, Kritik der Kantischen Philosophie. S. 91, 99 f. 2) Auch Riehl sagt: „Der Begriff der Erfahrung ist der feste Grund, die einzige Voraussetzung der Kantischen Erkenntnis- theorie“, wobei freilich unter Betonung des „Begriffes“ die psycho- logischen Voraussetzungen abgelehnt werden. Philos. Kritizismus 1,303. 3) H. Vaihinger, Kommentar I, 425 ff. Die Voraussetzungen der Erkenntnistheorie. 29 tatsache der Erfahrung allein denkbar ist. Die Zerlegung in Stoff und Form macht verständlich, wie in dieser „Er- fahrung“ ein „Gegebenes“ sein und ihr doch zugleich strenge Allgemeinheit und Notwendigkeit zukommen könne. Daß strenge Allgemeinheit und Notwendigkeit nicht aus der Wahrnehmung stammen können, setzt Kant nicht einfach voraus, sondern sucht er aus dem Wesen der Wahrnehmung zu beweisen. Allerdings lesen wir in den Prolegomena, wo Kant von dem synthetischen Verfahren der Kritik der rei- nen Vernunft im Gegensatz zu dem analytischen der Prole- gomena redet: „Diese Arbeit ist schwer und erfordert einen entschlossenen Leser, sich nach und nach in ein System hinein zu denken, das noch nichts als gegeben zugrunde legt, außer die Vernunft selbst, und also, ohne sich auf irgend ein Faktum zu stützen, die Erkenntnis aus ihren ur- sprünglichen Keimen zu entwickeln sucht“ *). Und in der Kritik der praktischen Vernunft2) heißt es: „Was Schlim- meres könnte aber diesen Bemühungen wohl nicht begegnen, als wenn jemand die unerwartete Entdeckung machte, daß es überall gar kein Erkenntnis a priori gebe noch geben könne. Allein es hat hiermit keine Not. Es wäre ebenso- viel, als ob jemand durch Vernunft beweisen wollte, daß es keine Vernunft gebe“. Da nach Kant Anschauung und da- mit Erkenntnis nur stattfindet, sofern uns ein Gegenstand „gegeben“ wird und das „Gegebensein“ in dieser prägnan- ten Bedeutung dem Erfahrungsstoff als solchem zukoramt, so kann jene Äußerung, daß sein System „noch nichts als gegeben zugrunde legt, außer die Vernunft selbst“ nicht im streng ausschließenden Sinne gemeint sein. Es handelt sich hier um die Darstellungsform des Systems der Erkenntnis- kritik und um die Voraussetzungen, welche in diese Dar- stellungsweise hereingenommen werden. Das Gegebensein des Gegenstandes kommt hier als selbstverständliche Vor- aussetzung, die sowohl für die synthetische Darstellung der Kritik der reinen Vernunft, als für die analytische der Prole- 1) S. W. III, 27. 2) Kr. d. prakt. V., S. 11. Digitized by Google 30 Kapitel I. gomena gleichmäßig besteht, nicht in Betracht, muß aber, wo es sich grundsätzlich um eine vollständige Aufzählung sämtlicher Voraussetzungen der Erkenntniskritik handelt, mit genannt werden. Dann aber haben wir auf der einen Seite den Erfahrungsstoff, und auf der anderen Seite die durch die „Vernunft“ (im weitesten Sinne dieses Begriffes) re- präsentierte Erfahrungsform, die zusammen das Erfahrungs- ganze ausmachen. Wenn wir also auf die ersten Voraus- setzungen zurückgehen, stoßen wir stets auf die „Erfah- rung“ als ursprünglichen Ausgangspunkt. Die Zerlegung dieser Erfahrung in Stoff und Form ist schon ein erster Schritt in der kritischen Bearbeitung dieses vorliegenden Materials, und nur in einem eingeschränkten Sinne, vom Ge- sichtspunkt der Frage einer bestimmten Darstellungsweise aus, kann die eine Seite, das die Form repräsentierende Ver- mögen die einzige Voraussetzung genannt werden. Die et- waige Entdeckung, daß es gar keine Erkenntnis a priori ge- ben könne, wäre deshalb so „schlimm“ für die kritischen Be- mühungen, weil dann die strenge Allgemeinheit und Not- wendigkeit, welche der „Erfahrung im prägnanten Sinne“ eigen ist, ihr gar nicht zukommen würde d. h. weil es dann Erfahrungserkenntnis gar nicht geben würde. 3. Der Sinn des Kantischen Erfahrungsbegriffs als der Grundvoraussetzung seiner Erkenntnis- theorie. Bleiben wir also dabei, daß die eigentliche Grund- voraussetzung der Vernunftkritik, soweit es sich um den Ausgangspunkt der Untersuchung handelt, die „Erfah- rung“ ist, so erhebt sich die weitere Frage: in welchem Sinne die Erfahrung Voraussetzung ist? Natürlich ist sie es nicht etwa bloß in derjenigen Bedeutung des Begriffs, welche dem „ Empirismus“ zugrunde liegt, und die auch Kant vielfach, oft unmittelbar, neben der höheren Bedeutung des Wortes gebraucht. Gleich in dem berühmten Satze, mit welchem Digitized by Google Die Voraussetzungen der Erkenntnistheorie. 31 die Einleitung der zweiten Ausgabe der Kritik beginnt1), „daß alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange, da- ran ist gar kein Zweifel“, ist das Wort in diesem Sinne ge- meint, wie aus der Fortsetzung hervorgeht: „Denn wodurch sollte das Erkenntnisvermögen sonst zur Ausübung erweckt werden, geschähe es nicht durch Gegenstände, die unsere Sinne rühren und teils von selbst Vorstellungen bewirken, teils unsere Verstandestätigkeit in Bewegung bringen, diese zu vergleichen, sie zu verknüpfen oder zu trennen, und so den rohen Stoff sinnlicher Eindrücke zu einer Erkenntnis der Gegenstände zu verarbeiten, die Erfahrung heißt?“ Der Zeit nach geht also keine Erkenntnis in uns vor der „Erfahrung vorher, und mit dieser fängt alle an“. Erfah- rung in der Bedeutung des „rohen Stoffs sinnlicher Ein- drücke“ ist also gewiß von jeder Erkenntnis vorauszusetzen, aber sie ist nur ein Bestandteil derjenigen von Kant un- mittelbar daneben eingeführten Erfahrung im prägnanten Sinne, die wir als erkennende Menschen schon vorfinden, und die aus der Verarbeitung dieses Rohstoffs durch die Verstandestätigkeit entstanden ist. Aber wenn nun die Erfahrung im Sinne des durch den Verstand bearbeiteten Rohstoffs der Empfin- dung die Urtatsache bildet, von welcher die Kritik der reinen Vernunft ausgeht, so kann in diesem Ausgangspunkt doch nicht schon die wissenschaftliche Erkenntnis der Formen dieser Verarbeitung enthalten sein. Denn sonst wäre die Deduktion ein vollkommener Zirkelbeweis, da sie die objektive Giltigkeit dieser Formen aus dem Prinzip der Möglichkeit der Erfahrung beweisen, dieselben Formen aber als objektivgiltige Bestandteile derselben Erfahrung schon voraussetzen würde. Es bleibt also nichts anderes übrig, als anzunehmen, daß es nicht die philosophisch bearbeitete und in ihre Bestandteile bereits gesonderte „Erfahrung“ des Erkenntnis- theoretikers ist, welche den Ausgangspunkt der Erkenntnis- 1) Kr. d. r. V. G47. Digitized by Google 32 Kapitel I. theorie bildet, sondern die gemeine Erfahrung, welche als Erkenntnis von Gegenständen jedem normal organi- sierten Menschen eigen ist, welche aber auch dem erkennt- nistheoretisch Reflektierenden für die Praxis des Lebens stets selbstverständliche Voraussetzung bleibt und die Grund- lage seines Reflektierens selbst ausmacht. Alle syntheti- schen Formen, welche diese gemeine Erfahrung, welche allgemein anerkannte Tatsache ist, erst möglich machen, sind aber damit als objektiv giltig bewiesen. 4. Die Voraussetzung der objektiven Giltigkeit der „reinen Mathematik“ und „reinen Naturwissen- schaft“ in ihrem Verhältnis zur gemeinen Erfahrung. Aber setzt Kant nicht tatsächlich doch mehr voraus? Glaubt er nicht schon zu Beginn der Prolegomena „mit Zu- versicht“ sagen zu können, „daß gewisse reine synthetische Erkenntnisse a priori wirklich und gegeben sind, nämlich reine Mathematik und reine Naturwissenschaft“, da beide Sätze enthalten, „die teils apodiktisch gewiß durch bloße Vernunft, teils durch die allgemeine Einstimmung aus der Erfahrung, und dennoch als von Erfahrung unabhängig durchgängig anerkannt werden“1). Und daraus wird die Folgerung gezogen: „Wir haben also einige, wenigstens unbestrittene, synthetische Erkenntnis a priori, und dürfen nicht fragen, ob sie möglich sei (denn sie ist wirk- lich), sondern nur wie sie möglich sei, um aus dem Prin- zip der Möglichkeit der gegebenen auch die Möglichkeit aller übrigen ableitcn zu können.“ Von dieser Voraussetzung aus würde allerdings das ganze kritische Verfahren in einem andern Lichte erschei- nen. Die transzendentale Deduktion wäre keine Beweis- führung mehr für die objektive Giltigkeit der Erkenntnis, sondern nur eine Erklärung der bereits vorhandenen objek- l) S. W. III, 27. Digitized by Google Die Voraussetzungen der Erkenntnistheorie. 88 tiven Gütigkeit. Nun ist zuzugeben, wie auch in der Kontro- verse über diesen Punkt in der Regel hervorgehoben wird, daß jener Standpunkt der Prolegomena nach Kant selbst durch das von der synthetisch angelegten Kritik der reinen Vernunft abweichende analytische Verfahren dieser Erläuterungs- schrift bedingt ist. Die Kritik der reinen Vernunft sucht, „ohne sich auf irgend ein Faktum zu stützen“, die Erkenntnis „aus ihren ursprünglichen Keimen zu entwickeln“, die Prolego- mena müssen sich als „Vorübungen“ auf etwas stützen, das man schon als zuverlässig kennt, und von wo man mit Zu- trauen ausgehen und zu den Quellen aufsteigen kann, welche man noch nicht „kennt“, und dieses „Etwas“ ist eben das „Faktum“ der reinen Mathematik und der reinen Natur- wissenschaft. Man kann daher mit Recht sich darauf berufen, die Prolegomena seien kommentierend, nicht grundlegend, und so aufgefaßt, habe ihr Verfahren, das als unabhängig angesehen, der völligen Sicherheit und Geschlossenheit ent- behrte, unleugbaren Wert1 2), oder man kann betonen, daß Kant in diesem Werke nicht das System, sondern eine Ein- führung dazu gebe, welche seinen eigenen findenden Ge- dankengang wiederhole, welche also nicht mit dem objek- tiven Verfahren der Kritik selbst gleichgesetzt werden dürfe *). Aber diese Anknüpfung an den andersartigen Zweck der Prolegomena und das sich daraus ergebende analytische Verfahren der Prolegomena reicht doch nicht völlig aus, die Schwierigkeit zu beseitigen. Zu deutlich und unmiß- verständlich hat Kant in der Einleitung der zweiten Aus- gabe der Kritik der reinen Vernunft denselben Standpunkt eingenommen. Denn auch dort wird von der „reinen Mathe- matik und der reinen Naturwissenschaft“ gesagt: „Von diesen Wissenschaften, da sie wirklich gegeben sind, läßt sich nun wohl geziemend fragen: wie sie möglich sind; denn daß sie möglich sein müssen, wird durch ihre Wirklichkeit be- 1) Itiehl, Philos. Kritizismus I, 342. 2) Windelband, Geschichte der neueren Philosophie II, 53. Elsenhana, J. F. Fries und die K&ntlsche Erkenntnistheorie, U. 3 Kapitel 1. & wiesen“ *). Und zwar sind diese Wissenschaften nicht etwa nur als psychologische Gebilde ohne objektive Giltigkeit „wirklich gegeben“. Denn sie unterscheiden sich eben als gütige Wissenschaften von der „Metaphysik“, die, „wenn gleich nicht als Wissenschaft, doch als Naturanlage wirk- lich“ ist. Will man hier auch geltend machen, wie dies z. B. Riehl2) tut, „daß erst in die Einleitung der zweiten Auflage zugleich mit der Formulierung des kritischen Pro- blems andere, zum Teil wörtliche Anführungen aus den Prolegomenen übergegangen sind, zum Beweis, daß die Re- flexionen auf Mathematik und Naturwissenschaft in der be- stimmten Weise der Erläuterungsschrift von späterem Da- tum sind und nicht zu den ursprünglichen Bestandteilen des kritischen Denkens gehören“, so bleibt doch die Tat- sache bestehen, daß Kant in der authentischen endgiltigen Fassung der Kritik von der Voraussetzung jener Wissen- schaften als objektiv gütiger, deren Möglichkeit gar nicht bewiesen zu werden braucht, ausdrücklich ausgeht. Dagegen ist unser früher gewonnenes Ergebnis viel- leicht geeignet, auf diese Schwierigkeit ein Licht zu werfen. Es hat sich uns gezeigt, daß die transzendentale Deduktion nur dann beweiskräftig ist, wenn die objektiv gütige „Er- fahrung“ als „wirklich“ bereits vorausgesetzt wird, und daß diese vorausgesetzte Erfahrung keine andere als die ursprüng- liche Erfahrung, als die im „gemeinsten Verstandesgebrauch“ vorliegende sein kann 3). Es handelt sich also nicht darum, 1) Kr. d. r. V. S. 655. 2) a. a. 0. I, 341. 3) Es bedarf keiner besonderen Ausführung darüber, daß diese Voraussetzung des „gemeinsten Verstandesgebrauches“ eben als Ausgangspunkt, an weichendes kritische Verfahren anknüpft, von der beides identifizierenden Philosophie des common sense, die Kant in den Prolegomena (S. W. III, 8) geißelt, völlig verschieden ist. Dadurch unterscheidet sich auch die oben vertretene Auffassung von derjenigen Nelsons in den „Abhandlungen der Fries’schen Schule, Neue Folge“, mit dem sich E. Cassirer (Der kritische Idealismus und die Philosophie des „gesunden Menschenverstandes“, Philos. Abhand- lungen, herausgeg. von Cohen und Natorp I, S. 16 f.) auseinander- setzt. Seiner Verurteilung der Methode und Kampfweise der „Ab- Digitlzed by Google Die Voraussetzungen der Erkenntnistheorie. 36 die objektive Giltigkeit einer Erkenntnis überhaupt zu be- weisen, sondern darum, die objektive Giltigkeit der synthe- tischen Formen aufzuzeigen, welche mit Hilfe des die ur- sprüngliche Erfahrung zergliedernden kritischen Verfahrens aufgefunden worden sind. Von hier aus ist es kein allzu- weiter Schritt, auch die objektive Giltigkeit der „reinen Mathematik“ und der „reinen Naturwissenschaft“ voraus- zusetzen. Daß sie möglich sind, wird durch ihre Wirklichkeit bewiesen. Indem aber das „Wie“ ihrer Möglichkeit auf- gezeigt wird, wird eben damit die objektive Giltigkeit der apriorischen Funktionen bewiesen *), welche als Grundlagen jener Wissenschaften die Kritik der Vernunft auffindet. Daß es eine objektiv gütige Erfahrung und objektiv gütige Sätze der Mathematik und Naturwissenschaft überhaupt gibt, nimmt Kant von vornherein an; welche apriorischen Funktionen ihnen aber zugrunde liegen, und daß gerade diese in ihrer Vollständigkeit aufgefundenen Formen ob- jektiv gütig sind, und worin diese objektive Giltigkeit be- steht, bedarf des kritischen Nachweises. Auch dem Skeptiker gegenüber ist kein anderes Ver- fahren möglich, als aus der Tatsache, daß er selbst Erkennt- nis von Gegenständen anerkennt, ihm gegenüber die Folge- rungen zu ziehen und zu zeigen, unter welchen apriorischen Bedingungen dies allein möglich ist. Kant stellt daher auch, gelegentlich in betreff der Vor- aussetzung, daß es „notwendige und im strengsten Sinne allgemeine, mithin reine Urteile a priori, im menschlichen Erkenntnis wirklich gebe“, die Wissenschaft und das ge- meine Bewußtsein auf eine Linie, wenn er zum Beleg da- für sagt: „Will man ein Beispiel aus Wissenschaften, so darf man nur auf alle Sätze der Wissenschaft hinaussehen, will man ein solches aus dem gemeinsten Verstandcs- gebrauclie, so kann der Satz, daß alle Veränderung eine handlungen der Fries’schen Schule“ schließe ich mich im übrigen bei aller Abweichung meines Standpunktes in der später zu erörtern- den Methodenfrage völlig an. (Vgl. dazu den I. Teil dieses Werkes.) 1) Vgl. Vaihinger, Kommentar I, 397. 36 Kapitel I. Ursache haben müsse, dazu dienen“ 1). Immerhin bildet das eigentliche letzte Bollwerk, auf welches der Kritiker der Er- kenntnis sich zurückziehen muß, wenn von dem Skeptiker die äußeren Wälle genommen sind, die gemeine Erfahrung. Der Skeptiker mag gewisse Sätze der reinen Naturwissen- schaft, vielleicht auch die unbedingte Giltigkeit der Ma- thematik bestreiten wollen. Er wird aber nicht bestreiten können, daß im „gemeinsten Verstandesgebrauche“ auch für ihn der Satz feststeht: „Die Sonne ist durch ihr Licht die Ursache der Wärme“ 2), und die Deduktion weist ihm nach, welche reinen Verstandesbegriffe er als Bedingungen der Möglichkeit dieser als „wirklich“ nicht zu leugnenden Erfahrung für objektiv giltig anerkennen muß. Wir sehen also, was aus dem Prinzip der Möglichkeit der Erfahrung als Prinzip der transzendentalen Deduktion gefolgert werden muß, wenn die Deduktion beweiskräftig sein soll: daß im „gemeinsten Verstandesgebrauche“ eine objektiv gütige Erkenntnis als unbestrittene Tatsache vor- ausgesetzt wird, das bestätigt sich von verschiedenen Seiten her. 5. Der parallele Ausgangspunkt der Kritik der praktischen Vernunft und der Kritik der Urteils- kraft und die Basis des Kantischen Systems. Der Ausgangspunkt der Kritik der reinen spekulativen Vernunft entspricht damit völlig dem Ausgangspunkt der Kritik der praktischen Vernunft. Auf dem Boden der letz- teren ist nur der Übergang von der „gemeinen Vernunft- erkenntnis“ zur „philosophischen“ leichter zu vollziehen, „weil die menschliche Vernunft im Moralischen, selbst beim gemeinsten Verstände, leicht zu großer Richtigkeit und Ausführlichkeit gebracht werden kann, da sie hingegen im theoretischen, aber reinen Gebrauch ganz und gar dialek- tisch ist“. Die Rückbeziehung auf die „gemeine Vernunft- 1) Kr. d. r. V. (»49. 2) Kant, Prolegomena § 30. S. W. III, 75. Diqitized by Google Die Voraussetzungen der Erkenntnistheorie. • 37 erkenntnis“ tritt daher hier auch mehr hervor, nicht bloß bei dem Verfahren der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, welche „vom gemeinen Erkenntnisse zur Bestim- mung des obersten Prinzips desselben analytisch und wieder- um zurück von der Prüfung dieses Prinzips und den Quellen desselben zur gemeinen Erkenntnis, darin sein Gebrauch angetroffen wird, synthetisch den Weg nehmen will“ 1), son- dern auch im Gedankengang der Kritik der praktischen Vernunft. Während in Ansehung der theoretischen Ver- nunft das Vermögen einer reinen Vernunfterkenntnis a pri- ori auch2 3) „durch Beispiele aus Wissenschaften (bei denen man, da sie ihre Prinzipien auf so mancherlei Art durch methodischen Gebrauch auf die Probe stellen, nicht so leicht, wie im gemeinen Erkenntnisse, geheime Beimischung empirischer Erkenntnisgründe zu besorgen hat) ganz leicht und evident bewiesen werden“ kann, mußte man „aus dem gemeinsten praktischen Vernunftgebrauche“ dartun können, daß reine Vernunft, ohne Beimischung irgend eines empirischen Bestimmungsgrundes, für sich allein auch praktisch sei, „indem man den obersten prak- tischen Grundsatz als einen solchen, den jede natürliche Menschenvernunft, als völlig a priori von keinen sinnlichen Datis abhängend, für das oberste Gesetz seines Willens er- kennt, beglaubigte. Man mußte ihn zuerst, der Reinigkeit seines Ursprungs nach, selbst im Urteile dieser gemei- nen Vernunft bewähren und rechtfertigen, ehe ihn noch die Wissenschaft in die Hände nehmen konnte, um Ge- brauch von ihm zu machen, gleichsam als ein Faktum, das vor allem Vernünfteln über seine Möglichkeit und allen Fol- gerungen, die daraus zu ziehen sein möchten, vorhergeht“ 8). Wenn man daher fragt, was denn eigentlich die reine Sitt- lichkeit ist, an der, als dem Probemetall, man jeder Hand- 1) S. W. VIII, 9. 2) „auch“ müssen wir hinzusetzen, da Kant, wie die ange- führte Stelle zeigt, auch- für die theoretische Vernunft Beispiele aus „dem gemeinsten Verstandesgebrauche“ verwendet. 3) Kr. d. pr. V. 111. Digitized by Google 38 Kapitel I. lung moralischen Gehalt prüfen müsse, so können nur Philo- sophen die Entscheidung dieser Frage zweifelhaft machen ; „denn in der gemeinen Menschenvernunft ist sie, zwar nicht durch abgezogene allgemeine Formeln, aber doch durch den gewöhnlichen Gebrauch, gleichsam als der Unterschied zwischen der rechten und linken Hand, längst entschie- den“ *). Es kommt dem Philosophen daher hier zu statten, „daß er, beinahe wie der Chemist, zu aller Zeit ein Experi- ment mit jedes Menschen praktischer Vernunft anstellen kann, um den moralischen Bestimmungsgrund vom empiri- schen zu unterscheiden, wenn er nämlich zu dem empirisch- affizierten Willen (z. B. desjenigen, der gerne lügen möchte, weil er sich dadurch was erwerben kann) das moralische Gesetz (als Bestimmungsgrund) zusetzt. Es ist, als ob der Scheidekünstler der Solution der Kalkerde in Salzgeist Al- kali zusetzt; der Salzgeist verläßt sofort den Kalk, vereinigt sich mit dem Alkali, und jener wird zu Boden gestürzt. Ebenso haltet dem, der sonst ein ehrlicher Mann ist (oder sich doch diesmal nur in Gedanken in die Stelle eines ehr- lichen Mannes versetzt) das moralische Gesetz vor, an dem er die Nichtswürdigkeit eines Lügners erkennt, sofort ver- läßt seine praktische Vernunft (im Urteil über das, was von ihm geschehen sollte) den Vorteil, vereinigt sich mit dem, was ihm die Achtung für seine eigene Person erhält (der Wahrhaftigkeit), und der Vorteil wird nun von jedermann, nachdem er von allem Anhängsel der Vernunft (welche nur gänzlich auf der Seite der Pflicht ist) abgesondert und ge- waschen worden, gewogen, um mit der Vernunft noch wohl in anderen Fällen in Verbindung zu treten, nur nicht, wo er dem moralischen Gesetze, welches die Vernunft niemals verläßt, sondern sich innigst damit vereinigt, zuwider sein könnte“ *). Nichts ist mehr geeignet, den tatsächlichen Ausgangs- 1) Kr. d. pr. V. 186. 2) Kr. d. pr. V. 112 f., vgl. hierzu auch' die Ausführungen über Kants Lehre vom Gewissen in meinem Buche über „Wesen und Entstehung des Gewisseus“. Leipzig 1894, S. 22 ff. Digitized by Google Die Voraussetzungen der Erkenntnistheorie. 89 punkt der Kritik der praktischen Vernunft in das hellste Licht zu setzen, als diese ausführliche und anschauliche Vergleichung des Philosophen mit dem „Chemisten“. Im Gemüte des ehrlichen Mannes, in welchem die praktische Vernunft (im weitesten Sinne des Wortes) mit dem Vorteil sich verbunden hat und das moralische Gesetz schlummert, wird dieses durch die bloße Vergegenwärtigung seines In- halts gleichsam geweckt, vereinigt sich mit der praktischen Vernunft und macht das Widersittliche des Vorteils durch dessen Absonderung offenbar. Dem Philosophen aber ver- schafft dieses Experiment mit der „gemeinen Vernunft“ von der er ausgeht, die Unterscheidung des Glückseligkeits- prinzips von dem der Sittlichkeit. Auch in der Kritik der Urteilskraft ist das Verfahren kein anderes. Die ästhetische Urteilskraft zergliedert das, was in jedes Menschen Geschmacksurteil enthalten ist, und sucht durch die Heraushebung der Eigenschaften desselben das Schöne dem Wahren, Angenehmen und Guten gegen- über abzugrenzen. Das was „wir“ „gut“ nennen, was Je- mand“ angenehm heißt, was Jedermann“ sagt1), bildet stets den Ausgangspunkt. Und die teleologische Urteils- kraft analysiert das, was „wir“ — keineswegs bloß die Phi- losophen, sondern die nach Zwecken urteilende Menschheit überhaupt — tun, wenn wir auf die Natur die Zweck- betrachtung anwenden. Für das gesamte kritische Verfahren Kants bildet also die Voraussetzung des „gemeinsten Verstandesgebrauches“, der „gemeinen praktischen Vernunft“, des Jedermann“ eigenen Geschmacksurteils den Ausgangspunkt, und zwar nicht bloß als ein tatsächlich Vorgefundenes oder gar hypothe- tisches Element, sondern als etwas die Allgemeingiltigkeit und Notwendigkeit an sich selbst in sich Schließendes. Die Philosophie erhebt nur die „dunkel vorgestellten Prin- zipien“-) des gemeinen Verstandes zu klarem Bewußtsein, sie faßt nur das, was uns „unmittelbar bewußt“ 8) wird, 1) S. W. IV § 1 ff. S. 45 ff. 2) Kant S. W. IV, 89. 3) Kr. d. pr. V. 35. Digitized by Google 40 Kapitel I. in „abgezogene allgemeine Formeln“ und muß dann natür- lich auch die Allgemeingiltigkeit dieser sekundären Formeln aufzeigen. Im Gebiete der theoretischen Vernunft ist es auch möglich, von den objektiv gütigen Wissenschaften der Ma- thematik und reinen Naturwissenschaft auszugehen, wo- durch die Ableitung der Prinzipien einfacher und einleuch- tender wird. Daher tritt hier der „gemeinste Verstandes- gebrauch“ als Ausgangspunkt weniger hervor. Sobald aber dem Skeptizismus gegenüber Front gemacht werden muß, bleibt als letzte Reserve nur die gemeine „Er- fahrung“1), die dem Skeptiker mit seinem Gegner gemeinsam ist. Die Konsequenzen, welche sich von hier aus für die Methode ergeben, haben uns hier noch nicht zu beschäf- tigen. Es geht aber aus der bisherigen Untersuchung hin- sichtlich des Ausgangspunktes der Erkenntnistheorie her- vor, wie Fries mit seiner Lehre von der unmittelbaren Er- kenntnis hier nur eine Position stärker betonte, die schon bei Kant sich findet. Aber ist denn damit nun wirklich eine Tatsache als Ausgangspunkt der Kan tischen Kritik der Vernunft zu be- trachten? und wird damit nicht sein ganzes Beweisverfah- ren von der Wahrnehmung, in diesem Falle von der innern Wahrnehmung und damit von der „Erfahrung“ im andern herkömmlichen Sinne des Wortes abhängig ? Werden durch diese empirische Begründung nicht die Prinzipien der Erkenntnis ihres allgemeinen und notwendigen Charakters entkleidet? 6. Der Kantische Begriff des „Faktums“ nach seiner erkenntnistheoretischen Tragweite. Kant selbst gebraucht, wie wir gehört haben, den Aus- druck Faktum von dem, was seinen Ausgangspunkt bildet. 1) Stets in dem prägnanten Kantischen Sinne verstanden, in welchem die allgenieingiltigen und notwendigen Formen als nicht bewußte Bestandteile mit eingeschlossen sind. Digitized by Google Die Voraussetzungen der Erkenntnistheorie. 41 Wenn auch der kategorische Imperativ nur „gleichsam als ein“ allem Vernünfteln und allen zu ziehenden Folge- rungen vorhergehendes „Faktum“ bezeichnet wird, so kom- men doch alle anderen Wendungen, von dem Vergleich mit dem aus dem tatsächlich vorliegenden Material den ge- suchten Stoff aussondernden Chemisten bis zur Berufung auf Jede natürliche Menschenvernunft,“ hier w ie in der Ana- lyse des Geschmacksurteils oder der Zwreckbetrachtung auf das hinaus, was man sonst Berufung auf eine Tatsache nennt. Auch im Gebiete der theoretischen Vernunft redet Kant von einem „Faktum“ als Ausgangspunkt. Aus der be- treffenden Stelle der Prolegomena1) geht hervor, daß ihm die reine Mathematik und reine Naturwissenschaft als wirk- lich gegebene, reine synthetische Erkenntnisse a priori ein solches „Faktum“ sind. Da er nun in demselben Zusam- menhänge in der Einleitung der zweiten Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft zum Beleg, daß es „dergleichen not- wendige und im strengsten Sinne allgemeine, mithin reine Urteile a priori, im menschlichen Erkenntnis wirklich gebe“, ein Beispiel aus den Wissenschaften und ein solches aus dem „gemeinsten Verstandesgebrauche“ anführt, so haben wir das Recht, auf beides den Ausdruck Faktum an- zuwenden. Soweit die praktische Vernunft in Betracht kommt, hat schon Schopenhauer au dieser Bezeichnung Anstoß genom- men. „„Das moralische Gesetz gleichsam als ein Fak- tum der reinen Vernunft.““ Was soll man bei die- sem seltsamen Ausdruck sich denken? Das Faktische wird sonst überall dem aus reiner Vernunft Erkennbaren ent- gegengesetzt“ -). Fast alle Kantianer seien in den Irrtum geraten, daß Kant den kategorischen Imperativ als eine Tatsache des Bewußtseins aufstelle; dann wäre er aber anthropologisch, durch Erfahrung, wenngleich innere also empirisch begründet: was der Ansicht Kants schnur- 1) S. W. III, 27. 2) Schopenhauer, Die beiden Grundprobleine der Ethik, S. W. III, 525 ff., 519 ff. 42 Kapitel I. stracks entgegenlaufc und wiederholt abgewiesen werde. Und Schopenhauer beruft sich dabei auf folgende Stellen, bei denen übrigens der von ihm nicht vollständig wiedergegebenc Wortlaut und der Zusammenhang der Kantischen Ausfüh- rung wesentlich ist. „Nur ist immer hierbei (bei der Frage nach der Möglichkeit des Imperativs der Sittlichkeit) nicht aus der Acht zu lassen, daß es durch kein Beispiel, mithin em- pirisch auszumachen sei, ob es überall einen dergleichen Imperativ gebe1), sondern zu besorgen, daß alle, die kate- gorisch scheinen, doch versteckter Weise hypothetisch sein mögen“2). „Wir werden also die Möglichkeit eines kate- gorischen Imperativs a priori zu untersuchen haben, da uns hier der Vorteil nicht zu statten kommt, daß die Wirk- lichkeit desselben in der Erfahrung gegeben, und also die Möglichkeit nicht zur Festsetzung, sondern bloß zur Erklä- rung nötig wäre“ 3). Er hätte noch die Worte hinzufügen können, mit denen Kant den II. Abschnitt seiner „Grund- legung zur Metaphysik der Sitten“ eröffnet: „Wenn wir unsern bisherigen Begriff der Pflicht aus dem gemeinen Ge- brauche unserer praktischen Vernunft gezogen haben, so ist daraus keineswegs zu schließen, als hätten wir ihn als einen Erfahrungsbegriff behandelt“4). In der Weise Schopenhauers aufgefaßt ist der Wider- spruch zwischen Kants eigenen Äußerungen ein unüber- windlicher, und es ist nicht zu verwundern, wenn Schopen- hauer nicht weiß, was er aus dem „seltsamen Ausdruck“ „das moralische Gesetz gleichsam ein Faktum der reinen Vernunft“ machen soll. Aus den von uns zu- sammengestellten Äußerungen Kants geht durchaus unmiß- verständlich hervor, daß der kategorische Imperativ ihm etwas dem Bewußtsein unmittelbar Gegebenes, tatsächlich Vorliegendes ist, von dem die Kritik der Vernunft auszu- gehen bat. Und wenn Schopenhauer sagt: „Wenn das wahr wäre, so hätte freilich die Ethik ein Fundament von unvergleichlicher Solidität, und es bedürfte keiner Preis- 1) Von Schopenhauer nur bis hierher zitiert. 2) Kaut S. W. VIII 44. 3) a. a. 0. S. 45. 4) S. W. VIII, 28. Digitized by Google Die Voraussetzungen der Erkenntnistheorie. 43 frage, um zum Aufsuchen desselben zu ermuntern“, „so ist eben dies Kants eigentliche Meinung. Und das „große Wun- der“, „daß man eine solche Tatsache des Bewußtseins erst so spät entdeckt“ hat1), ist einfach so zu erklären, daß es sich gar nicht darum handelte, diese Tatsache erst zu ent- decken, sondern ihr eine wissenschaftliche Form zu geben. Darum sagt auch Kant von dem Rezensenten, der diesen Punkt seiner Kritik der praktischen Vernunft tadelte, er habe es „besser getroffen, als er wohl selbst gemeint haben mag, indem er sagt: daß darin kein neues Prinzip der Mora- lität, sondern nur eine neue Formel aufgestellt worden. Wer wollte aber auch einen neuen Grundsatz aller Sittlich- keit einführen und diese gleichsam zuerst erfinden? Gleich als ob vor ihm die Welt, in dem, was Pflicht sei, unwissend oder in durchgängigem Irrtum gewesen wäre. Wer aber weiß, was dem Mathematiker eine Formel bedeutet, die das, was zu tun sei, um eine Aufgabe zu befolgen, ganz genau bestimmt und nicht verfehlen läßt, wird eine Formel, welche dieses in Ansehung aller Pflicht überhaupt tut, nicht für etwas Unbedeutendes und Entbehrliches halten“2). Aber dadurch würde doch der kategorische Imperativ als Tatsache des Bewußtseins, als Gegenstand der inneren Wahrnehmung und eben damit als etwas Empirisches fest- gestellt? Wie lassen sich damit Äußerungen vereinigen, wie die angeführten, daß es durch kein Beispiel d. h. empirisch aus zu machen sei, ob es überall irgend einen dergleichen Imperativ gebe? Der scheinbare Widerspruch klärt sich einigermaßen auf, wenn wir aus dem Zusammenhang der Kantischen Darstellung in jenen Stellen entnehmen, in welchem Sinne diese Abweisung des Empirischen ge- meint ist. Es handelt sich in allen diesen Fällen nicht, wie Schopenhauer annimmt, um eine Ablehnung der Auffassung des kategorischen Imperativs als einer Tatsache des Be- wußtseins, sondern um die Unmöglichkeit, in einem Bei- spiele aus der Erfahrung mit Gewißheit darzutun, daß „der 1) Schopenhauer, S. W. III, 520. 2) Kr. d. pr. V. S. 7. Anmerkung. Digitized by Google 44 Kapitel I. Wille hier ohne andere Triebfeder, bloß durchs Gesetz be- stimmt werde“. Daß die Ableitung des Begriffes der Pflicht „aus dem gemeinen Gebrauche unserer praktischen Ver- nunft“ keine Behandlung desselben als Erfahrungsbegriff bedeutet, wird damit begründet, „daß man von der Ge- sinnung, aus reiner Pflicht zu handeln, so gar keine sicheren Beispiele anführen könne, daß, wenn gleich manches dem, was Pflicht gebietet, gemäß geschehen mag, dennoch es immer noch zweifelhaft sei, ob es eigentlich aus Pflicht geschehn und also einen moralischen Wert habe?“ Es ist daher im Sinne der tatsächlichen Bestimmung des Wil- lens durch den kategorischen Imperativ gemeint, wenn geleugnet wird, daß die Wirklichkeit derselben in der Er- fahrung gegeben sei *). Ob dieser kategorische Imperativ selbst als Tatsache des Bewußtseins gegeben sei, zieht er hier gar nicht in Betracht. Er beschränkt diesen Begriff der Tatsache auf diese engere Bedeutung auch an derjenigen Stelle, wo er auf die Definition des Begriffes der Tatsache selbst eingeht. In der Methodenlehre der teleologischen Ur- teilskraft2) heißt es: „Gegenstände für Begriffe, deren ob- jektive Realität (es sei durch reine Vernunft, oder durch Erfahrung, und, im ersteren Falle, aus theoretischen oder praktischen Datis derselben, in allen Fällen aber vermittelst einer ihnen korrespondierenden Anschauung) bewiesen wer- den kann, sind Tatsachen (res facti), dergleichen sind die mathematischen Eigenschaften der Größen (in der Geome- trie), weil sie einer Darstellung a priori für den theore- tischen Vernunftgebrauch fähig sind. Ferner sind Dinge, oder Beschaffenheiten derselben, die durch Erfahrung (eigene oder fremde Erfahrung, vermittelst der Zeugnisse) dargetan werden können, gleichfalls Tatsachen. — Was aber sehr merkwürdig ist, so findet sich sogar eine Vernunft- idee (die an sich keiner Darstellung in der Anschauung, mit- hin auch keines theoretischen Beweises ihrer Möglichkeit « 1) S. W. VIII, 45, 28. 2) Kaut, Kritik der Urteilskraft § 91, nach der falschen Para- grapheuzählung bei Rosenkranz § 90. S. W. IV, 375. Die. Voraussetzungen der Erkenntnistheorie. 45 fähig ist) unter den Tatsachen, und das ist die Idee der Frei- heit, deren Realität, als einer besonderen Art von Kausali- tät (von welcher der Begriff in theoretischem Betracht über- schwänglich sein würde), sich durch praktische Gesetze der reinen Vernunft und, diesen gemäß, in wirklichen Hand- lungen, mithin in der Erfahrung dartun läßt — die einzige unter allen Ideen der reinen Vernunft, deren Gegenstand Tatsache ist und unter die scibilia mit gerechnet werden muß.“ Der in der Richtung der Friesischen Philosophie liegende Gesichtspunkt, daß diese Ideen selbst zugleich Tat- sachen des Bewußtseins sind, bleibt auch hier außer Be- tracht. Der Begriff der Tatsache bleibt auf die Gegen- stände der Begriffe, auf die Gegenstände der Ideen be- schränkt, obwohl er nach andrer Richtung hin den Begriff der Tatsache durch seine Ausdehnung auch auf die Ge- genstände der möglichen Erfahrung erweitert1). Kant gebraucht also den Begriff „Tatsache“ genau ge- nommen in dreierlei Sinn : 1 ) von den Gegenständen einer wirklichen Erfahrung; in diesem Sinn wird die Tatsächlich- keit dem kategorischen Imperativ abgesprochen, aber in bezug auf die gewöhnlichen Objekte der Erfahrung, wie auf die Idee der Freiheit bejaht; 2) von den Gegenständen einer möglichen Erfahrung; Tatsachen in dieser Bedeutung sind die mathematischen Eigenschaften der Größen in der Geometrie; 3) von dem kategorischen Imperativ und von den synthetischen Urteilen a priori der reinen Mathematik und der reinen Naturwissenschaft wie auch von dem „ge- meinsten Verstandesgebrauch“. Im letzteren Sinne haben wir die gemeine Erfahrung selbst als die Grundtatsache bezeichnet, von welcher Kant ausgeht. 1) Vgl. Kants Anmerkung a. a 0. S. 375. „Ich erweitere hier, wie mich dünkt, mit Recht den Begriff einer Tatsache über die ge- wöhnliche Bedeutung dieses Worts. Denn es ist nicht nötig, ja nicht einmal tunlich, diesen Ausdruck bloß auf die wirkliche Er- fahrung einzuschränken, wenn von dem Verhältnisse der Dinge zu unserem Erkenntnisvermögen die Rede ist, da eine bloß mög- liche Erfahrung schon hinreichend ist, um von ihnen bloß als Ge- genständen einer bestimmten Erkenntnisart, zu reden.“ Digitized by Google 46 Kapitel I. Wodurch soll sich aber dann diese Grundtatsache von den Tatsachen in der ersten Bedeutung unterscheiden? Ist sie nicht doch Tatsache in dem ersten gewöhnlichen Sinne des Wortes? und ist nicht damit der Ausgangspunkt der Kritik der reinen Vernunft ein empirischer? Wir werden zunächst zu beachten haben, daß Kant in der Anwendung dieser dritten Bedeutung des Begriffes auf den kategorischen Imperativ nicht von einem Fak- tum überhaupt, sondern von einem „Faktum der reinen Vernunft“ redet, und daß im Gebiete der theoretischen Ver- nunft der Ausdruck auf die synthetischen Erkenntnisse a priori der reinen Mathematik und der reinen Naturwissen- schaft Anwendung findet. Es unterscheidet sich also dieses „Faktum“ von sonstigen Tatsachen dadurch, daß hier die Merkmale der strengen Allgemeinheit und Notwen- digkeit einen Bestandteil der Tatsächlichkeit selbst bilden. Für das Problem der Voraussetzungen der Erkenntnis- theorie wird die Frage von wesentlicher Bedeutung sein, in welchem Sinne diese Hauptprädikate einer objektiv gütigen Erkenntnis im Kantischen „Erfahrungsbegriff“ als schon „gegeben“ angesehen werden müssen, und inwieweit für die Erkenntnistheorie überhaupt diese Voraussetzung, die bei Fries der vorausgesetzten „unmittelbaren Erkenntnis“ an sich selbst zukommt, unentbehrlich ist. 7. Allgemeinheit und Notwendigkeit als Prädikate der „Erfahrung“. Die beiden Merkmale, an welchen die reine Erkenntnis von der empirischen sicher unterschieden werden kann, Notwendigkeit und strenge Allgemeinheit, werden von Kant in erster Linie aus ihrem Gegensatz heraus bestimmt. Ein Satz, dem Notwendigkeit beigelegt wird, steht im Gegensatz zu der Erfahrung1) die nur lehrt, daß etwas so oder so be- 1) Erfahrung ist natürlich hier nur iin rein empirischen Sinne im Gegensatz zu unserem prägnanten Kantischen Begriff der „Er- fahrung“ gemeint. Die Voraussetzungen der Erkenntnistheorie. 47 schaffen sei, aber „nicht, daß es nicht anders sein könne“. Erfahrung gibt auch zweitens ihren Urteilen niemals wahre oder strenge, sondern nur angenommene und komparative Allgemeinheit; sie gelangt nur bis zu dem Satze: so viel wir bisher wahrgenommen haben, findet sich von dieser oder jener Regel keine Ausnahme. Wird aber ein Urteil in strenger Allgemeinheit gedacht, so wird gar keine Aus- nahme als möglich zugelassen1). Ein solches Urteil gilt also a priori für alle überhaupt möglichen Einzel fälle. Die „Allgemeinheit“ hat aber auch noch eine andere Seite; und damit kommen wir auf einen Punkt, der für die bei- den Hauptmerkmale der apriorischen Erkenntnis wie für die Erkenntnistheorie überhaupt von außerordentlicher Trag- weite ist und darum der genaueren Untersuchung bedarf. In den Prolegomena redet Kant auch von der „notwen- digen Allgemeingiltigkeit“ und versteht darunter die Giltig- keit des Urteils „für jedermann“2 3) d. h. zunächst die Giltigkeit des Urteils für alle Menschen. Man kann die letztere Allgemeinheit auch als subjektive Allgemein- heit bezeichnen zum Unterschied von der ersteren als der objektiven8). Nach Kant fallen beide Arten der Allgemein- heit zusammen. Ein „objektiv allgemeingiltiges Urteil“ ist es „auch jederzeit subjektiv, d. i., wenn das Urteil für alles, was unter einem gegebenen Begriffe enthalten ist, gilt, so gilt es auch für jedermann, der sich einen Gegenstand durch diesen Begriff vorstellt“4). In diesem Sinne wird notwendige Allgemeinheit auch in der gemeinen Erfahrung vorausgesetzt. Die Hauptschwierigkeit entsteht nun aber, wenn wir die Frage stellen, wie weit jene subjektive Allgemein- giltigkcit reicht? Kants Antwort hierauf knüpft sich an seinen Begriff des „vernünftigen Wesens“, dem wir um sei- ner erkenntnistheoretischen Bedeutung willen eine ein gehendere Untersuchung widmen müssen. 1) Kr. d. r. V. 648 f. 2) S. W. IV, 59. 3) Vaihinger, Kommentar I, 204. 4) S. W. IV, 60. 48 Kapitel I. 8. Kants Begriff der „vernünftigen Wesen“ und seine erkenntnistheoretische Bedeutung. a) Die Menschengattung als Spezies „vernünftiger W esen“. Kant rechnet mit der Möglichkeit, daß es außer den Menschen noch andere „denkende Wesen“ oder „vernünf- tige Wesen“ gibt. Er redet in dem Anhang zu seiner „All- gemeinen Naturgeschichte und Theorie des [Timmels“ von den „Bewohnern der Gestirne“1 2) und ist der Meinung, „daß es eben nicht notwendig sei, zu behaupten, alle Planeten müßten bewohnt sein, ob es gleich eine Ungereimtheit wäre, dieses in Ansehung aller, oder auch nur der meisten zu leugnen“. In den „Träumen eines Geistersehers“ spricht er sich allerdings darüber etwas skeptischer aus. „Alle solche Ur- teile, wie diejenigen von der Art, wie meine Seele den Kör- per bewegt, oder mit anderen Wesen ihrer Art jetzt oder künftig im Verhältnis steht, können niemals etwas mehr als Erdichtungen sein, und zwar bei weitem nicht einmal von demjenigen Werte, als die in der Naturwissenschaft, welche man Hypothesen nennt“ 8). Aber auch in der Periode des Kritizismus steht diese Möglichkeit bleibend im Hintergrund seiner Betrachtungen. Durch die Kritik der reinen Ver- nunft, wie die der praktischen zieht sich, wie wir noch sehen werden, der Begriff des „vernünftigen Wesens“ als der weitere im Verhältnis zu dem des Menschen. In der Kri- tik der Urteilskraft bestimmt er die Art eines solchen Für- wahrhaltens der Existenz nicht-irdischer „vernünftiger“ Wesen näher, wenn er sagt: „Vernünftige Bewohner an- derer Planeten anzunehmen, ist eine Sache der Meinung; denn, wenn wir diesen näher kommen könnten, welches an sich möglich ist, würden wir, ob sie siud oder nicht sind, 1) S. W. VI, 205 ff., vgl. hierzu meine Schrift: »Kants Rassen- theorie und ihre bleibende Bedeutung“ 1904. 2) S. W. VII, 103 f. Digitized by Google Die Voraussetzungen der Erkenntnistheorie. 49 durch Erfahrung ausmachen ; aber wir werden ihnen nie- mals so nahe kommen, und so bleibt es beim Meinen. Allein Meinen: daß es reine ohne Körper denkende Geister imma- teriellen Wesens gebe (wenn man nämlich gewisse dafür ausgegebene Erscheinungen, wie billig, von der Hand weist), heißt Dichten, und ist gar keine Sache der Meinung, sondern eine bloße Idee, welche übrig bleibt, wenn man von einem denkenden Wesen alles Materielle wegnimmt, und ihm doch das Denken übrig läßt. Ob aber alsdann das letztere (welches wir nur am Menschen, d. i. in Verbindung mit einem Körper kennen) übrig bleibe, können wir nicht aus- machen“ *). In der Anthropologie stellt er sich die Frage „ob die Menschengattung (welche, wenn man sie sich als eine Spe- zies vernünftiger Erdwesen, in Vergleichung mit denen auf anderen Planeten, als von einem Demiurgus entsprun- gene Menge Geschöpfe denkt, auch Rasse genannt werden kann)“ „als eine gute oder schlimme Rasse anzusehen sei“1 2). b) Da« Gel tungsgeb iet der Anschauungsformen. Wie verhält es sich nun aber angesichts dieser „Mei- nung“ mit dem Geltungsgebiet der Anschauungsformen? Wir setzen ohne weiteres voraus, daß die Aussagen, welche wir auf Grund unserer Raum- und Zeitanschauung machen, auch für andere normal organisierte Menschen giltig sind. Aber sie gelten auch nur für diese. Wir kön- nen nur „aus dem Standpunkte eines Menschen vom Raum, von ausgedehnten Wesen etc. reden“. Wir können zwar sagen, daß „der Raum alle Dinge befasse, die uns äußerlich erscheinen mögen, aber nicht alle Dinge an sich selbst, sie mögen nun angeschaut werden oder nicht, oder auch von welchem Subjekt man wolle“3). Wir kennen ja nichts als die uns eigentümliche Art, die Gegenstände wahrzunehmen, „die auch nicht not- 1) S. W. IV, 374. 2) S. W. VII, 274. 3) Kr. d. r. V. ,ri5. Eisenbaus, J. F. Fries and die Kantigehe Erkenntnistheorie, II. 4 Digitized by Google 60 Kapitel I. wendig jedem Wesen, obzwar jedem Menschen zukommen muß“1). Sehen wir von diesen subjektiven Bedingungen ab, unter denen wir allein äußere Anschauungen bekommen können, so bedeuten die Vorstellungen von Raum und Zeit gar nichts. Es ist ja möglich, daß andere denkende Wesen „an die nämlichen Bedingungen gebunden sind, welche unsere Anschauung einschränken“. Wir haben aber keinerlei An- haltspunkte dafür, und deshalb kein Recht „unserer An- schauungsform“ „alle Wesen, die Erkenntnisvermögen ha- ben, zu unterwerfen“. „Es mag sein, daß einige Weltwesen unter anderer Form dieselben Gegenstände2 3) anschauen dürften; es kann auch sein, daß diese Form in allen Welt- wesen, und zwar notwendig, eben dieselbe sei“ 8). Im ersteren Falle lassen sich zwei Möglichkeiten den- ken. Die erste besteht darin, daß diese anderen denkenden Wesen eine sinnliche Anschauung, aber von anderer Art, als der Mensch besitzen. Hier ist der Punkt, an welchen unter Berufung auf Gauß und Riemann4 *) und teil- weise im Anschluß an Kant die sogenannten „metamathe- matischen Untersuchungen“ angeknüpft haben. In seinen geistreichen Ausführungen über die geometrischen Axiome geht Helmholtz von der Fiktion verstandbegabter We- sen von nur zwei Dimensionen aus, die an der Oberfläche irgend eines unserer festen Körper leben, und die zwar nicht die Fähigkeit haben, irgend etwas außerhalb dieser Ober- fläche wahrzunehmen, wohl aber Wahrnehmungen ähnlich den unseligen, innerhalb der Ausdehnung der Fläche, in der sie sich bewegen, machen. Solche zweidimensionale Wesen würden unter Umständen zu anderen geometrischen Axiomen als die Euklidischen gelangen. Sie würden zwar 1) Kr. d. r. V. 66. 2) „Dieselben Gegenstände“: man beachte die Trag- weite dieser Ausdrucksweise für Kante Lehre vom Ding an sich. 3) Kant, Die Fortschritte der Metaphysik seit Leibniz und Wolf. S. W. I, 497. 4) H. Helmholtz, Die Tatsachen in der Wahrnehmung, Vor- träge und Reden II. Bd. 1884, S. 236. Die Voraussetzungen der Erkenntnistheorie. 61 ermitteln, daß ein Punkt, der sich bewegt, eine Linie be- schreibt, und eine Linie, die sich bewegt, eine Fläche, aber darüber hinaus würden sie sich von einem weiteren räum- lichen Gebilde, das entstände, wenn eine Fläche sich aus ihrem flächenhaften Raume herausbewegte, ebensowenig eine Vorstellung machen können, als wir es können von einem Gebilde, das durch Herausbewegung eines Körper aus dem uns bekannten Raum entstände. Solange Wesen die- ser Art auf einer unendlichen Ebene lebten, so würden sie genau dieselbe Geometrie aufstellen, welche in unserer Pla- nimetrie enthalten ist. Sie würden behaupten, daß zwi- schen zwei Punkten nur eine gerade Linie möglich ist, daß durch einen dritten außerhalb derselben liegenden Punkt nur eine Parallele mit der ersten geführt werden kann usw. Denken wir uns aber intelligente Wesen dieser Art an der Oberfläche einer Kugel befindlich, so würden sie z. B. parallele Linien gar nicht kennen. Sie würden behaupten, daß jede beliebige zwei „geradeste“ Linien, gehörig ver- längert, sich schließlich nicht nur in einem, sondern in zwei Punkten schneiden müßten, und die Summe der Winkel in einem Dreieck würde immer größer sein als zwei Rechte. Oder denken wir sie uns an der Oberfläche eines eiförmigen Körpers, so würde sich z. B. nicht einmal ein so einfaches Raumgebilde wie ein Dreieck ist, ohne Änderung seiner Form von einem Orte nach jedem anderen fortbewegen können. Dies w’äre vielmehr nur unter der Bedingung eines ganz bestimmten Krümmungsmaßes der Fläche möglich 1). Wenn Helmholtz auf diese Möglichkeit verschiedener Raum Vor- stellungen, von denen unser Euklidischer Raum nur einen Spezialfall darstellen würde, seine empiristische Erklärung derjenigen Eigenschaften des Raumes gründet, welche in den geometrischen Axiomen ihren Ausdruck finden, so tritt 1) H. v. Helmholtz, Über den Ursprung und die Bedeutung der geometrischen Axiome. Vortrag, gehalten im Dozentenverein zu Heidelberg im Jahre 1870. Vorträge und Reden II, 7 ff. Dieses Krümmungsmaß muß nämlich = o sein, wenn die Axiome des Eu- klides gelten sollen. 62 Kapitel I. hierin der Zusammenhang dieser Frage mit der Allgemein- giltigkeit und Notwendigkeit der reinen Anschauung zutage. Helmholtz unterscheidet allerdings scharf zwischen der allgemeinen Form der Raumanschauung, die Kant mit vollem Recht als transzendental gegeben betrachte, und den durch die Axiome der Geometrie ausgesprochenen näheren Bestimmungen derselben. Kants Lehre von den a priori gegebenen Formen der Anschauung sei ein sehr glücklicher und klarer Ausdruck des Sachverhältnisses; aber diese Formen müssen inhaltsleer und frei genug sein, um jeden Inhalt, der überhaupt in die betreffende Form der Wahrnehmung eintreten kann, aufzunehmen. Zu diesem Inhalt gehören die Axiome der Geometrie, die nicht a priori aus der transzendentalen Anschauung abzuleiten, sondern aus der Erfahrung entstanden sind, da sie auf Grund der Erfahrung umgewandelt werden können. Wenn Kant be- hauptet habe, daß räumliche Verhältnisse, die den Axiomen des Eukiides widersprächen, überhaupt nicht einmal vor- gestellt werden könnten, so sei er dabei, wie in seiner ge- samten Auffassung der Anschauung überhaupt als eines ein- fachen, nicht weiter aufzulösenden psychischen Vorganges, durch den damaligen Entwicklungszustand der Mathematik und Sinnesphysiologic beeinflußt gewesen. Eine Anschau- ungsweise einer vierten Dimension vermögen wir uns aller- dings auch nach der Ansicht von Helmholtz nicht vorzu- stellen, da alle unsere Mittel sinnlicher Anschauung sich nur auf einen Raum von drei Dimensionen erstrecken, und „die vierte Dimension nicht bloß eine Abänderung von Vorhan- denem, sondern etwas vollkommen Neues wäre“ *). Aber auch gegen die so eingeschränkte Behauptung der Möglichkeit andersartiger, von unserer Raumanschau- ung abweichender Raumvorstellungen gilt, was noch mehr gegen weitergehende Konsequenzen der Theorie der Mannig- faltigkeiten von n- Dimensionen zutrifft, und was am tref- fendsten Kurt Laßwitz in seiner sorgfältigen Erörterung 1) Helmholtz, a. a. 0. S. 28. Die Tatsachen in der Wahr- nehmung a. a. 0. S. 234 und Beilage II u. III. Die Voraussetzungen der Erkenntnistheorie. 53 dieses Punktes in die Worte faßt: „Die Bemühungen von Helmholtz, die sinnliche Vorstellbarkeit anderer Räume zu verdeutlichen, liefern nicht die Anschauung von anderem Krümmungsmaße oder von anderen Dimensionen, sondern nur die Anschauung von Raumgebilden innerhalb un- seres dreidimensionalen Raumes, welche in die- sem bestimmten Ausdehnungsgesetzen unterwor- fen sind“1). Wir verwenden dabei Analogieschlüsse, wel- che entweder nichts Neues d. h. nichts anderes bieten, als was in unserer eigenen Anschauungsform schon enthalten ist, oder welche die auch nach Helmholtz unmögliche Vor- stellung eines Raumes von vier Dimensionen erfordern2) Wir können allerdings Mannigfaltigkeiten von n-Dimen- sionen in Zahlen oder Zahlsymbolen darstellen ; aber in dem, was wir Raum nennen, steckt doch noch etwas anderes, nicht durch bloße Größenbeziehungen definierbares. „Zah- len können eben alles Mögliche bedeuten, Raum aber ist Ausdehnung, ist Ordnung im Nebeneinander; diese kann aus keiner Formel neu gewonnen werden, wenn sie nicht vorher da war“ 8). So vollkommen auch dieseUnter- such ungen über Mannigfaltigkeiten von n-Dimensionen aus- gebildet werden, sobald wir den Versuch machen, die ge- wonnenen Formeln in anschauliche Raumvorstellung zu übersetzen, bewegen wir uns mit allen Möglichkeiten anders- artiger Raumgebilde doch nur innerhalb des uns geläufigen dreidimensionalen Raumes. Die empiristischen Folgerungen aus diesen Theo- rien werden uns später im Zusammenhang beschäftigen, hier kam es nur darauf an, die in der Annahme einer Raumanschauung liegende Voraussetzung auf das rich- tige Maß zurückzuführen. Die Anschauungsformen an- derer „denkender Wesen“ mögen wohl von den unsrigen 1) K. Laßwitz, Die Lehre Kants von der Idealität des Kanmes und der Zeit, 1883, S. 154. Zur Frage der vierten Dimension vgl. auch die scharfsinnigen Untersuchungen H. Lotzes in seinem System der Metaphysik. (System der Philosophie II. Teil 1879.) 2) a. a. 0. S. 155. 3) K. Laßwitz a. a. 0. 161. Digitized by Google 64 Kapitel I. abweichen. Aber wir sind nicht imstande, sie dann als Modifikationen unserer eigenen Raum- und Zeitanschau- ung, oder als einen anderen Spezialfall eines von unserer Sonderorganisation aus gewonnenen Allgemeinbegriffes an- zusehen. Es ist zu beachten, wie vorsichtig sich Kant hier ausdrückt. Er hat allerdings in seiner Erstlings- schrift, in den „Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte“ (1747) l) „Ausdehnungen von anderen Abmessungen“ als die unsrigen für sehr wahrscheinlich ge- halten. Diese Ansicht war aber eine Folgerung aus seiner damaligen These, „daß die Substanzen in der existierenden Welt, wovon wir ein Teil sind, wesentliche Kräfte von der Art haben, daß sie in Vereinigung miteinander nach dem doppelten umgekehrten Verhältnis der Weiten ihre Wir- kungen von sich ausbreiten.“ Da dieses Gesetz willkürlich sei, und die Eigenschaft der dritten Dimension auf ihm be- ruhe, so sei ein anderes Gesetz denkbar, aus welchem dann auch eine Ausdehnung von anderen Eigenschaften und Ab- messungen geflossen wäre. Wenn es aber möglich sei, daß es Ausdehnungen von anderen Abmessungen gebe, so sei es auch sehr wahrscheinlich, daß Gott, dessen Werke alle die Größe und Mannigfaltigkeit haben, die sie nur fassen können, sie wirklich irgendwo angebracht habe 2). In der Periode des Kritizismus nimmt Kant eine etwas andere, eine vorsichtigere Stellung zu der Frage ein, die völlig mit unserer Kritik der metamathematischen Speku- lationen zusammentrifft. Er hält eine andere sinnliche An- schauung, denkende Wesen von anderer Sinnlichkeit für möglich. Aber diese andersartige Sinnlichkeit ist dann überhaupt nicht mehr an Raum und Zeit gebun- den. Sie ist „von anderer Art, als die im Raume und der Zeit“. Denn für die Sinnlichkeit des Menschen ist eben die „Anschauungsart in Raum und Zeit“ 3) charakteristisch. Da- mit stimmt die Äußerung der Prolegomena 4) überein, „daß der vollständige Raum (der selbst keine Grenze eines an- 1) S. W., V, § 10 u. 11, S. 26 ff. 2) Kant S. W. V, 26 f. 3) Kr. d. r. V. 664; 76; 66 f. 4) S. W. III, § 12, S. 40. Die Voraussetzungen der Erkenntnistheorie. 65 deren Raumes mehr ist) drei Abmessungen habe, und Raum überhaupt auch nicht mehr derselben haben könne.“ Die von Kant angenommene Möglichkeit „daß einige Weltwesen unter anderer Form dieselben Gegenstände an- schauen dürften“, läßt nun aber auch für eine andere Aus- legung Raum. Es läßt sich auch eine unmittelbare Vor- stellungsart der Gegenstände denken, die nicht nach Sinnlichkeitsbedingungen, also durch den Ver- stand die Objekte anschaut Ein anschauender Ver- stand im letzteren Sinne oder eine „intellektuelle Anschau- ung“ wäre aber nicht mehr abgeleitet (intuitus derivativus), wie die Anschauungsart des Menschen, sondern ursprüng- lich (intuitus originarius), und scheint daher „allein dem Ur- wesen, niemals aber einem, seinem Dasein sowohl als seiner Anschauung nach (die sein Dasein in Beziehung auf ge- gebene Objekte bestimmt) abhängigen Wesen zuzukom- men“1 2). Der menschliche Verstand ist stets Erkenntnis durch Begriffe, nicht intuitiv, sondern diskursiv8). Das Korrelat eines solchen anschauenden Verstandes ist das „Noumenon“ als Gegenstand des reinen Denkens. Das Noumenon bedeutet „den problematischen Begriff von einem Gegenstände für eine ganz andere Anschauung und einen ganz andern Verstand, als der unsrige, der mithin selbst ein Problem ist“ s). Genauer hat Kant in der für das Verständnis seiner Lehre vom Ding an sich wesentlichen veränderten Darstellung der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft den Begriff des Noumenon in seinem Ver- hältnis zur intellektuellen Anschauung bestimmt. Während wir unter Noumenon im negativen Sinne ein Ding verstehen, 1) Kr. d. r. V. 76, vgl. dazu „Kritik der Urteilskraft“ S. W. IV, 394. „Will ich nun aber ein übersinnliches Wesen (Gott) als Intelli- genz denken, so ist dieses in gewisser Rücksicht meines Vernunft- gebrauchs nicht allein erlaubt, sondern auch unvermeidlich, aber ihm Verstand beizulegen und es dadurch als einer Eigenschaft des- selben erkennen zu können sich schmeicheln, ist keineswegs er- laubt, weil ich alsdann alle jene Bedingungen, unter denen ich allein einen Verstand kenne weglassen muß . . . * 2) Kr. d. r. V,. 88. 8) Kr. d. r. V. 267. 66 Kapitel I. „sofern es nicht Objekt unserer sinnlichen An- schauung ist, indem wir von unserer Anschauungsart desselben abstrahieren“, verstehen wir unter Noumenon in positiver Bedeutung „ein Objekt einer nichtsinnlichen Anschauung“, und nehmen damit „eine besondere An- schauungsart an, nämlich die intellektuelle, die aber nicht die unsrige ist, von welcher wir auch die Möglichkeit nicht einsehen können“ *). c) Das Geltungsgebiet der Kategorien. Damit ist nun, wenn wir von den Anschauungsformen zu den Verstandesbegriffen weiter gehen, zugleich die Möglichkeit einer anderen Form des Verstandes, nämlich eben des anschauenden in Betracht gezogen. Aber diese Mög- lichkeit bezieht sich ausschließlich auf den schöpferischen anschauenden Verstand des „Urwesens“. Für ein solches, für einen „intellectus archetvpus“ allerdings ist die synthe- tische Verstandesfunktion nicht erst notwendig, welche für menschliche Wesen, für den „intellectus ectypus“2) die Be dingung alles Denkens ausmacht. Der Grundsatz der ur- sprünglichen synthetischen Einheit der Apperzeption ist „nicht ein Prinzip für jeden überhaupt möglichen Verstand, sondern nur für den, durch dessen reine Apperzeption in der Vorstellung: Ich bin, noch gar nichts Mannigfaltiges gegeben ist. Derjenige Verstand, durch dessen Selbstbe- wußtsein zugleich das Mannigfaltige der Anschauung ge- geben würde, ein Verstand, durch dessen Vorstellung zu- gleich die Objekte dieser Vorstellung existierten, wTürde einen besondern Aktus der Synthesis des Mannigfaltigen zu der Einheit des Bewußtseins nicht bedürfen, deren der menschliche Verstand, der bloß denkt, nicht anschaut, be- darf“8). Der anschauende Verstand hätte „keine Gegen- stände, als das Wirkliche. Begriffe (die bloß auf die Mög- lichkeit eines Gegenstandes) und sinnliche Anschauungen, _ 1) Kr. d. r. V. 685. 2) Kritik der Urteilskraft S. W. IV, 300. 3) Kr. d. r. V. 664. Digitized by Google Die Voraussetzungen der Erkenntnistheorie. 67 (welche uns etwas geben, ohne es dadurch doch als Gegen- stand erkennen zu lassen) würden beide wegfallen.“ Ein solcher intuitiver Verstand würde vom synthetisch All- gemeinen der Anschauung eines Ganzen als eines solchen zum Besondern gehen können, während unser Verstand die Eigenschaft hat, daß er in seinem Erkenntnisse z. B. der Ur- sache eines Produktes vom analytisch Allgemeinen (von Begriffen) zum Besondern (der gegebenen empirischen Anschauung) gehen muß“ *). Jeder denkende und nicht anschauende Verstand bedarf also der transzendentalen Apperzeption und der reinen Verstandesbegriffe. Während wir demnach von unseren Anschauungsformen Raum und Zeit nicht annehmen können, daß sie allen endlichen denken- den Wesen zukommen, erstrecken sich die reinen Verstan- desbegriffe „auf Gegenstände der Anschauung überhaupt, sie mag der unsrigen ähnlich sein oder nicht, wenn sie nur sinn- lich und nicht intellektuell ist“1 2). Es folgt hieraus die „Unterscheidung einer Sinnenwelt von der Verstandes- welt“, „davon die erstere nach Verschiedenheit der Sinn- lichkeit in mancherlei Weltbeschauern, auch sehr verschie- den sein kann, indessen die zweite, die ihr zum Grunde liegt, immer dieselbe bleibt“3). Daraus scheint allerdings ein schwer erträglicher Zwiespalt zu entstehen. Ist es wirklich möglich, daß die Verstandesformen bei wechselnden Anschauungs- formen dieselben bleiben? Ist durch die letzteren mit der unbedingten Allgemeingiltigkeit der Mathematik nicht auch diejenige der Kategorien gefährdet, deren Giltigkeitsbeweis, wie die transzendentale Deduktion zeigt, mit demjenigen für Raum und Zeit aufs engste zusammen- hängt? In der Tat stellt Kant gelegentlich die Möglichkeit anderer Formen des Verstandes mit derjenigen anderer Formen der Anschauung auf gleiche Stufe4). Ehe wir aber 1) Kritik der Urteilskraft. S. W. IV, 292, 298. 2) Kr. d. r. V. 670. 3) Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. S. W. VIII, 84. 4) Kr. d. r. V. 214. 68 Kapitel I. die Konsequenzen dieser Möglichkeiten weiter verfolgen, haben wir auch auf das Giltigkeitsgebiet des moralischen Gesetzes einen Blick zu werfen. Ist vielleicht hier die Giltig- keit für alle vernünftigen Wesen eine unbedingte? d) Das Geltungsgebiet des moralischen Gesetzes. Der gesamten Ethik Kants liegt die Anschauung zu- grunde, daß moralische Gesetze für alle „vernünftigen We- sen“ gelten1). Jedes vernünftige Wesen muß sich sein Da- sein als „Zweck an sich selbst“ vorstellen*). Der Begriff des vernünftigen Wesens selbst wird dementsprechend defi- niert. Eine „Intelligenz“ (vernünftig Wesen) ist „ein We- sen, das der Handlungen nach der Vorstellung von Gesetzen fähig ist . . .“ 3). „Die vernünftige Natur nimmt sich dadurch vor allen übrigen aus, daß sie ihr selbst einen Zweck setzt“ 4). Für alle diese Wesen gilt das Sittengesetz. „Es schränkt sich also nicht bloß auf Menschen ein, sondern geht auf alle endliche Wesen, die Vernunft und Willen haben, ja schließt sogar das unendliche Wesen, als oberste Intelligenz mit ein“5). Während Annehmlichkeit auch für vernunftlose Tiere, Schönheit nur für Menschen, d. i. tierische, aber doch vernünftige Wesen gilt, gilt das Gute für jedes vernünftige Wesen überhaupt6). Und doch erfährt die Formulierung dieses Sitten- gesetzes im kategorischen Imperativ eine Einschränkung ihres Giltigkeitsgebietes. Die imperativische Form dieses Gesetzes hängt damit zusammen, daß man an dem Men- schen zwar, als einem vernünftigen Wesen, „einen reinen, aber, als mit Bedürfnissen und sinnlichen Bewegursachen affiziertem Wesen, keinen heiligen Willen, d. i. einen sol- chen, der keiner dem moralischen Gesetze widerstreitenden Maximen fähig wäre, voraussetzen kann“7). Das moralische Gesetz ist daher hier ein kategorisch gebietender Impe- 1) Vgl. z. B. VIII, 35. 2) VIII, 57. 3) Kr. d. pr. V. 150. 4) S. W. VIII, 67. 5) Kr. d. pr. V. 38, 44. 6) IV, 54. 7) Kr. d. pr. V. 38. Digitized by Google Die Voraussetzungen der Erkenntnistheorie. 59 rativ, und sein Wille steht unter der Abhängigkeit von demselben, unter einer Nötigung, die Pflicht heißt. Da- gegen „in der allergenugsamsten Intelligenz wird die Will- kür, als keiner Maxime fähig, die nicht zugleich Gesetz sein könnte, mit Recht vorgestellt, und der Begriff der Heilig- keit, der ihr um deswillen zukommt, setzt sie zwar nicht über alle praktische, aber doch über alle praktisch -ein- schränkende Gesetze, mithin Verbindlichkeit und Pflicht hinweg“ I). Noch weiter scheint Kant in der „Religion inner- halb der Grenzen der bloßen Vernunft“ zu gehen*), wo er neben der ursprünglichen menschlichen Anlage für die Menschheit des Menschen als eines lebenden und zugleich vernünftigen, diejenige für seine Persönlichkeit, als eines vernünftigen und zugleich der Zurechnung fähigen We- sens als eine besondere Anlage hervorhebt und zum Beweis dafür hinzufügt: „Das allervernünftigste Weltwesen könnte doch immer gewisser Triebfedern, die ihm von Objekten der Neigung herkommen, bedürfen, um seine Willkür zu be- stimmen ; hierzu aber die vernünftigste Überlegung, sowohl was die größte Summe der Triebfedern, als auch die Mittel, den dadurch bestimmten Zweck zu erreichen, betrifft, an- wenden: ohne auch nur die Möglichkeit von so etwas, als das moralische schlechthin gebietende Gesetz ist, welches sich selbst, und zwar als höchste Triebfeder ankündigt, zu ahnen.“ Der Nachdruck liegt aber auch hier auf dem Ge- setz als schlechthin gebietendem. Ist die Triebfeder des menschlichen Willens und des Willens jedes erschaffe- nen vernünftigen Wesens das moralische Gesetz, so kann man dagegen dem göttlichen Willen gar keine Triebfeder beilegen, sofern unter Triebfeder der subjektive Bestim- mungsgrund des Willens eines Wesens verstanden wird, dessen Vernunft nicht, schon vermöge seiner Natur, dem objektiven Gesetze notwendig gemäß ist8). Da ferner die Achtung eine Wirkung aufs Gefühl, mithin auf die Sinn- lichkeit eines vernünftigen Wesens ist, und daher auch die 1) Kr. d. pr. V. 39. 2) S. W. X, 27 f. (Anm.). 3) Kr. d. pr. V. 87. Digitized by Google 60 Kapitel I. Endlichkeit solcher Wesen, denen das moralische Gesetz Achtung auferlegt, voraussetzt, so kann einem höchsten, oder auch einem von aller Sinnlichkeit freien Wesen, wel- chem diese also auch kein Hindernis der praktischen Ver- nunft sein kann, Achtung fürs Gesetz nicht beigelegt werden1). Auch die Begriffe eines Interesse und einer Maxime können nur auf endliche Wesen, nicht etwa auf den göttlichen Willen angewandt werden. Denn auch sie setzen beide die Eingeschränktheit der Natur eines Wesens voraus, bei welchem die subjektive Beschaffenheit seiner Willkür mit dem objektiven Gesetze einer praktischen Ver- nunft nicht von selbst übereinstimmt2). Nur für den Willen jedes endlichen vernünftigen Wesens ist daher das mora- lische Gesetz ein Gesetz der Pflicht; für den Willen eines allervollkommensten Wesens, welcher an sich selbst mit dem Gesetze übereinstimmt, ist es ein „Gesetz der Heilig- keit“8). Auch für heilige Wesen endlicher Art würde dies gelten. „Für endliche, heilige Wesen (die zur Verletzung der Pflicht gar nicht einmal versucht werden können) gibt es keine Tugendlehre, sondern bloß Sittenlehre, welche letztere eine Autonomie der praktischen Vernunft ist, in- dessen daß die erstere zugleich eine Autokratie derselben, d. i. ein, wenn gleich nicht unmittelbar wahrgenommenes, doch aus dem sittlichen kategorischen Imperativ richtig ge- schlossenes Bewußtsein des Vermögens enthält, über seine dem Gesetz widerspenstigen Neigungen Meister zu werden“ 4). Immerhin besteht also bei Kant ein gewisser Paralle- lismus zwischen dem Giltigkeitsgebiet des moralischen Ge- setzes und demjenigen der Verstandesformen. Beide sollen für alle vernünftigen Wesen gelten. Aber diese Allgemein- giltigkeit ist keine vollständige, was die der menschlichen Natur entsprechende Formulierung jenes Gesetzes und jener Verstandesbegriffe betrifft. Ein anschauender Verstand würde der transzendentalen Apperzep- 1) Kr. d. pr. V. 92. 2) Kr. d. pr. V. 97. 3) Kr. d. pr. V. 99. 4) Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre. S. W. IX, 227. Digitized by Google Die Voraussetzungen der Erkenntnistheorie. 61 tion und der Kategorien nicht bedürfen, und für einen heiligen Willen kann das Sittengesetz nicht die Form des kategorischen Imperativs haben. Aber eine objektiv gütige Erkenntnis von Gegenständen gibt es auch für den ersteren, da er nur in anderer Form dieselben Gegenstände anschaut, und die Heiligkeit des letzteren be- steht gerade darin, daß sein Wille unmittelbar mit dem Sittengesetz übereinstimmt. . Jeder Versuch aber einer näheren Vorstellung dieser über die Menschengattung hinausreichenden Giltigkeit all- gemeiner und notwendiger Formen der Vernunft muß miß- lingen, da unsere Vorstellung von derselben stets an die Organisation unseres menschlichen Denkens gebunden ist. Schopenhauer hält daher jener Auffassung des Men- schen als einer Spezies der Gattung vernünftiger Wesen entgegen, man sei nie zur Aufstellung eines genus befugt, „welches uns nur in einer einzigen Spezies gegeben ist, in dessen Begriff man daher schlechterdings nichts bringen könnte, als was man dieser einen Spezies entnommen hätte, daher was man vom Genus aussagte, doch immer nur von der einen Spezies zu verstehen sein würde.“ Wir kennen die Vernunft allein als Eigenschaft des menschlichen Ge- schlechts und seien schlechterdings nicht befugt, sie als außer diesem existierend zu denken und ein Genus „Ver- nünftige Wesen“ aufzustellen, welches von seiner alleinigen Spezies „Mensch“ verschieden wäre, noch weniger aber für solche imaginäre vernünftige Wesen in abstracto Ge- setze aufzustellen. Von vernünftigen Wesen außer dem Menschen zu reden, sei nicht anders, als wenn man von schweren Wesen außer den Körpern reden wollte. Man könne sich des Verdachtes nicht erwehren, daß Kant da- bei ein wenig an die lieben Engelein gedacht, oder doch auf deren Beistand in der Überzeugung des Lesers gezählt habe *). Es ist aber doch fraglich, ob Kants Gedankengang wirklich von dem Einwand Schopenhauers getroffen wird, 1) Schopenhauer, Die beiden Grundprobleme der Ethik. S. W. III, 511 f. 62 Kapitel I. ob es richtig ist, daß er in den Begriff des genus: „Ver- nünftige Wesen“ schlechterdings nichts bringen könnte, als er der einen Spezies: Mensch entnommen hätte. Für die kühnen Hypothesen seiner früheren Schriften, besonders der „allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels“ über die Bewohner anderer Gestirne trifft dies zweifellos nicht zu. Denn hier ist die Vorstellung anderer zu dem genus gehöriger Arten nicht bloß durch die Spezies Mensch, sondern durch die andersartige Beschaffenheit anderer Weltkörper bedingt. Es wird stets darauf ankommen, aus welchen Motiven eine solche Annahme gemacht wird, ob die Gründe, weiche dazu führen, nicht an sich selbst schon eine umfassendere Basis haben als jene Spezies allein. e) Kants Motive für die Verwendung des Begriffs der „vernünftigen Wesen“. Für die erkenntnistheoretische Tragweite von Kants Begriff der „vernünftigen Wesen“ ist die Frage ausschlag- gebend, aus welchen Gründen er diesen Begriff als den weiteren gegenüber dem engeren der Menschheit auch über die Jugendschriften hinaus in der kritischen Periode fest- gehalten hat? Die Antwort darauf ist aus Kants eigenen Worten zu entnehmen. Da z. B. alle sittlichen Begriffe völlig a priori in der Vernunft ihren Sitz und Ursprung haben, so müssen sie von der besonderen Natur der menschlichen Ver- nunft unabhängig sein und für jedes vernünftige Wesen überhaupt gelten, und es ergibt sich die Forderung „sie schon aus dem allgemeinen Begriffe eines vernünftigen Wesens überhaupt abzuleiten, und auf solche Weise alle Moral, die zu ihrer Anwendung auf Menschen der An- thropologie bedarf, zuerst unabhängig von dieser als reine Philosophie, d. i. als Metaphysik (welches sich in dieser Art abgesonderter Erkenntnisse wohl tun läßt) vorzutra- gen“ l). Er will damit also jede Einmischung der Anthro- 1) Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. S. W. VIII' 36. Digitized by Google Die Voraussetzungen der Erkenntnistheorie. 63 pologie in die Begründung des Moralgesetzes zurück- weisen, und er schließt damit auch die anthropologische Wendung aus, welche Fries der Begründung der apriori- schen Formen gegeben hat. Auch für Fries ist es selbst- verständlich, daß die Allgemeingiltigkeit der notwendigen Einheitsformen des Denkens und des moralischen Gesetzes eine gleichmäßig organisierte Vernunft1 2 3 * * * *) der denkenden Wesen voraussetzt. Aber er beschränkt sich von Anfang an auf den menschlichen Geist. Da wir keinen anderen Geist kennen, als das denkende Wesen, und kein anderes denkendes Wesen, als den Menschen, so haben wir es nur mit Anthropologie zu tun8). Auch die „philosophische An- thropologie“ die sich als Theorie der Vernunft über die bloße psychische Anthropologie erhebt, ist doch und bleibt An- thropologie und ist daher schon durch ihre Be- schränkung auf den Menschen von Kants Ver- nunftkritik geschieden. Diese Ablehnung der Anthropologie ist aber für Kant doch nicht das einzige Motiv 8), den Begriff des „vernünftigen Wesens“ einzuführen, oder sie ist es doch nur im Zusammen- hang mit anderen Motiven. Welche Motive dies sind, tritt wohl am deutlichsten in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ hervor, wo es heißt: „Da Sittlichkeit für uns bloß als für vernünftige Wesen zum Gesetze dient, so muß sie auch für alle vernünftige Wesen gelten, und da sie lediglich aus der Eigenschaft der Freiheit abgeleitet werden muß, so muß auch Freiheit als Eigenschaft des Willens aller vernünftigen Wesen bewiesen werden, und es ist nicht ge- nug, sie aus gewissen vermeintlichen Erfahrungen von 1) Nach N. Kr. I, 303 ist Allgemeingiltigkeit „eine Giltigkeit für jedermann, dessen Vernunft organisiert ist, wie die meinigeu. 2) N. Kr. I, 36 f. 3) Vgl. A. Hegler, Die Psychologie in Kants Ethik, 1891, S. 137 f., wo Hegler in einer Auseinandersetzung mit Cohen überzeugend nach weist, daß Kants Ausführungen tatsächlich das Recht geben, ▼on einer Ausdehnung des Sittengesetzes auf andere vernünftige Wesen als den Menschen zu sprechen. 64 Kapitel I. der menschlichen Natur darzutun (wiewohl dieses auch schlechterdings unmöglich ist und lediglich a priori dar- getan werden kann), sondern man muß sie als zur Tätigkeit vernünftiger und mit einem Willen begabter Wesen über- haupt beweisen“1 2 3 * * * *). Noch deutlicher ist folgende Stelle: „Pflicht soll praktisch-unbedingte Notwendigkeit der Hand- lung sein; sie muß also für alle vernünftige Wesen (auf die nur überall ein Imperativ treffen kann) gelten, und allein darum auch für allen menschlichen Willen ein Gesetz sein. Was dagegen aus der besonderen Naturanlage der Mensch- heit, was aus gewissen Gefühlen und Hange, ja sogar, wo möglich, aus einer besondern Richtung, die der mensch- lichen Vernunft eigen wäre, und nicht notwendig für den Willen eines jeden vernünftigen Wesens gelten müßte, ab- geleitet wird, das kann zwar eine Maxime für uns, aber kein Gesetz abgeben, ein subjektives Prinzip, nach welchem wir handeln zu dürfen, Hang und Neigung haben, aber nicht ein objektives, nach welchem wir angewiesen wären, zu han- deln, wenn gleich aller unser Hang, Neigung und Natur- einrichtung dawider wäre“8). Die unbedingte Notwendig- keit, die volle Allgemeingiltigkeit des Sittengesetzes ist nur verbürgt, wenn dasselbe nicht aus der besonderen Natur- anlage der Menschheit abgeleitet wird. Zugleich wird aller- dings der Wert des Sittengesetzes dadurch erhöht, daß der Mensch durch dasselbe in eine höhere Sphäre, in die Ge- meinschaft mit anderen vernünftigen Wesen erhoben wird8), daß er dadurch als Zweck an sich selbst, als selbständiges Glied einem Reiche der Zwecke, einer „systematischen 1) Kant S. W. VIII. 80. 2) a. a. 0 S. 52. 3) Vgl. Hegler a. a. O. 141, der sich auf die Stelle beruft in der Abhandlung über den „Mutmaßlichen Anfang der Menschen- geschichte“ (S. W. VII, 372): „Und so war der Mensch in eine Gleichheit mit allen vernünftigen Wesen, von welchem Hange sie auch sein mögen, getreten, nämlich in Ansehung des Anspruchs selbst Zweck zu sein“, der aber mit Unrecht darin das hauptsächlichste Motiv Kants für seine Anwendung des Be- griffs „Vernünftige Wesen“ sieht. Digitized by Google Die Voraussetzangen der Erkenntnistheorie. 65 Verbindung verschiedener vernünftiger Wesen durch ge- meinschaftliche Gesetze“ *) eingefügt wird. Aber das ausschlaggebende Motiv liegt für Kant immer in der Absicht, die Allgemeingiltigkeit zu sichern, ohne welche es keine praktischen Gesetze, sondern auf praktischem Gebiete nur Maximen gibt. Eben darum darf auch keine ausschließlich der menschlichen Gattung zu kommende Eigenschaft, wie die „sympathetische Sinnesart“, die „in dem Wohlsein anderer nicht allein ein natürliches Vergnügen, sondern auch ein Bedürfnis findet“, den Be- stimmungsgrund des Willens bilden, wenn für die praktische Vorschrift die Form des Gesetzes gewahrt bleiben soll*). Ebenso gelten im Gebiete der spekulativen Vernunft, wie aus den früher angeführten Stellen hervorgeht, die Kategorien für alle endlichen denkenden Wesen, und mit dieser Ausdehnung ihres Geltungsgebietes ist ihre All- gemeingiltigkeit und Notwendigkeit für unser menschliches Urteilen aufs engste verknüpft. Aber ist denn diese bloße Ausdehnung des Geltungs- gebietes der Formen des Denkens und der praktischen Ge- setze an sich selbst hinreichend, ihre strenge Allgemeinheit und Notwendigkeit zu gewährleisten? Kant sucht dadurch jene apriorischen Prinzipien jeder empirischen Begründung möglichst zu entrücken, wie sie in der Abhängigkeit von der Sonderbeschaffenheit der menschlichen Organisation gegeben wäre. Eine solche Sonderbeschaffenheit, auch wenn sie einer ganzen Spezies gleichmäßig zukommt, ist stets etwas Zufälliges, das auch anders sein könnte. Die strenge Allgemeinheit eines Urteils ist niemals dadurch schon gesichert, daß „die Subjekte zufälligerweise gleich- förmig organisiert sind“* 2 3). Auch für die Gattungseigentüm- lichkeit des menschlichen Erkenntnisvermögens4) trifft ge- ll Kant, Grundlegung zur Metaph. d. Sitten. S. W. VIII, 62. 2) Kr. d. pr. V. 41. So ist die, wie es scheint, von Hegler (a. a. 0. S. 143) mißverstandene Stelle aufzufassen. 3) Kritik der Urteilskraft. S. W. IV, 223. 4) Vgl. dazu Kritik der Urteilskraft § 76. S. W. IV, 297 ff. Elsenhans, J. F. Fries and die Knntisehe Erkenntnistheorie, II. 5 66 Kapitel I. nau zu, was Kant als unterscheidendes Merkmal des Empi- rischen aufführt, daß sie nämlich so oder so beschaffen ist und ebensogut „anders sein“ könnte. Wenn nun aber Kant seine apriorischen Prinzipien von dieser empirischen Bedingtheit durch eine Gattungsorgani- sation der Menschheit damit befreien will, daß er ihr Gil- tigkeitsgebiet auf die „vernünftigen Wesen“ überhaupt aus- dehnt, so hat er damit zunächst nur eine erweiterte empiri- sche Bedingtheit geschaffen. Der ganze imponierende Bau des Kritizismus erhebt sich auf der Grundlage einer Gat- tu ngsorgani sation vernünftiger Wesen. Diese selbst aber ist als etwas Tatsächliches, Gegebenes grund- sätzlich betrachtet zufälliger Natur und bedroht damit die Unabhängigkeit von der Erfahrung, welche jenen Prinzipien eigen sein soll. Die häufige Erörterung der Möglichkeiten einer solchen Organisation bei Kant zeigt, daß er die in seinen Jugendschriften vertretene hypothetische Annahme außermenschlicher Wesen und damit jene tatsächliche Voraussetzung seiner Erkenntnistheorie niemals völlig aus dem Auge verlor. Deutet man aber den Begriff des „ver- nünftigen Wesens“ anders, und gibt man ihm die Wendung zu einem neben der Gesamtheit der Individuen existieren- den „Bewußtsein überhaupt“ oder zu einer „überiudivi- duellen Organisation“, so legt man entweder in die Kanti- sche Anschauung ein ihr fremdes mystisches Element hin- ein, oder man setzt ebenfalls ein Gegebenes voraus, das als solches zufällig ist und auch anders sein könnte, von dem aber doch die Giltigkeit jener Prinzipien abhängig ist. Auch von der an den Begriff der „vernünftigen We- sen“ gebundenen Allgemeingiltigkeit gilt also der Satz, den Kant mit Rücksicht auf die Möglichkeit einer anderen Raum- anschauung anderer denkender Wesen gebraucht: „Wenn wir die Einschränkung eines Urteils zum Begriff des Sub- jekts hinzufugen, so gilt das Urteil alsdann unbedingt.“ Wie ich im Gebiete der sinnlichen Anschauung die Bedin- gung zum Begriffe füge und sage: Alle Dinge, als äußere Erscheinungen, sind nebeneinander im Raum, worauf daun Digilized by Google Die Voraussetzungen der Erkenntnistheorie. 67 diese Regel allgemein und ohne Einschränkung gilt, so muß ich in die Behauptung der Allgemeingiltigkeit der Kate- gorien, wie des moralischen Gesetzes die Voraussetzung mit einschließen, daß es sich um „vernünftige We- sen“ handelt. Unter dieser Voraussetzung gelten dann jene Prinzipien unbedingt. Aber eine andersartige Or- ganisation, für welche jene Voraussetzung nicht zutrifft, bleibt an sich immer möglich. Logisch kommt hier in Betracht, was Kant von den allgemeinen Sätzen sagt, die, ohne daß wir sie „in concreto kennen, in ihrer Allgemeinheit nicht können eingesehen werden“; sie können „nicht zur Richtschnur dienen und also nicht heuristisch in der Anwendung gelten, sondern sind nur Aufgaben zu Untersuchung der allgemeinen Gründe zu dem, was in besonderen Fällen zuerst bekannt worden. Der Satz zum Beispiel: wer kein Interesse hat zu lügen und die Wahrheit weiß, der spricht Wahr- heit — dieser Satz ist in seiner Allgemeinheit nicht ein- zusehen, weil wir die Einschränkung auf die Bedingung des Uninteressierten nur durch Erfahrung kennen; nämlich, daß Menschen aus Interesse lügen können, welches daher kommt, daß sie nicht fest an der Moralität hangen“ *). Daß Menschen denken und zwischen gut und böse unterschei- den, wissen wir ebenfalls nur aus Erfahrung, nämlich aus der auf die „gemeine M enschen vernun ft“ ge- richteten inneren W ahrnehmung. Schreiben wir diese Fähigkeit oder diese Bewußtseinsinhalte auch noch anderen „vernünftigen Wesen“ zu, so haben wir dieses Erfahrungs- ergebnis nur auf ein weiteres Gebiet ausgedehnt. f) Die Konsequenzen. Ist nun mit dieser unentbehrlichen Voraussetzung einer Gattungsorganisation irgend welcher- Art, der auch die scheinbar voraussetzungsloseste Erkenntnistheorie nicht 1) Kant, Logik § 21, Anm. 4, S. W. III, 284. Auf die Stelle macht Vaihinger, Kommentar II, 348 aufmerksam. 68 Kapitel I. entgeht1), eine empirische Begründung der Erkennt- nisprinzipien, auf welche es uns zunächst ankommt, wirk- lich unvermeidlich geworden? Keineswegs. Allerdings — das Vorhandensein und die bestimmten Formen derselben als einer Eigentümlichkeit der menschlichen Gattung oder einer Gattung vernünftiger We- sen können wir als Tatsache nur durch Erfahrung fest- stellen. Aber was die Hauptsache ist, die Überzeugung von der unbedingten Allgemeingiltigkeit und Notwen- digkeit dieser Gesetze wird nicht erst durch Erfahrung be- gründet, sondern steht von vornherein fest. Würde Kant nicht schon davon ausgehen, daß alles, was sich ihm selbst als vernunftnotwendig aufdrängt, unbedingte Allgemeingiltig- keit besitzt, so würde ihm durch Erwägungen über die Mög- lichkeit anderer „vernünftiger Wesen“ diese Allgemein- giltigkeit nur zweifelhaft werden können. Nicht bloß das mo- ralische Gesetz gründet sich also auf einen praktischen „Ver- nunftglauben“, sondern auch auf theoretischem Ge- biete tritt der Denkende an jede Aufgabe seines Denkens mit der Voraussetzung heran, daß die Formen, deren Not- wendigkeit sein eigenes Denken gehorcht, unbedingt allge- meingiltige sind, und auch dem Erkenntnistheoretiker bleibt nichts anderes übrig, als mit diesem theoretischen Vernunft- glauben seine Untersuchung zu beginnen. In dieser Art eines „spekulativen Vernunftglaubens“ berühren sich also auch Kant und Fries. Es ist allerdings denkbar, daß neben dieser Allgemein- giltigkeit des Denkens verschiedene Formen der Sinnlich- keit hergehen. Ziehen wir aber einmal solche Möglich- keiten, welche auch die Giltigkeit der Mathematik als eine durch unsere Organisation bedingte erscheinen lassen, in den Kreis unserer Betrachtung, so reden wir besser mit dem Kant der kritischen Periode nicht von verschiedenen 1) Auch der Empiriokritizismus nimmt in seinem „natürlichen Weltbegriff“ sogleich die „empiriokritische Grundannahme der prin- zipiellen menschlichen Gleichheit“ als „Hypothese“ auf. K. Ave- narius, der menschliche Weltbegriff, 1891, S. 9. Die Voraussetzungen der Erkenntnistheorie. 69 Formen der Raum- oder gar der Zeitanschauung, sondern von verschiedenen Formen der Sinnesanschauung überhaupt. Erkenntnistheoretisch vollends bedenklich ist es aber zu sagen, unser Raum, der dann als „empirischer“ bezeichnet wird, sei das einer „körperlichen Karte ver- gleichbare Abbild des absoluten Raumes“, nur daß wir das Projektionsverfahren und infolgedessen auch das Urbild nicht kennen, daß also der Raum an sich, wie die Dinge an sich für unser Bewußtsein transzendent seien1 2). Wir haben kein Recht, mathematische Operationen in eine uns völlig unbekannte Modifikation des Raumes zu übersetzen und das dann noch Raum zu nennen. So weit wir nun aber auch diesen Rahmen anders- artiger Formen der Sinnlichkeit in ihrer Abhängigkeit von den vielgestaltigen Bedingungen anderer Gebiete des Uni- versums spannen mögen: von der erkenntnistheore- tischen Voraussetzung allgemeingiltiger Formen des Denkens kommen wir doch nicht los, und wie wir einzelne Irrtümer unserer Sinne mit Hilfe des Denkens korrigieren, so würde uns auch die etwaige Annahme, daß die Bewohner des Orionnebels ohne Raumanschauung seien*), nur zu einer Aufforderung werden, mit Hilfe des Denkens die erkenntnistheoretische Bedeutung unseres eigenen Raum- und Zeitbewußtseins darnach zu bemessen, um die „Objekte“ so zu erkennen, daß dabei der das Er- gebnis modifizierende Einfluß der Sonderorganisation unse- rer Sinnlichkeit ausgeschaltet wird. Wir sehen also: der Ausgangspunkt der Erkenntnis- theorie wie er aus einer kritischen Betrachtung der Kanti- schen Erkenntnistheorie von der durch Fries angeregten Problemstellung aus sich ergibt, schließt eine dreifache 1) F. Hausdorff, Das Raumproblem. Annalen der Naturphilo- sophie III, 1908, S. 15. 2) F. Hausdorff a. a. O. S. 18. Digitized by Google 70 Kapitel I. Voraussetzung ein, erstens die „gemeine Erfahrung“ oder — unter Vermeidung des mißverständlichen präg- nanten Kantischen Erfahrungsbegriffs einfacher ausge- drückt — das Erkennen als ursprüngliche Tatsache, die auch für den Erkenntnistheoretiker die Grundlage aller Orientierung und wissenschaftlichen Beweisführung bildet, zweitens eine Gattungsorgan isation vernünftiger Wesen, vermöge welcher die leitenden Prinzipien dieses Erkennens nicht bloß für mich, sondern für alle denkenden Wesen gelten, drittens den Vernunftglauben, daß jene Gattungsorganisation nicht zufälliger Natur und darum jene Allgemeingiltigkeit eine unbedingte und notwen- dige ist. An den Ausgangspunkt hat sich die Untersuchung an- zuschließen und so erhebt sich die weitere Frage, welche Voraussetzungen die Erkenntnistheorie hinsichtlich der Untersuchung selbst zu machen hat. Diese, wie die folgenden Erörterungen sind durch die Behandlung der grundlegenden Frage des Ausgangspunktes so weit vorbereitet, daß sie eine kürzere Fassung zulassen. II. Die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen hinsichtlich der Untersuchung selbst und der unvermeidliche Zirkel der Erkenntnistheorie. Die Voraussetzungen der Erkenntnistheorie, soweit sie die Untersuchung als solche betreffen, sind zunächst nach zwei Seiten hin abzugrenzen. Es handelt sich nicht um die von uns bereits besprochenen logischen Voraus- setzungen, nicht um die Voraussetzung allgemeingiltiger Gesetze des Denkens überhaupt, sondern um diejenigen An- nahmen, ohne welche objektiv gütige Untersuchungsergeb- nisse der Erkenntnistheorie überhaupt nicht möglich sind. Andererseits kommt hier aber auch noch nicht die Methode der Erkenntnistheorie selbst in Betracht, sondern nur die Gesamtheit der in ihrer methodischen Arbeit selbst liegenden Voraussetzungen. Die Voraussetzungen der Erkenntnistheorie. 71 Welche dies sind, ergibt eine Erwägung der Beding- ungen, unter denen die Untersuchung steht, unmittelbar. 1. Die Voraussetzungen der erkenntnistheoreti- schen Untersuchung als solcher und der daraus entstehende Zirkel. Während der Erkenntnistheoretiker seine Untersuchung in Angriff nimmt, ist er im Begriff, etwas zum Gegenstand seiner Erkenntnis zu machen, und setzt die objektive Giltigkeit der dieses Erkennen leitenden Prin- zipien bereits voraus. Auch Kants Kritik der reinen Vernunft schließt von Anfang an diese Voraussetzung ein. Er kann daher auch nicht umhin, die Formprinzipien des Erkeunens, die Kategorien schon zu Beginn seiner Unter- suchung als objektiv gütige zu verwenden. Er gebraucht die Begriffe Möglichkeit, Einheit, Notwendigkeit, Realität, Negation und andere im Sinne ihrer Anwendung auf das Erkenntnisobjekt. Indem so der Erkenntnistheoretiker die objektive Giltig- keit der Erkenntnisprinzipien, die er beweisen soll, schon zu Beginn seiner Untersuchung voraussetzen muß, entsteht der unvermeidliche Zirkel, welcher von jeher eine der Hauptschwierigkeiten der Erkenntnistheorie bildete. Der Grundgedanke desselben findet sich schon bei Sextus Empirikus. Es ist der zweite der zuerst als zehn, später als fünf gezählten Tropen der jüngeren Skeptiker, welcher die Enthaltung vom Urteil, die dtroxri, zu begründen sucht durch das Hinauslaufen auf unendliche Reihen, indem der fragliche Satz durch einen andern, die- ser wieder durch einen andern und so fort ins Unendliche gesichert werden müßte1). Den schärfsten Ausdruck hat ihm jedoch mit Beziehung auf die kritische Philosophie Hegel gegeben. Ein Hauptgesichtspunkt dieser Philosophie 1) Sext. Emp. Pvrrh. Hyp. I, 166, bei H. Ritter et L. Preller, Historia Philosophiae Graecae et Romanae ex fontium locis contexta ed IV, S. 465 f. 72 Kapitel I. sei, daß, ehe daran gegangen werde, Gott, das Wesen der Dinge u. s. f. zu erkennen, das Erkenntnisvermögen selbst untersucht werden müsse, ob es solches zu leisten fähig sei ; man müsse, heißt es, doch das Instrument vorher kennen, ehe man die Arbeit unternehme, die vermittelst desselben zustande kommen soll, da sonst, wenn es unzureichend sei, alle Mühe verschwendet sein würde. „Will man sich je- doch nicht mit Worten täuschen“, erwidert darauf Hegel, „so ist leicht zu sehen, daß wohl andere Instrumente sich auf sonstige Weise etwa untersuchen und beurteilen lassen, als durch das Vornehmen der eigentümlichen Arbeit, der sie bestimmt sind. Aber die Untersuchung des Erkennens kann nicht anders als erkennend geschehen; bei diesem soge- nannten Werkzeuge heißt dasselbe untersuchen, nicht an- ders als es erkennen. Erkennen wollen aber, ehe man er- kenne, ist eben so ungereimt, als der weise Vorsatz jenes Scholasticus, schwimmen zu lernen, ehe er sich ins W asser wage“ 1). 2. Die Versuche einer Überwindung des erkenntnistheoreti8chen Zirkels. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, der in diesem Zirkel liegenden Schwierigkeit auszuweichen. Da der Widerspruch darin besteht, daß die objektive Giltigkeit der Erkenntnisprinzipien einerseits von der erkenntnis- theoretischen Untersuchung vorausgesetzt werden muß, andererseits durch sie erst bewiesen werden soll, so sind hierzu drei Wege gangbar. Man kann entweder die er- kenntnistheoretische Untersuchung und damit ihre leiten- den Prinzipien vom Erkennen selbst zu trennen suchen oder auf die objektive Giltigkeit als Voraussetzung irgend- wie verzichten oder endlich die Forderung eines eigent- lichen Beweises jener objektiven Giltigkeit überhaupt fallen lassen. 1) Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. § 10. Ausg. von Rosenkranz in Kirchmanns phUos. Bibliothek, 6. 39. Die Voraussetzungen der Erkenntnistheorie. 73 a) Die Scheidung des Erkennens von der Erkenntnis- kritik. Die Gangbarkeit des ersten Weges wird in der Regel durch Analogien erläutert, die etwa an Hegels Bild vom Schwimmen anknüpfen. Man sagt, es handle sich nicht darum schwimmen zu lernen, sondern das Schwimmen zu erklären ; oder man sagt, die Erkenntniskritik verhalte sich zum Erkennen selbst, wie die Optik zum Sehen. Es ist aber schon in den Worten Hegels der Punkt angedeutet, aus welchem die Unhaltbarkeit solcher Analogien hervorgeht. Die Brauchbarkeit irgend welcher Instrumente oder Ver- fahrungsweisen kann ganz wohl mit Hilfe des Verstandes geprüft werden, ebendeshalb weil das Kriterium hier mit dem Instrument oder Verfahren nicht identisch ist. In der Erkenntnistheorie ist der Sachverhalt ein ganz anderer, einzigartiger. Die Untersuchung des Erkennens kann, sagt Hegel mit Recht, „ nicht anders als erkennend geschehen; bei diesem sogenannten Werkzeuge heißt, dasselbe unter- suchen, nicht anders als es erkennen“. Die Lage des Er- kenntnistheoretikers ist daher in der Tat keine andere, als die des „Scholasticus“, der schwimmen lernen will, ehe er sich ins Wasser wagt. Das Beispiel der Optik aber würde nur zutreffen, wenn es sich um ein Sehen des Sehens han- deln könnte. Indem in der Optik aber wissenschaftliche Hilfsmittel das Kriterium des Sehens bilden, ist das Verhält- nis ein ganz anderes als in der Erkenntnistheorie, wo ein Erkennen des Erkennens als Aufgabe gestellt ist. Man könnte nun aber eben dieses Erkennen des Er- kennens als etwas durchaus Einzigartiges von dem Erkennen selbst trennen. Die darin liegende Stellung zur Methode der Erkenntnistheorie hat uns hier noch nicht zu beschäftigen. Für jetzt kommt dieser Standpunkt nur insoweit in Betracht, als er eine Möglichkeit bieten soll, dem in der Natur der Erkenntnistheorie liegenden Zirkel zu ent- gehen. Es ließe sich dabei an Kant anknüpfend sagen, die Begriffe, welche in der kritischen Untersuchung zur An- 74 Kapitel I. wendang kommen, seien selbst keine Verstandesbegriffe im Sinne der Kategorien, deren objektive Gütigkeit durch die transzendentale Deduktion bewiesen werde. Man wird sich dabei etwa auf Stellen bei Kant selbst berufen, wie die folgenden: „Diese Einheit, die a priori vor allen Begriffen der Verbindung vorhergeht, ist nicht etwa jene Kategorie der Einheit; denn alle Kategorien gründen sich auf logische Funktionen in Urteilen, in diesen aber ist schon Verbindung, mithin Einheit gegebener Begriffe gedacht. Die Kategorie setzt also schon Verbindung voraus. Also müssen wir diese Einheit noch höher suchen, nämlich in demjenigen, was selbst den Grund der Einheit verschiedener Begriffe in Ur- teilen, mithin der Möglichkeit des Verstandes, sogar in sei- nem logischen Gebrauche, enthält“ ’). Aber die Erkenntnis jener Einheit, die a priori vor allen Begriffen der Verbin- dung vorhergeht, ist ja selbst das Ergebnis der kritischen Untersuchung, die ihrerseits logischer Funktionen in Ur- teilen sich bedient und deren Giltigkeit voraussetzt. Tiefer geht eine Bemerkung in den „Paralogismen der reinen Vernunft“, die um ihrer prinzipiellen Bedeutung willen besondere Beachtung verdient. „Das Denken, für sich genommen, ist bloß die logische Funktion, mithin lau- ter Spontaneität der Verbindung des Mannigfaltigen einer bloß möglichen Anschauung, und stellet das Subjekt des Be- wußtseins keineswegs als Erscheinung dar, bloß darum, weil es gar keine Rücksicht auf die Art der Anschauung nimmt, ob sie sinnlich oder intellektuell sei. Dadurch stelle ich mich mir selbst, weder wie ich bin, noch wie ich mir er- scheine, vor, sondern ich denke mich nur wie ein jedes Objekt überhaupt, von dessen Art der Anschauung ich abstrahiere. Wenn ich mich hier als Subjekt der Gedanken oder auch als Grund des Denkens vorstelle, so bedeuten diese Vor- stellungsarten nicht die Kategorien der Substanz oder der Ursache; denn diese sind jene Funktionen des Denkens (Ur- teilens) schon auf unsere sinnliche Anschauung angewandt, 1) Kr. d. r. V. 658 f. Digitized by Google Die Voraussetzungen der Erkenntnistheorie. 75 welche freilich erfordert werden würden, wenn ich mich erkennen wollte. Nun will ich mich meiner aber nur als denkend bewußt werden ; wie mein eigenes Selbst in der Anschauung gegeben sei, das setze ich bei Seite, und da könnte es mir, der ich denke, aber nicht sofern ich denke, bloß Erscheinung sein; im Bewußtsein meiner selbst beim bloßen Denken bin ich das Wesen selbst, von dem mir aber freilich dadurch noch nichts zum Denken gegeben ist.. Der Satz aber: Ich denke, sofern er so viel sagt, als: Ich existiere denkend, ist nicht bloße logische Funktion, sondern bestimmt das Subjekt, (welches denn zugleich Ob- jekt ist) in Ansehung der Existenz und kann ohne den inne- ren Sinn nicht stattfinden, dessen Anschauung jederzeit das Objekt nicht als Ding an sich selbst, sondern bloß als Er- scheinung an die Hand gibt. In ihm ist also schon nicht mehr bloße Spontaneität des Denkens, sondern auch Rezep- tivitat der Anschauung, d. i. das Denken meiner selbst auf die empirische Anschauung eben desselben Subjekts ange- wandt. In dieser letztem müßte denn nun das denkende Selbst die Bedingungen des Gebrauchs seiner logischen Funktion zu Kategorien der Substanz, der Ursache etc. su- chen, um sich als Objekt an sich selbst nicht bloß durch das Ich zu bezeichnen, sondern auch die Arf seines Daseins zu bestimmen, d. i. sich als Noumenon zu erkennen, welches aber unmöglich ist, indem die innere empirische Anschau- ung sinnlich ist, und nichts als Data der Erscheinung an die Hand gibt“ ‘). Auch hier ist von Vorstellungsarten die Rede, die auf das Ich als Subjekt der Gedanken oder als Grund des Den- kens sich beziehen, aber doch nicht im Sinne der Kate- gorien der Substanz oder der Ursache verstanden werden dürfen. Aber es wird scharf unterschieden zwischen dem Denken und dem Erkennen. Das „Ich denke“ als bloße logische Funktion liegt weder im Gebiete der Erscheinung noch des Dings an sich. Eine Erkenntnis des denkenden 1) Kr. d. r. V. 700 f. Digitized by Google 76 % Kapitel I. Ich als Objektes an sich selbst aber ist unmöglich, denn da- zu wäre Anwendung der Kategorien über das Anschauungs- gebiet hinaus notwendig. Nur auf einem ganz anderen Wege wäre ohne die Bedingungen der empirischen An- schauung unsere Wirklichkeit bestimmbar, nämlich wenn wir in gewissen a priori feststehenden, unsere Existenz be- treffenden Gesetzen des reinen Vernunftgebrauchs Veran- lassung fänden, uns völlig a priori in Ansehung unseres eigenen Daseins als gesetzgebend und diese Existenz auch selbst bestimmend vorauszusetzen l). Damit knüpft auch an dieser Stelle der Kritik der rei- nen Vernunft an das negative Resultat der Paralogismen die positive Ergänzung durch die Kritik der prak- tischen Vernunft an, und Schopenhauer erweist sich in diesem Punkte als echter Schüler Kants, wenn er annimmt, daß das Subjekt sich selbst nicht als erkennendes, sondern nur als wollendes erkennen kann. Gerade diese n€Täßa